Kapital 10
Genau dahin, wo ich hingehörte (Dylan)
Oh Scheiße, dachte ich als die Polizisten mich aus dem Apartment führten. Ich sah über meine Schulter zurück, sie stand immer noch an der Wand, eine Polizistin neben ihr. Sie schluchzte und sah mir in die Augen, und ich las darin Sehnsucht vermischt mit Angst. Ich hätte alles dafür gegeben, diese Angst wegzuwischen. Aber es gab kein zurück. Sie hatte gesehen wozu ich fähig war. Ich hatte gesehen wozu ich fähig war.
Randy, oder wie auch immer sein Name war, war bereits von den Sanitätern abtransportiert worden, bevor sie mich verhafteten. Aber ich konnte das Bild von ihm, wie er Alex an die Wand gepresst hatte, eine Hand auf ihrem Mund, die andere an ihrem Rock und wie sie sich gewehrt hatte, nicht aus dem Kopf bekommen.
Es war mir egal, ob ich ins Gefängnis kam. Ich hoffte dieser Hurensohn war tot.
Als sie mich auf den Rücksitz eines Streifenwagens schoben, überkam mich eine Welle der Erschöpfung und Übelkeit. War es wirklich erst drei Stunden her, dass sie geflüstert hatte, heute Nacht verliere ich meine Unschuld? Gott, ich wollte weinen. Ich wollte schreien. Ich wollte mich aus diesem Auto befreien und zu ihr zurück rennen, meine Arme um sie werfen, sie beschützen, sie lieben und für immer für sie sorgen.
Aber auch das hatte ich versaut.
Also machte ich nichts von diesen aufregenden, dramatischen und beeindruckenden Dingen, auch wenn ich es gerne getan hätte, sondern saß, wie es schien, eine Ewigkeit auf dem Rücksitz während die Polizei mit ihren Aufgaben fortfuhr. Schaulustige kamen herbei und starrten in den Streifenwagen, wo ich das Ausstellungsstück Nr. 1 für den Typen war, in den sich die eigene Tochter nicht verlieben sollte.
Scheiße. Scheiße. Scheiße.
Ich wartete etwa dreißig Minuten, bis das Polizeiauto losfuhr. Zwei Polizisten saßen vorne, ein Mann und eine Frau. Zunächst sagte keiner von ihnen etwas zu mir, bis wir im Verkehr stecken blieben. Schließlich sagte der männliche Polizist, der am Steuer saß: „Falls es Sie interessiert, die Zentrale sagt, dass es so aussieht, als ob der Typ, den sie zusammengeschlagen haben, überleben wird.“
Meine Hände, die immer noch auf meinen Rücken gefesselt waren, taten weh wie die Hölle, ganz besonders die im Gips. Ich vermutete, ich hatte noch mehr an der Hand kaputt gemacht. Das war es wert.
Ich zuckte als Antwort darauf nur mit den Schultern.
„Warum haben Sie das gemacht?“, fragte er.
Ich sah zu ihm auf. Die Vernunft sagte mir, ich sollte meinen Mund halten, bis ich einen Anwalt gesehen hatte. Aber was für einen Unterschied hätte das schon gemacht? Ich würde verdammt noch mal niemanden anlügen. Ja, ich war zu weit gegangen. Aber Tatsache war, dass ich sie beschützt hatte. Wenn ich dafür ins Gefängnis musste, dann sollte es so sein.
Schließlich antwortete ich: „Er hat meine Freundin sexuell bedrängt. Ich bin dazwischen gegangen.“
Die Polizistin zuckte zusammen.
„Ich sage, das ist kompletter Mist“, sagte der Polizist. „Ich vermute mal, sie hat sich ein bisschen mit ihm vergnügt und Sie wurden stinksauer.“
Ich musste die Welle der Wut, die ich fühlte, herunterschlucken. Antworte nicht. Mach es einfach nicht.
