Kapitel 11

Sagen Sie am Besten einfach nichts (Dylan)

Als ich in den Gerichtssaal eskortiert wurde, waren meine Hände immer noch gefesselt, diesmal vorne, und ein Polizist hielt mich am linken Arm fest.

Ich war nicht gerade in bester Verfassung. Mein Gips war auseinander gebrochen und das meiste davon, war einfach abgefallen. Meine Finger waren eingerollt und ich konnte nichts dagegen machen. Sie taten höllisch weh. Meine ganze Hand hatte eine kranke, graue Farbe, die ich mit Zombiefilmen assoziierte. Mein Shirt stank nach Erbrochenem, obwohl ich so gut es ging versucht hatte, es und mich am Waschbecken zu waschen, bevor sie mich zur Anhörung aus der Zelle geholt hatten. 

Ich hatte während eines Krampfanfalls erbrochen.

Aus klinischer Sicht waren die Krampfanfälle nicht sehr stark. Die Ärzte hatten mir gesagt, ich könnte sie für ein Jahr, oder fünf oder auch nie wieder haben. Das konnte man nicht wissen. Ich achte darauf, die Medikamente dagegen täglich zu nehmen. Aber logischerweise konnte ich sie Samstag- und auch Sonntagnacht nicht einnehmen und Montag um 4:00 Uhr morgens fühlte ich, wie es begann. Mein ganzer Körper verkrampfte sich, ich bekam plötzlich schreckliche Kopfschmerzen und das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich zitterte, ein winziges schnelles Zittern, das mich so durchschüttelte, dass ich mich überhaupt nicht bewegen konnte. Ich denke nicht, dass einer der Anderen überhaupt etwas bemerkt hätte, wenn ich nicht einen Teil des Erbrochenen eingeatmet und begonnen hätte zu husten. 

Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte in dem Gerichtssaal zu sehen, aber ganz bestimmt nicht das. Ich war noch niemals zuvor in einem Gerichtssaal gewesen und ich vermute ich hatte ein altes zerfallendes Gebäude erwartet, so wie in den Gerichtssendungen, die meine Mutter früher angeschaut hatte. Stattdessen ging ich in einen sauberen, hell erleuchteten Raum mit Teppichboden und aufwändiger Holzvertäfelung. Der Polizist schob mich hinter eine Absperrung, in der noch weitere Kriminelle saßen und sagte ich solle mich hinsetzen und warten.

Und in diesem Moment sah ich sie. Nicht nur Alex, sondern auch Sherman, Joel und Kelly. Sie saßen in einer Gruppe um Alex herum, so als wollten sie sie unterstützen. Und sie starrte mich an. 

Ich musste meine Augen schließen. Ich konnte ihr Herz nicht noch einmal brechen. Aber ich wusste, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich konnte ihr jetzt einmal kurz sehr wehtun, so wie man Pflaster abreißt, oder ihr dauerhaft und langfristig damit wehtun, indem ich sie ein Teil meines vermasselten Lebens werden ließ. 

Die Anhörungen waren schnell vorüber. Eine nach der Anderen, der Richter entschied wie am Fließband. Deshalb war es eine Überraschung, als mein Fall aufgerufen wurde. 

Der Polizist lehnte sich zu mir rüber, sagte: „Hier entlang“, und führte mich dann zu einem Tisch im vorderen Teil des Raumes. Ein Mann in einem Anzug kam durch den Mittelgang vorgelaufen und setzte sich an den Tisch neben mir. 

Ich starrte ihn an. „Wer zur Hölle sind Sie?“

Er lehnte sich näher zu mir rüber. „Ich bin Ben Cross. Ich werde Sie anwaltlich vertreten. Heute Morgen sagen Sie am Besten einfach nichts. Ich kenne die Details des Falls. Wir werden Sie so schnell wie möglich hier rausholen.“

„Wer hat Sie engagiert?“

Er zeigte mit seinem Daumen in den hinteren Teil des Raumes. „Sie waren das. Ihre Freunde. Joel ist mein Schwager.“

Oh, nein. Sie waren noch schlimmer involviert als ich befürchtet hatte. 

„Ich habe nicht darum gebeten.“

„Seien Sie froh, dass man Ihnen keinen Pflichtverteidiger gestellt hat.“

„Ich möchte nicht, dass Sie hier sind.“

Er schüttelte seinen Kopf. „Wollen Sie ins Gefängnis? Schauen Sie, wir können die Details nach der Anhörung klären. Können wir im Augenblick einfach auf meine Art fortfahren?“

„Wie auch immer.“

Ich drehte mich um und schaute weg. Ich wollte nicht undankbar sein. Aber was zur Hölle? Sie hatten einen Anwalt für mich engagiert? Wer konnte sich das leisten? Und warum? Oh Gott.

Also begann Ben Cross für mich zu arbeiten. Und bevor ich es überhaupt merkte, war die Kaution festgesetzt und ich war zurück in der Zelle und wartete. Eine Stunde später kamen die Polizisten wieder um mich abzuholen und führten mich ins Foyer des Gefängnisses. Ich fürchtete mich schrecklich vor dem was nun kommen würde. 



Lass ihn an deinen Socken riechen (Alex)


Ich wusste, das Dylan schlimm aussehen würde, wenn er den Gerichtssaal betrat. Er hatte immerhin das ganze Wochenende in Untersuchungshaft verbracht. Aber es traf mich hart als ich sah, wie schlimm er wirklich aussah. Er war ganz offensichtlich total erschöpft. Er hatte dunkle Ringe unter seinen Augen und nach drei Tagen ohne sich zu rasieren, war sein Kinn von dunklen Stoppeln bedeckt. Das schwarze T-Shirt über das ich gegeifert hatte, sah abgewetzt aus und hatte vorne einen lang gezogenen Fleck. 

Seine Hand. Der Gips war ab und er hielt die rechte Hand mit der linken fest, so als würde er sie schützen. Sie war wie ausgewaschen, blass, und seine Finger waren zusammengerollt und bewegten sich nicht. Sein Gesicht hatte eine ähnliche Farbe. Es war offensichtlich, dass er große Schmerzen hatte. 

Aber das Schlimmste waren seine Augen. Sie waren… verblasst. Trüb. Ich griff nach Kellys Hand als er zu mir rüber schaute, für einen kurzen Moment in meine Augen sah und dann wegschaute, fast so als hätte er mich nicht erkannt. 

Ich musste die Tränen zurück halten. Schon wieder.

Nein. Ich würde nicht hier sitzen und weinen. Ich würde stark sein, denn er brauchte mich jetzt. 

Sogar, wenn er es selbst nicht wusste.

Die Anhörung war schnell vorüber. Joels Schwager war sichtlich erfahren und wusste, was er tat und er ging die Ereignisse, die sich in dieser Nacht abgespielt hatten, schnell durch. Er argumentierte überzeugend, dass Dylan genau das war, was er war… ein verwundeter Soldat, der jemanden den er liebte vor einem sexuellen Angriff beschützt hatte. Das er eine Medaille verdient hatte und keine Gerichtsverhandlung. Der Richter bat ihn fortzufahren und der Anwalt plädierte dafür, dass die Anklage fallengelassen wird. 

An dieser Stelle stand der Staatsanwalt auf und sagte: „Euer Ehren, der Angeklagte hat einen einundzwanzigjährigen Studenten der Columbia-Universität krankenhausreif geschlagen. Er hat mehrere Schädelfrakturen und eventuell dauerhafte Hirnschädigungen. Der Angeklagte ist gefährlich und ich beantrage, dass er nicht auf Kaution frei kommt.“

Ich hielt den Atem an.

Der Richter setzte die Kaution auf zwanzigtausend Dollar fest. Als er die Worte aussprach grinste Sherman, dann drehte er sich zu mir um. „Wir haben genug“, flüsterte er.

„Er sieht schrecklich aus“, sagte ich, während ich zusah, wie die Gerichtsdiener ihn hinaus führten. 

Ben, Joels Schwager und jetzt Dylans Anwalt, kam auf uns zu. Er hatte das Geld schon in seiner Brieftasche.