Schließlich sagte ich: „Ich denke nicht, dass ich weiter mit Ihnen reden möchte.“
Der Polizist lachte los und schlug auf das Lenkrad. „Hast du das gehört, Perez? Er möchte nicht mehr mit mir reden. Verdammter Collegedreckskerl. Ich sag dir was, er sollte zur verdammten Marine gehen um etwas Disziplin zu lernen, anstatt auf Penthauspartys an der Upper West Side rumzulungern. Haben Sie das gehört?“, schrie er mich an. „Ich hasse reiche Kids verdammt noch mal. Sie alle. Sie denken Sie können alles machen und damit durchkommen. Ich wette der Anwalt Ihres Vaters wird schon an die Tür der Polizeiwache klopfen bevor wir überhaupt da sind.“
Perez, die Polizistin, lehnte sich zu ihm rüber und flüsterte eindringlich etwas zu ihrem Partner. Egal. Ich schüttelte meinen Kopf und starrte aus dem Fenster. Er konnte denken was er wollte, es machte für mich keinen Unterschied.
Die Beleidigungen gingen noch eine Weile weiter, aber ich hörte nicht mehr zu, sondern konzentrierte mich auf den immer größer werdenden Schmerz in meiner rechten Hand.
Das Problem war einfach.
Ich war nicht gut für Alex. Ich war nicht mal gut für mich selbst. Ja, ich hatte sie beschützt. Aber was würde beim nächsten Mal passieren? Was wäre, wenn die nächste Person, die mich in Rage bringt und mich ausrasten lässt, Alex wäre?
Hoffentlich würde sie das nach heute Nacht auch kapieren. Aber was, wenn nicht? Was, wenn sie fälschlicherweise irgendwie glaubte, sie könne mich heilen? Es gab keine Heilung. Was in Afghanistan passiert war, war jetzt ein Teil von mir und, wenn ich ehrlich zu mir war, war ich mir sicher, dass so etwas wie heute Nacht, wieder passieren würde.
Ich würde mich eher umbringen, als Hand an sie zu legen. Aber ich hatte gesehen, was auf lange Sicht mit Paaren passierte. Ich bin sicher, dass meine Eltern sich irgendwann einmal geliebt hatten und glücklich gewesen waren. Aber zuviel Alkohol und zuviel Stress und Ärger und Hass hatten schlussendlich dazu geführt, dass sie zu einem perfekten Beispiel sich misshandelnder Eheleute wurden. Erst als meine Mutter clean wurde - und meinen Vater rausschmiss – bekam sie ihr Leben wieder in den Griff.
Unter keinen Umständen würde ich Alex so etwas zumuten. Und es würde passieren. Es würde so sicher passieren, wie die Sonne jeden Morgen aufgeht.
Ich blinzelte die Tränen weg. Denn ich musste einen Weg finden, sie zu verlassen ohne ihr dabei zu sehr weh zu tun, auf Wiedersehen zu sagen und dann in meine eigene Welt zu verschwinden, diesmal dauerhaft. So wie ich es schon im Februar hätte tun sollen, als die Bombe, die mir gegolten hatte, meinen besten Freund getötet hatte.
Im Gefängnis erledigten sie die Formalien um mich einzuweisen, und das dauerte ewig. Fingerabdrücke. Durchsuchung. Es war beschämend.
Irgendwann murmelte meine Eskorte, der Polizist aus dem Streifenwagen etwas, als er sah, wie mein Bein aussah.
„Was, zum Teufel, ist mit Ihnen passiert?“
„Ich bin in Afghanistan in die Luft gejagt worden“, antwortete ich.
Er grunzte. Ich vermute, das war alles an Entschuldigung, was ich erhalten würde.
Sie konfiszierten meinen Geldbeutel und alles andere und dann wanderte ich in eine Zelle. Genau dahin, wo ich hingehörte.
Die Zelle war voll mit Menschen, es waren etwa zehn Typen in dem kleinen Raum. Ich blieb in der Nähe der Tür und setzte mich. Niemand schaute mich an, oder sagte etwas und das war mir gerade Recht.
Die Zelle war klein, etwa drei Meter lang mit Bänken auf jeder Seite, die früher eventuell auch als eine Art Bett gedient hatten, aber jetzt saßen auf jeder Bank vier oder fünf Kerle, die versuchten zu schlafen.
Mir am Nächsten war jemand, der auffiel: Ein Mann mit Anzug und Mantel, seine Krawatte und Schnürsenkel fehlten allerdings. Er sah mehr nach einem Banker aus, als nach einem Kriminellen. Außerdem wirkte er verängstigt und presste sich an das Ende der Bank, als ob sein Leben davon abhing. Es war dunkel, das einzige Licht kam von einem schmalen Gitter in der Tür und der Boden war feucht. Am anderen Ende der Zelle, gegenüber der Tür, war eine Toilette ohne Sitz. Es stank nach Urin und Kot, und nach ungewaschenen Körpern.
Dieses Loch wäre in Afghanistan nicht weiter aufgefallen. Tatsächlich waren manche unserer Gefangenenunterkünfte menschlicher gewesen, als das hier.
Wo war Alex? Ich fragte mich, ob sie sie in ein Krankenhaus zur Untersuchung gebracht hatten, oder ob die Polizei sie befragt hatte. Ich wollte nicht, dass sie noch mehr mitmachen musste, als sie sowieso heute Nacht schon mitgemacht hatte.
Außerdem, dachte ich, war ich derjenige, der ihr den Rest geben würde.
Für einen Moment begann ich zu zweifeln. Wir liebten uns. Daran gab es keine Zweifel. Konnte diese Liebe das alles überleben? Konnten wir alle Herausforderungen meistern? Konnte die Liebe den beschissenen Zustand meines Herzen, meines Verstands und meiner Seele heilen?
Ja, klar. Sicherlich nicht.
Hoffentlich würde ich nicht lange hier sein. So verrückt es auch klingt, ich hatte etwa dreißigtausend Dollar auf der Bank. Ein Jahr steuerfreier Sold mit Gefahrenzulage, plus den Bonus für die Infanterie, das ganze Geld eines Jahres, lag fast unberührt auf der Bank. In Afghanistan brauchte ich nichts, im Krankenhaus brauchte ich auch nichts. Als ich nach Hause kam hatte meine Mutter darauf bestanden, dass ich das Geld nicht anrührte, obwohl ich ernsthaft versucht gewesen war, ein Auto zu kaufen. Nicht, dass ich hier eines hätte brauchen können. Also brachte das Geld Zinsen und jetzt würde ich es dazu verwenden, dass ich auf Kaution aus dem Gefängnis kam. Wenn sie eine Kaution zulassen würden. Wenn ich irgendwie die Möglichkeit bekommen würde, an das Geld zu kommen.
Das Traurige war, falls sie mir, wie es immer heißt, die Möglichkeit zum Telefonieren eingeräumt hätten, hätte ich niemanden zum Anrufen gehabt. Sherman, vermute ich mal, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn erreichen sollte. Und falls ich ihn anrief wäre er wahrscheinlich mit Carrie und Alex zusammen. Ich wollte sie alle nicht in diese Sache hineinziehen. Nicht noch mehr, als ich es ohnehin schon getan hatte.
Meine Augen füllten sich mit Tränen, und ich drehte mich von den anderen Männern in der Zelle weg.
Tränen, weil ich sie vermissen würde. Tränen, weil es mir, obwohl ich wusste, dass ich das Richtige tat, erneut das Herz brach. Und ich wusste, dass es ihr genauso ergehen würde.
Es wäre besser gewesen, wenn Roberts überlebt hätte. Ich hätte sterben sollen.
Ich schloss meine Augen und stellte mir ihr langes üppiges braunes Haar, ihre tiefgrünen Augen, die Form ihrer Lippen, ihre Wangen und ihren Hals, ihren wunderschönen Geist und ihr lautes, freies Lachen vor. Und ich dachte, wenn ich ohne das Alles leben sollte, wollte ich lieber gar nicht leben.
Jetzt bin ich an der Reihe (Alex)
„Wir gehen mit ihr“, sagte Carrie der Polizei. „Sie wird nicht alleine mit Ihnen ins Krankenhaus fahren. Ich bin ihre Schwester und Kelly ist ihre beste Freundin.“
Der Polizist sah nicht glücklich aus, stimmte aber schließlich zu.