„Okay, ich werde die Kaution jetzt hinterlegen. Ihr könnt in der Lobby warten. Es kann ein oder zwei Stunden dauern, bis sie ihn entlassen.“

„Vielen Dank“, sagte ich und umarmte ihn spontan. 

„Ich muss Euch sagen“, sagte er und schaute dabei vorwiegend mich an, „Dylan ist… nicht unbedingt kooperativ. Er hat mir durch die Blume gesagt, dass ich zur Hölle fahren soll.“

Ich seufzte.

„Ich hatte gleich ein schlechtes Gefühl“, sagte Sherman. „Wir werden mit ihm reden. Im Moment ist er ziemlich fertig.“

Würden wir in der Lage sein ihn zu überzeugen? Was würde er sagen, wenn er aus dieser Zelle kam? Was würde er zu mir sagen? Über uns?

Ich hatte schreckliche Angst. Ich verließ den Gerichtssaal, fühlte mich wie betäubt und fand mich dabei wieder, wie ich in der Lobby auf und ab ging. Ich dachte über all die Dinge nach, die anders hätten laufen können. Wenn wir nicht zu dieser Party gegangen wären. Wenn wir uns im September nicht wieder getroffen hätten. Wenn ich ihn letzten Februar nicht betrunken angerufen hätte. Wenn er nicht so ausgerastet und auf die Patrouille geschickt worden wäre. Wenn wir uns gar nicht erst getroffen und verliebt hätten.

Es war zu viel. Es gab zu viele Dinge, die hätten anders laufen können. Und niemand wusste, was dann gewesen wäre. Was ich wusste war, dass ich Dylan liebte. Und ich würde um ihn kämpfen. 

Ich seufzte. Hin und her laufen würde mir nur schaden. Und vermutlich machte ich die Anderen damit nur verrückt. Ich ging zu einer der Bänke und setzte mich zwischen Sherman und Kelly.

„Also Sherman… Wie sind deine Pläne? Ich weiß du bist hergekommen um Dylan zu besuchen und der Besuch ist wohl ziemlich anders verlaufen, als gedacht.“

Er gähnte und sah zur Decke hoch. 

„Ich bin mir noch nicht sicher“, antwortete er. „Ich habe ein paar Wochen mit meinen Eltern verbracht, nachdem ich nach Hause kam, aber wir machten uns nur gegenseitig verrückt. Also kam ich hier runter, und dachte ich könnte etwas Zeit mit Dylan verbringen und schauen wie die Columbia-Uni so ist. Aber… ich werde mein Studium beenden. Irgendwo.“

Er sah mich schräg von der Seite an und sagte dann: „Ich dachte eventuell an Texas.“

„Oh wirklich?“ fragte ich.

„Ja. Rice klingt nach einer guten Uni. Und ich habe eine Doktorandin von dort kennen gelernt, die sehr viel daran gesetzt hat, mich davon zu überzeugen.“

Ich grinste. „Ihr Zwei versteht Euch echt gut.“

„Ich hatte nicht damit gerechnet“, sagte er.

Ich lachte kurz auf. „Ich bin sicher, sie auch nicht.“

Er kicherte. „Carrie sagte, die Typen in ihrem Studiengang hätten Angst vor ihr.“

„Das wundert mich nicht“, antwortete ich. „Ich hatte auch schon immer Angst vor ihr.“

Er sah mich verdutzt an, seine Augenbrauen hatte er so hoch gezogen, dass sie sich fast berührten. „Warum?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht. Sie ist immer so… perfekt. Studium, Leben, Kleidung. Carrie war immer etwas Besonderes, besser. Ich bin etwas bodenständiger.“

„Na ja, du kannst nicht durch dein Leben gehen und denken, dass andere Leute besser sind als du. Schau dir Dylan an – “

Er bracht abrupt ab.