Carrie drehte sich zu Sherman um.
„Ray, du gehst mit Joel zur Polizeistation und versuchst etwas über Dylan herauszufinden. Ruf mich an, sobald Ihr etwas wisst, okay?“
Sherman nickte und holte sein Telefon raus. „Gib mir deine Nummer“, sagte er.
Sie gab sie ihm und Sherman kam zu uns rüber und drückte meinen Arm.
„Wir reden später, okay. Ich weiß du bist völlig durcheinander, aber denke immer daran, er liebt dich. Das tun wir alle… wir sind jetzt eine Art Familie, okay?“
Meine Augen füllten sich erneut mit Tränen. Ich kannte Sherman noch nicht mal einen ganzen Tag, aber er war unheimlich nett zu mir. Einem Impuls folgend, streckte ich meine Arme aus und umarmte ihn.
Dann sagte ich: „Kümmere dich um Dylan, okay? Gib uns Bescheid, sobald Ihr etwas wisst.“
„Das werde ich“, sagte er und tätschelte meinen Rücken.
Joel drückte meine Schulter und küsste dann Kelly auf die Wange. Die Zwei drehten sich um und verließen das Gebäude.
Eine halbe Stunde später war ich im Krankenhaus. Carrie hielt meine Hand während die Ärzte mich untersuchten. Die Vergewaltigungsuntersuchung. Ich hatte deutlich gesagt, dass er keinen Erfolg gehabt hatte, aber die Polizei bestand darauf. Während der Arzt dabei war mich zu untersuchen, starrte ich die Wand an, Tränen rannen über mein Gesicht. Es war schrecklich unangenehm und außerdem so beschämend, wie ich es mir niemals hätte vorstellen können.
Aber das war noch gar nichts gegen die Befragung der Polizei.
Sie fand in einem vom Krankenhaus zur Verfügung gestellten Büro statt, und weil Carrie und Kelly beide Zeuginnen waren, durfte keine der Beiden bei der Befragung anwesend sein. Im Gegenteil, sie wurden zur gleichen Zeit auch befragt.
Das Büro war überfüllt und ich stand, mit einer Tasse abgestandenen verbrannt schmeckenden Kaffee in der Hand, erschöpft da.
„Setzen Sie sich, Miss Thompson“, sagte einer der Polizisten, ein ziemlich rotgesichtiger, übergewichtiger Mann, der sich als Sergeant Campbell vorgestellt hatte.
„Wir versuchen Klarheit in diese ganze Sache zu bringen und möchten Sie bitten, uns so genau wie möglich zu berichten, was heute Nacht passiert ist.“
Das tat ich, beginnend mit den zwei Dates, die ich im Frühling mit Randy gehabt hatte. Während ich sprach machte sich Campbell Notizen und unterbrach mich nicht. Ich kämpfte darum, so gelassen wie möglich zu bleiben. Ich war immer noch geschockt und gefrustet und sauer. Vor allem sauer, weil Randy zum zweiten Mal körperliche Gewalt gegen mich angewandt hatte und ich nichts dagegen getan hatte. Nichts, um ihn loszuwerden. Dylan hätte nicht so zu meiner Rettung kommen müssen. Wenn ich in der Lage gewesen wäre mich zu wehren, hätte er nicht einschreiten müssen.
„Okay, ich habe ein paar Fragen“, sagte Campbell. „Beginnend mit… Sie sagen, er hat sie schon einmal bedrängt. Warum haben Sie es damals nicht gemeldet?“
Ich spürte wie ich rot wurde. Ich starrte auf den Boden, zuckte etwas mit den Schultern und sagte: „Ich denke ich war zu beschämt. Ich hatte getrunken und ich dachte ich kenne ihn besser und… ich weiß nicht genau warum. Ich wollte einfach, dass es vorbei ist. Und bis vor ein paar Wochen dachte ich das wäre es auch.“
„Was passierte vor ein paar Wochen?“
„Randy kam in die 1020-Bar und begann mich zu belästigen. Er wollte mich einfach nicht gehen lassen, Kelly hat ihn mit Pfefferspray besprüht und der Türsteher hat ihn dann rausgeworfen.“
Campbell runzelte die Stirn und sagte dann: „ Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass sie mir sagen, dass sie Alkohol getrunken haben. Und das, obwohl Sie noch nicht einundzwanzig sind.“
Ich nickte und schaute weg.