„Wie meinst du das, schau dir Dylan an?“

Er runzelte die Stirn und sagte dann: „ Sieh mal. ich sollte darüber eigentlich nichts sagen. Er wird mich dafür umbringen. Aber du musst verstehen, dass er niemals geglaubt hat, gut genug für dich zu sein.“

Was? Nein. „Das ist nicht wahr.“

Er nickte. „Doch das ist wahr. Gott, du hast ja keine Ahnung wie viel er in Afghanistan über dich gesprochen hat. Ohne Pause. Nimm es mir nicht übel, aber es war ziemlich anstrengend. Aber er hat immer gesagt, dass er seit dem Moment, als Ihr Euch kennen gelernt habt, dachte du ständest weit über ihm. Und er zählte die Gründe dafür auf. Du bist reich, er ist arm. Du kommst aus einer erfolgreichen Familie. Dein Vater ist Botschafter oder so etwas, richtig?“

Ich nickte.

„Über solche Sachen sprach er. Sein Vater ist ein Alkoholiker und er hatte immer Angst, dass er einmal genauso endet. Also zählte er das alles zusammen und kam zu dem Ergebnis, dass er nicht gut genug für dich ist. Das hat er immer geglaubt. Und Afghanistan hat das nur noch verschlimmert.“

Ich schüttelte den Kopf. „Das stimmt aber nicht. Ich meine… ja unsere Familien sind verschieden. Aber das bedeutet doch gar nichts. Es geht nicht um unsere Eltern oder darum wie viel Geld man hat. Es geht um einen selbst und wer man ist.“

„Tja, versuch du ihn davon zu überzeugen. Ich habe es niemals geschafft.“

„Das werde ich, wenn er mir eine Chance gibt.“

Kelly sagte trocken: „Lass ihn an deinen Socken riechen. Dann kapiert er es.“

Joel unterdrückte ein Lachen und hustete stattdessen nicht überzeugend.

„Danke, dass Ihr heute alle mitgekommen seid.“ sagte ich sehr ruhig.

„Fang nicht damit an“, sagte Kelly. „Dafür sind Freunde da.“

Ich lächelte sie an. Sie konnte mir den ganzen Tag sagen, das Freunde so etwas taten, aber da wo ich aufgewachsen bin, traf das nicht zu. Ich hatte keine Freunde, die für mich vor Gericht ziehen würden. Oder ins Gefängnis gingen. Oder sonst irgendwo hin. Ich begann gerade erst zu verstehen, dass die Freundschaften, die ich hier geschlossen hatte, etwas ganz Besonderes waren. 

Ohne ein Wort zu sagen, streckte ich meine Arme aus und nahm die Hände meiner Freunde in meine. Es gab wirklich keine Worte für das, was ich empfand. 



So ist das im Krieg (Dylan)


Aus dem Gefängnis entlassen zu werden, war in etwa so, wie eingewiesen zu werden, nur umgekehrt. Die durchsuchten mich nicht, aber ansonsten war es beängstigend ähnlich. Ich unterschrieb Papiere, sammelte mein Telefon, meine Brieftasche und meinen Schlüssel ein und dann konnte ich gehen.

Ich ging langsam nach draußen, denn ich hatte schreckliche Angst. Wahrscheinlich waren sie alle da draußen. Sherman und Alex und ihre Freunde. Und sie hatten alle gesehen, wie brutal ich gehandelt hatte. 

Ich hatte das Richtige getan. Ich hatte sie beschützt. Aber… ich hatte nicht aufhören können. Ich hatte mich so von der Wut und dem Ärger übermannen lassen, dass ich, wenn Sherman nicht eingegriffen hätte, Randy getötet hätte.

Ich hätte ihn umgebracht. Keine Frage.

Es war ja nicht so, als ob ich nicht früher schon getötet hatte. Das hatte ich. Dreimal hatte ich auf jeden Fall getötet. Bei anderen Ereignissen, wenn ich auf Gebäude oder Aufständische geschossen hatte, war es schwieriger zu sagen. Aber bei drei Situationen war ich sicher. 

Töten war einfach. Damit zu leben war schwer.

Als die Polizei mich schließlich raus ließ, zeigten sie mir den Weg zu den Aufzügen und das war es. Zwei Minuten später, stand ich in der Lobby. 

Alex saß mir gegenüber, umgeben von unseren Freunden.

Ich ging einen oder zwei Schritte vor und dann wurde mir das Ausmaß dessen, was ich plante so richtig bewusst. Mein Herz klopfte wie wild, mein Magen verkrampfte sich und ich wollte mich einfach umdrehen und davon rennen. Ich begann nochmals darüber nachzudenken – sehr ernsthaft sogar. Vielleicht sollte ich jetzt einfach damit aufhören. Und versuchen herauszufinden, wie es trotzdem funktionieren könnte. Es musste einen Weg geben.

Dann sah sie mich an und ich schnappte nach Luft und ich konnte sehen, dass es ihr genauso erging. Ihre Augen weiteten sich und sie stand auf und kam auf mich zu. Dabei verzog sich ihr Gesicht, und sie begann zu weinen und ich konnte sie nicht einfach so weinen lassen, also schlang ich meine Arme um sie.

Während ich sie festhielt, atmete ich langsam und tief durch die Nase ein, inhalierte den Duft ihrer Haare und ihres Körpers. Sie hatte ihre Arme um meine Schultern gelegt.

Dann küsste sie mich, das Gefühl ihrer Lippen auf meinen, am liebsten hätte ich vor Kummer und Schrecken laut geschrien. War ich wirklich bereit, sie so zu verletzen? War ich wirklich bereit sie aufzugeben? Das aufzugeben?

Unsere Freunde kamen näher.

„Ist alles okay, Mann?“, fragte Sherman. Ich senkte vorsichtig meine Arme und ließ Alex los, die Schmerzen in meiner Hand waren unerträglich, aber sie hielt mich weiter fest und drehte sich, so dass sie an meiner Seite stand.

„Ja, ich denke schon“, sagte ich. „Danke für, ähm… Alles. Ich weiß nicht, wer die Kaution bezahlt hat, aber ich werde das Geld zurückzahlen. Ich habe genug Geld auf der Bank.“

Sherman zuckte mit den Schultern. „Das können wir später regeln. Jetzt ist nur wichtig, dich von hier weg zu bringen.“

Ich ging mit ihnen, denn ich hatte nicht den Mut etwas anderes zu tun. Wir fuhren ohne ein Wort zu reden zurück zum Columbia Campus, Alex hatte ihren Kopf auf meine Schulter gelegt. Das war unangenehmer und seltsamer als jeder andere Moment in meinem Leben. Und es würde nur noch schlimmer werden.

Da ich wusste, dass es nur noch eine Frage von Minuten war, bis ich sie für immer verlieren würde, versuchte ich mir alles an Alex genau einzuprägen, ihre Stimme, ihr Haar, ihren Geruch, einfach alles. Eines Tages würde sie ein wundervolles, verdammt schönes Leben haben. Und obwohl ich kein Teil davon sein würde, würde ich mich an sie erinnern. Ich würde mich an jede Sekunde, die wir zusammen gehabt hatten, erinnern und diese Erinnerung niemals loslassen.

Sherman schaute zu mir rüber und sah mich neugierig an. Fast so, als wüsste er was ich dachte. So gut wie er mich kannte, wusste er es wahrscheinlich sogar. Er war ein schlauer Kerl und er war der Gegenpart einer langen Unterhaltung via E-Mail über mich und Roberts und Alex gewesen und ich hatte soweit ich weiß sogar ein- oder zweimal Selbstmordgedanken geäußert. 

Wir setzten erst Kelly und Joel ab und fuhren dann weiter zu meinem Apartment.

Nachdem wir aus dem Taxi ausgestiegen waren, sagte ich: „Ich muss mich wirklich erstmal waschen.“

Gott, was war ich nur für ein Feigling. Ich konnte es einfach nicht sagen.

Aber warum? Warum hatte ich Angst? Ich würde sie so oder so verlieren.

Also setzten sich Sherman und Alex auf die Couch, während ich vorsichtig duschte, immer darum bemüht meine Hand nicht noch mehr zu verletzen. Danach ging ich in mein Zimmer und zog saubere Klamotten an. Gerade als ich mein Shirt zurecht zog, klopfte es an der Tür. 

Ich öffnete. Es war Sherman. Bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, sagte er: „Bevor du das machst, wovon ich denke, dass du es gleich machen wirst, musst du mir zuhören.“

Ich schloss meine Augen. „Sherman, das geht dich nichts an.“

„Doch“, sagte er und klang erschöpft. „Doch, das geht mich etwas an. Weil du mein Freund bist. Und weil sie meine Freundin ist. Hör mir verdammt noch mal einfach zu, okay?“

„Gott“, sagte ich.