„Und heute Nacht? Haben Sie heute Nacht auch getrunken?“
„Nein.“
„Warum nicht? Sie haben letztes Frühjahr zusammen mit ihm getrunken und dann wieder in der 1020-Bar. Warum heute Nacht nicht?“
„Mein Freund trinkt nicht. Ich wollte nicht, dass er sich unwohl fühlt.“
„Verstehe. Das wäre dann also Dylan Paris.“
Ich nickte.
„Also, Dylan trinkt keinen Alkohol. Wie lange sind Sie beide schon zusammen?“
Das war eine komplizierte Frage. Ich antwortete so gut ich konnte. „Wir haben uns auf einem Schüleraustausch vor drei Jahren kennen gelernt und waren seitdem zusammen. Aber wir haben uns letzten Februar getrennt während er in Afghanistan war. Seit kurzem sind wir wieder zusammen.“
„Wie lange schon?“
„Ein paar Wochen.“
„Hatte Randy Brewer irgendeinen Grund zu glauben, dass sie Zwei zusammen waren?“
Ich schüttelte heftig den Kopf. „Ich habe ihm deutlich gesagt, dass ich nichts mit ihn zu tun haben will.“
„Erzählen Sie mir, warum sie allein mit ihm waren. Sie waren in einem dunklen Flur allein mit einem Typen von dem sie behaupten, dass er schon einmal versucht hat sie zu vergewaltigen. In einem kurzen Rock. Wie ist das passiert?“
In einem kurzen Rock? Was zur Hölle?
„Ich war dabei Wasser aus der Küche zu holen. Ich wusste noch nicht einmal, dass Randy auf der Party war, aber er kam in die Küche während ich auch dort war und er drängte mich in den Flur. Ich versuchte so weit wie möglich von ihm weg zu kommen.“
„Also nahmen Sie das selbst in die Hand und führten ihn in den Flur.“
„Nein! Warum behandeln Sie mich, als wäre das alles meine Schuld?“
„Miss Thompson, ich versuche nur der Sache auf den Grund zu gehen. Ein junger Mann ist im Krankenhaus, vermutlich mit einer Schädelfraktur. Ich muss wissen, ob Sie nicht nur irgendein Spiel gespielt haben. Zum Beispiel versucht haben Ihren Freund eifersüchtig zu machen? Ich meine ja nur, ich wäre eifersüchtig, wenn ich eine Frau wie Sie in einem dunklen Flur mit der Hand eines anderen unter Ihrem Rock vorfinden würde.“
Ich konnte nicht anders. Ich begann zu weinen, vor Empörung und Wut.