Er ging eine Minute lang auf und ab, drehte sich dann zu mir um und sah mich an, als ob er etwas sagen wollte, dann drehte er sich wieder weg. 

„Oh, verdammt noch mal, spuck es aus.“

Er drehte sich zurück zu mir und deutete mit dem Finger auf mich. „Ich habe sie gewarnt.“

„Was?“

„Ich habe sie gestern gewarnt. Ich habe sie gewarnt, dass deine verdammte übertriebene Opfermentalität dich komplett durcheinander bringen und dazu führen wird, dass du dich von ihr trennst.“

„Was zur Hölle?“

Er schüttelte den Kopf. „Sag mir, dass du dir nicht den ganzen Rückweg eingeredet hast, dass du es tun musst und nicht versucht hast, dich darauf vorzubereiten. Sag mir, dass ich mich irre, Paris.“

Nun war ich derjenige, der wegschaute.

Er zeigte durch die Tür auf den Flur. „Sie wartet da draußen. Mit ihren Händen in ihrem Schoß. In aufrechter Haltung. Und versucht sich zusammen zu reißen. Versucht stark zu bleiben, obwohl sie weiß, dass du kurz davor bist ihr Herz in Millionen Stücke zu zerreißen. Zum Zweiten Mal. Wir beide kennen dich genauso gut, wie du dich selbst kennst, Arschloch. Und lass mich dir sagen, du rettest Sie damit vor gar nichts. Du wirst nur ihr Herz brechen und dein eigenes und alles zerstören, das gut ist in deinem Leben.“

Ich runzelte die Stirn und sagte: „Ich weiß nicht wovon du überhaupt redest, Sherman.“

„So ein Quatsch, natürlich weiß ich es. Ich war dabei, Paris. Ich war dabei, als Kowalski sich auf die Granate warf. Und ich war dabei, als Roberts starb. Und ich sage dir, du musst aufhören, dich mit dieser Scheiße zu malträtieren. Du hast keinen der Beiden getötet. Es war nicht deine Schuld, es war auch nicht meine. Es war nur die Schuld der verdammten Terroristen, die sie getötet haben.“

„Was hat das jetzt mit Alex zu tun?“

„Sag mir einfach, was du Alex sagen wolltest.“

„Warum. Warum kümmert es dich, in Gottes Namen?“

„Weil wir Brüder sind, Mann. Wir haben schreckliche Dinge erlebt, von denen niemand weiß. Wir haben schreckliche Dinge erlebt, die niemand wissen will. Und ich will nicht dabei zusehen müssen, wie du Dein Leben ruinierst. Und ich mag Alex und ihre Schwester und will auch nicht, dass du sie ruinierst.“

Ich schoss zurück. „Du verstehst das nicht, ich bin nicht gut für sie! Ich bin nicht besser als mein Vater war! Was wäre passiert, wenn ich sie geschlagen hätte? Anstatt der verdammten Wand? Was dann? Eines Tages wird es passieren! Eines Tages werde ich die Kontrolle verlieren und sie verletzen! Und ich würde lieber sterben! Bevor ich ihr das antue, bringe ich mich eher um, Sherman. Ich meine es ernst.“

Er schüttelte seinen Kopf. „Das ist eine verdammte Ausrede, Paris. Du bist du und nicht dein Vater.“

Die Tür ging auf. Und da stand sie. Weinend. Und ich konnte es nicht mehr ertragen. Denn sie weinte wegen mir. Sie weinte um mich. 

„Oh Gott Alex, es tut mir so leid. Ich kann das nicht machen.“

Sie sah mich an, die Tränen liefen über ihr Gesicht, und sagte: „Das musst du nicht.“

Ich drehte mich von ihnen weg, stützte meinen unverletzten Arm an die Wand und lehnte langsam, ganz langsam meinen Kopf dagegen. „Alex“, sagte ich, „Du bist… soviel besser als ich. Ich habe immer nur Ärger verursacht. Verstehst du denn nicht? Ich will nicht, dass du mit mir untergehst.“

Sie kam auf mich zu, berührte meinen Arm und schlang dann langsam ihre Arme um ihn. 