„Sie liegen so falsch. Sie haben keine Ahnung wovon Sie reden.“
„Dann helfen Sie mir, es zu verstehen.“
„Ich habe es Ihnen bereits erklärt. Ich versuchte ihm zu entkommen. Er schob mich an die Wand und ich schrie, also legte er seine Hand auf meinen Mund. Ich kämpfte gegen ihn an.“ Meine Stimme erhob sich zu einem Schreien. „Wollen Sie die verdammten Blutergüsse sehen?“
„Ich denke nicht, dass das nötig sein wird, Miss. Ich weiß, dass das Krankenhauspersonal Fotos gemacht hat. In Ordnung, lassen Sie uns das Ganze noch einmal durchgehen. Letztes Frühjahr waren sie mit Brewer zusammen.“
„Wir sind genau zweimal miteinander ausgegangen.“
„Richtig. Während Ihr Freund mit der Army im Ausland war.“
„Nachdem wir uns getrennt hatten.“
„Also, sie sind mit ihm ausgegangen, haben getrunken und begannen dann Sex mit ihm zu haben und haben es sich dann doch anders überlegt?“
„Nein! Er hat mich aufs Bett gedrückt. Ich weiß nicht was passiert wäre, wenn seine Zimmergenossen nicht in dem Moment hereingekommen wären!“
„Verstanden. Seine Zimmergenossen kamen rein und unterbrachen Sie und dann machten Sie… was? Die Polizei rufen? Ihn anzeigen? Wegrennen?“
Ich starrte zu Boden. „Ja, ich bin weggerannt. Und ich versuchte das Ganze zu vergessen.“
„Also kommt er heute Nacht zurück, auf einer vornehmen Party in einem Penthausapartment, bedrängt sie und endet mit einer Schädelfraktur. Wenn Sie letzten Frühling Anzeige erstattet hätten, okay, aber so. Sie sagen Dylan trinkt keinen Alkohol. Wussten Sie, dass er Drogen nimmt?“
„Was?“
„Oh, das wussten sie nicht. Ja, sein Blut war voll davon. Opiate und andere Dinge.“
Ich schüttelte meinen Kopf. „Wussten Sie, dass sein Bein vor neun Monaten durch eine Straßenbombe in Afghanistan fast zerfetzt wurde? Er nimmt die Schmerzmittel auf Anweisung seines Arztes.“
„Was ist mit seiner Hand passiert? Warum ist sie in Gips?“
Ich schluckte und flüsterte: „Wir hatten einen Streit und er… er hat auf eine Wand eingeschlagen.“
„Ach du meine Güte“, sagte Campbell. Er verzog das Gesicht, die eine Seite seines Mundes hing herunter, und er schüttelte leicht seinen Kopf. „Er hat so fest auf eine Wand eingeschlagen, dass er seine Hand gebrochen hat?“
Ich nickte. „Es ist nicht so, wie es klingt.“
„Seien Sie lieber froh, dass er nicht Sie geschlagen hat, Kind.“
„Dylan würde das niemals machen.“
„Sehen Sie mal Miss Thompson. Ich habe das schon verstanden. Ich war im Irak im Einsatz. Aber lassen Sie sich sagen, wenn jemand unter Drogen steht und wütend ist, dann kann er manchmal nicht mehr unterscheiden, ob er eine Wand oder seine Freundin schlägt. Sie müssen aufhören ihn zu verteidigen und sich stattdessen um sich selbst kümmern.“
„Ich möchte nicht weiter mit Ihnen sprechen.“
„Ich habe Sie nicht gefragt, was Sie möchten, Miss Thompson.“
„Wenn Sie mir noch etwas zu sagen haben, können Sie mit meinem Anwalt sprechen. Dieses Gespräch ist vorbei.“
Ich stand auf und starrte ihn an, dann sagte ich langsam und leise: „Eines verstehe ich nicht. Fast jede Frage, die Sie mir gestellt haben, hatte zum Ziel mich – das Opfer – oder Dylan, der mich beschützt hat, zu beschuldigen. Warum stellen Sie keine Fragen über Randy Brewer? Warum sind Sie an ihm nicht interessiert? Er ist der Vergewaltiger!“ Meine Stimme wurde laut als ich den Satz beendete.
Ich drehte mich um, öffnete die Tür und verließ das Büro.
„Wir gehen“, sagte ich zu Kelly und Carrie. „Hat Sherman angerufen?“
Carrie nickte. „Er sagte, dass sie keinen Kontakt mit ihm hatten. Dylan muss am Montag im Laufe des Tages zur Anhörung vor Gericht. Dann legen sie fest, ob er auf Kaution raus darf, oder nicht.“
Montag. Jesus, zwei Nächte im Gefängnis. Gott allein wusste, was dort mit ihm geschehen würde. Das alles war so unfair.
Ich schluckte hart. Es gab Nichts, was ich tun konnte, außer mein Bestes zu geben um ihm zu helfen, wenn es an der Zeit war.
„Dann lasst uns etwas schlafen. Wäre es okay für Euch, wenn wir uns alle morgen früh wieder treffen – wir alle – um zu beratschlagen, ob und wie wir ihm am besten helfen können?“
Carrie und Kelly starrten mich beide mit offenem Mund an.
„Ich weiß nicht, was wir tun könnten“, sagte Kelly.
„Das ist genau das, was wir herausfinden müssen. Ich weiß nur eines, weil er mich beschützt hat ist er ganz allein da drin. Jetzt bin ich an der Reihe ihn zu beschützen und ich werde mein Bestes geben, ob mit oder ohne Eurer Hilfe.“
Freunde (Alex)
Alle sahen ziemlich fertig aus, als wir uns am nächsten Morgen am großen runden Tisch im hinteren Teil von Tom’s trafen. Carries Augen waren geschwollen und rot, sie hatte Jeans und einen Pullover an. Sie sah entspannter aus, als ich sie je gesehen hatte, aber auch erschöpft. Sie saß neben Sherman, zu jeder anderen Zeit hätte ich mich köstlich darüber amüsiert. Sherman war der Einzige am Tisch, der einigermaßen normal aussah. Hellwach schob er sich Unmengen von Essen in den Mund. Die Beiden waren zusammen hier angekommen und ich hatte so ein Gefühl, dass sie die ganze Nacht zusammen verbracht hatten.
Kelly und Joel saßen zusammengesunken da, und stocherten in ihrem Essen herum. Joel hatte letztendlich bei uns übernachtet, aber aus Rücksicht auf mich, und wahrscheinlich auch vor Erschöpfung, hatten sie nichts anderes getan, als zu schlafen. Er hatte geschnarcht, es klang wie ein Rhinozeros, das vor einem Güterzug davon rannte. Wenn ich nicht sowieso wach gelegen hätte, dann hätte mich das vom Schlafen abgehalten.
Ich hatte in meinem Bett gelegen, an die Decke gestarrt und seinem Schnarchen und Kellys sanften Atemzügen gelauscht und darüber nachgedacht, dass wenn auf es der Welt irgendwo Gerechtigkeit gäbe, ich diese Nacht in Dylans Bett verbracht hätte, und zwar definitiv nicht schlafend.
„Mein Schwager ist Anwalt für Strafrecht“, sagte Joel. „Ich kann nicht versprechen, ob er den Fall annehmen wird, aber es schadet nicht zu fragen. Er ist allerdings ziemlich teuer.“
Sherman meldete sich zu Wort. „Dylan hat Geld, oder sollte zumindest welches haben. Wenn nicht, springe ich dafür ein.“
Ich legte meinen Kopf zur Seite. „Das musst du nicht machen.“
Er lehnte sich vor und sagte: „Doch, das muss ich. Dylan steht mir näher als mein eigener Bruder. Ich würde meinen letzten Cent für ihn hergeben. Klar? Es hat keinen Sinn mit mir darüber zu streiten.“
Ich nickte und blinzelte die Tränen aus meinen Augen. Carrie legte ihre Hand auf die von Sherman und flüsterte ihm etwas zu. Ich weiß nicht was. Dann sagte sie etwas, das mich fast tot umfallen ließ. „Dabei kann ich auch helfen. Dad hat mir zu Beginn des Semesters vierzigtausend Doller geschenkt.“
Mir blieb der Mund offen stehen. Einmal, weil unser Vater ihr einfach so soviel Geld geschenkt hatte und zweitens, weil sie es hierfür einsetzen wollte.
„Dad wird einen Anfall bekommen“, sagte ich.
„Das wäre gut für ihn“, antwortete sie und ihre Augen tanzten dabei. „Ich muss heute Abend zurück fliegen, aber ich werde dir so viel Geld wie möglich zukommen lassen, bevor ich gehe. Wenn du es nicht brauchst, okay, dann überweise es einfach zurück.“
„Und ich werde dich zur Anhörung begleiten“, sagte Kelly. Joel nickte. „Wir werden alle mitkommen. Du bist doch auch dabei, oder Ray?“
Sherman nickte.
Ich wusste nicht, womit ich so gute Freunde verdient hatte.
Joel ging vor die Tür um seinen Schwager anzurufen.