„Dylan“, flüsterte sie. „Du bringst das Beste in mir zum Vorschein. Das hast du schon immer getan.“

Ich flüsterte: „Aber ich habe alles ruiniert Alex. Wenn ich nicht so überreagiert hätte, so wie mein Vater immer überreagiert hat, wären wir niemals auf diese Patrouille geschickt worden. Und Roberts wäre nicht gestorben.“

„Scheiße“, sagte Sherman, und warf sich auf das Bett. „Vielleicht hast du Recht. Wenn wir an diesem Tag nicht rausgeschickt worden wären, wäre eine andere Patrouille rausgeschickt worden. Und weißt du was? Dann hätten sie stattdessen die Scheiße abgekriegt. Wenn es die zweite Einheit gewesen wäre, so wie es ursprünglich vorgesehen war, und sie wären getroffen worden, würdest du dann auch hier sitzen und dich schuldig fühlen? Du meine Güte, Dylan. Und was ist mit dem, was passiert ist, nachdem du weg warst. Weber war drei Wochen später dran. Er ging pinkeln und ein Heckenschütze traf ihn. Er starb mit heraushängendem Schwanz. Ist dass auch deine Schuld? So ist das im Krieg.“

Ich sah ihn an und fühlte mich so verloren, wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte das nicht gewusst. Oh Gott. Weber starb beim pinkeln?

Ich warf einen langen, vorsichtigen Blick auf Alex. Auf ihre Tränen und ihren Kummer. Und dachte dann daran, wie viel schlimmer für sie es werden würde, wenn ich sie in meine Welt hineinzog. Eine Welt, in der die Menschen beim pinkeln starben, eine Welt, in der betrunkene Ehemänner ihre Frauen halb totschlugen, eine Welt, in der ihr Freund wegen Körperverletzung oder sogar Mordversuchs vor Gericht gestellt wurde. 

Ich konnte ihr das nicht antun.

Ich schüttelte in plötzlicher Verzweiflung den Kopf und sagte, mit brechender Stimme, fast nur einem Flüstern: „Es tut mir leid Alex. Ich kann dir das nicht antun. Das Risiko ist zu groß. Es ist vorbei. Es tut mir so leid.“

Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, er versteifte sich nur ein wenig. Eventuell richtete sie sich ein wenig gerader auf. Aber ich konnte in ihren Augen sehen, dass ich ihr einen Schlag versetzt hatte, einen Schlag, den sie mir vermutlich niemals verzeihen würde. Sie blinzelte die Tränen aus ihren Augen, und sagte dann: „Mir auch Dylan. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr. Aber lass mich dir nur Eines sagen.“

Sie kam noch näher, als sie mir ohnehin schon war, bis unsere Gesichter nur noch ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren. 

Mit klarer, fester Stimme sagte sie: „Du hast nicht darüber zu entscheiden, welche Risiken ich eingehe. Du hast auch nicht darüber zu entscheiden, was gut für mich ist und was nicht. Das ist meine Entscheidung, Dylan. Wenn ich dir so wichtig bin, wie kannst du es dann wagen, das allein zu entscheiden. Ich entscheide mich dafür, die Gegenwart nicht aus Angst vor einer Zukunft zu zerstören, die vielleicht niemals eintritt.“

Dann drehte sie sich um und ging.

Sherman stand da, schaute mich an und murmelte einen Fluch. Er schüttelte seinen Kopf und sagte dann: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal zu dir sagen würde, Dylan. Aber du bist ein verdammter Idiot. Ich kann nicht hier bleiben und bei diese Katastrophe weiter zuschauen.“

Ich schaute ihn an und sagte dann mit kalter Stimme: „Ich habe dich nicht darum gebeten.“

Er seufzte, und ließ die Schultern hängen. Er sah besiegt aus, sein Gesicht und seine Augen waren auf den Boden gerichtet. Für eine Sekunde sah es so aus, als würde er noch etwas sagen, hielt dann aber inne. Dann drehte auch er sich um und ging.

Und von jetzt auf gleich war ich wieder allein.