Sherman sagte: „Alex, bevor wir uns jetzt alle trennen, müssen wir uns noch ein paar Minuten unterhalten, allein.“
Carrie und Kelly hoben beide neugierig ihre Augenbrauen.
„Okay“, sagte ich zögernd.
„Lass uns kurz spazieren gehen, es wird nicht lange dauern.“
Ich nickte, stand auf und meine Beine fühlten sich taub an. Worüber musste Sherman mit mir sprechen. Irgendetwas, das mit Dylan zu tun hatte, soviel war klar. Und das machte mir Angst. Große Angst. Und ich wusste noch nicht mal warum.
Draußen angekommen, entfernten wir uns etwa seinen halben Block von den Anderen, dann drehte er sich zu mir um, und lehnte sich an eine Wand.
„Hör zu“, sagte er. „Ich habe dir letzte Nacht gesagt… Dylan... er ist wie ein Bruder für mich.“
Ich nickte.
„Na ja… ich bin ein wenig besorgt. Um ehrlich zu sein, bin ich sogar sehr besorgt. Darüber, wie er auf das Alles reagieren wird. Im Gefängnis gelandet zu sein, der Kampf, einfach alles.“
Ich biss mir auf die Lippe und starrte zu Boden. „Ich auch“, flüsterte ich.
„Der Kerl hat einen riesigen Hang dazu, sich zum Märtyrer zu machen. Du musst verstehen… Ich bezweifle, dass er dir die Details erzählt hat, zumindest nicht im korrekten zeitlichen Zusammenhang. Nachdem Ihr Euch getrennt habt und er auf seinen Laptop geschossen hat, wurde der Dienstplan für unsere Truppe als Teil der Bestrafung geändert und wir wurden auf Patrouille geschickt.“
Ich nickte. „Ich weiß.“
„Das war die Patrouille, bei der sie von der Straßenbombe getroffen wurden, Alex. Bei der Roberts starb.“
Ich schüttelte verwirrt den Kopf. „Er hat mir gesagt, das war erst einige Tage später.“
Sherman schüttelte traurig den Kopf. „Nein. Jetzt hör mir zu Alex… Niemand machte ihm Vorwürfe. Niemand hat je gesagt, es wäre seine Schuld gewesen. So etwas hätte jederzeit passieren können. Wir wurden ständig beschossen. Aber Dylan macht sich Vorwürfe. Wir haben viele E-Mails hin und her geschickt, während er im Krankenhaus war. Ich habe versucht ihm klarzumachen, dass es nicht seine Schuld war, aber… na ja… Schuldgefühle sind eine üble Sache. Und er ist überzeugt davon, dass Roberts noch am Leben wäre, wenn er nicht so überreagiert hätte.“
„Okay. Also… was hat das mit der jetzigen Situation zu tun?“
Er schaute mich genau an. „Denk darüber nach, Alex. Was ist danach außerdem mit jemandem passiert, den er liebt?“
Ich spürte wie sich mein Magen zusammenkrampfte. „Oh nein.“
Er nickte. „Ja. Ich wette eine Million Dollar, das er denkt es wäre irgendwie seine Schuld, dass das Arschloch versucht hat dich zu vergewaltigen.“
Ich schüttelte heftig meinen Kopf. „Nein. Es war nicht seine Schuld. Es war nicht meine Schuld. Das war alles Randy.“
„Ja, na ja… Sei einfach vorsichtig. Sei vorbereitet. Denn ich denke, Dylan macht sich große Vorwürfe und ich weiß nicht, was er jetzt tun wird.“
„Du denkst doch nicht, dass er mit mir Schluss machen wird, oder?“
„Es könnte sein.“
Eine Träne rollte über mein Gesicht. Er streckte seine Hand aus, berührte mein Kinn und sagte dann: „Du und ich… es ist unsere Aufgabe ihn zurück zu holen, okay? Ich weiß nicht, ob wir das können, aber… na ja… ich liebe ihn. Und ich werde nicht zulassen, dass er völlig zusammenbricht, nicht wenn ich es irgendwie verhindern kann.“
„Ich auch nicht“, flüsterte ich.