Kapitel 5

Vergiss nicht zu atmen (Alex)

Der Wecker klingelte zu einer unchristlichen Uhrzeit. Wie das vor 6:00 Uhr morgens so ist. Ich war seit meiner Highschoolzeit nicht mehr so früh aufgestanden, und ich war vollkommen glücklich damit gewesen.

Kelly murmelte vom anderen Ende des Raumes „Oh mein Gott, was zur Hölle war das?“, und schnarchte dann weiter.

Im ersten Moment rollte ich mich auf die andere Seite und betätigte die Snooze-Taste. Ich schloss meine Augen und dachte, ich sollte einfach weiterschlafen. Ich driftete in einen Halbschlaf ab und begann zu träumen.

Es war der Sommer vor meinem Abschlussjahr an der High School und Dylan und ich hielten Händchen. Ich konnte die Schwielen vom Gitarrespielen auf seinen Fingerkuppen spüren. Wir spazierten zusammen etwa ein Viertel der Strecke auf der Golden Gate Bridge entlang, blieben die ganze Zeit dicht beieinander und schauten auf die Bucht hinunter. Er hatte große, verträumte Augen und wir unterhielten uns über unsere Träume für die Zukunft. 

Es war schwer, denn unsere Träume… unterschieden sich. Er wollte reisen und schreiben. Ich würde nach New York aufs College gehen. Er hatte die High School bereits abgeschlossen und plante das Land innerhalb der nächsten Monate zu verlassen. Ich würde noch ein weiteres Jahr in San Fransisco verbringen. Wir drehten uns zueinander, dort auf der Brücke, und wie der Wind uns sachte durch das Haar fuhr, küsste er mich zärtlich. 

Dylan.

Dylan.

Meine Augen öffneten sich abrupt. Es war 5:56 Uhr und ich würde zu spät kommen.

Ich hüpfte aus dem Bett und wäre fast flach auf dem Boden gelandet, fing mich aber im letzten Moment. Mein Herz raste, ich öffnete die oberste Schublade und zog Klamotten heraus, auf der Suche etwas Passendes zum Anziehen zu finden.

„Was machst du da?“, fragte Kelly mit noch ganz schläfriger Stimme.

„Ich bin spät dran für das Lauftraining mit Dylan.“

„Oh. Ich glaube ich träume. Das klang so, wie wenn du laufen gehen würdest. Wir reden später weiter.“

Ihre Worte verstummten zu einem Murmeln und ich fand endlich ein paar Shorts, einen Sport-BH und ein Neckholder-Top. Wo zur Hölle waren meine Sneakers? Ich suchte und fand sie schließlich indem ich über sie stolperte und mir den Kopf anschlug. Oh Gott, ich war so ein Tollpatsch.

Um 6:05 Uhr schickte ich Dylan eine SMS: Bin spät dran, bin bald da.

Dann rannte ich zur Tür hinaus. Ich hoffte, dass er die Nachricht erhalten würde. Ich hoffte, dass er auf mich warten würde. Ich hoffte, dass er mich nicht hassen würde. Oh Gott, warum tat ich mir das eigentlich an?

Es war Zehn nach Sechs, als ich endlich über die 114. Straße rannte an der Butler Library vorbei aufs Campusfeld. Um diese Zeit war der Campus geradezu verlassen, nur ein paar Frühaufsteher liefen schon in der Dunkelheit.

Mir stockte der Atem als ich ihn sah.

Dylan trug graue Baumwollshorts und ein T-Shirt auf das in großen schwarzen Buchstaben das Wort ARMY gedruckt war, er war gerade dabei Liegestützen zu machen, als ich ihn erblickte. Seine breiten Schultern und sein Bizeps zeigten deutlich, dass er diese Form Training gewohnt war. Die Muskeln in seinem Nacken und seinen Schultern waren angespannt und traten hervor während er seinen Körper auf und ab bewegte. 

„Ich bin gleich fertig“, sagte er zu mir. Er war kaum außer Atem.

In dem Moment realisierte ich, dass ich einfach nur dastand und ihn anstarrte. Wie lange schon? Ich hatte keine Ahnung. Eine ganze Weile. War ich etwa am hecheln?

Lass das, dachte ich. Schlecht, Alex.

Ich schaute zur Seite, denn das war das Einzige was ich tun konnte, und blickte dann wieder zurück zu ihm. Nachdem ich die Augen von seinen Armen abgewandt hatte, konnte ich sehen, welchen Schaden die Bombe an seinem Bein angerichtet hatte. Dicke, schlimm aussehende Narben überzogen seine komplette Wade. Ein weiterer übel aussehender Striemen, zusammengenäht und verheilt wie ein Reißverschluss, zog sich von unterhalb seines Knies hoch bis unter seine Shorts. Weitere zerklüftete Narben überzogen sein ganzes rechtes Bein. Das rechte Bein war sichtbar dünner als das Linke: das Linke war wohlgeformt, mit kräftigen Wadenmuskeln.

„Ich habe deine Nachricht erhalten“, sagte er, nachdem er endlich mit den Liegestützen fertig war. Er schwenkte seinen Hintern, zog ein Bein an und streckte das Andere. Er lehnte sich vor, streckte die Arme aus und griff an seinen linken Fuß. „Sorry, dass ich nicht geantwortet habe. Ich wärme mich schon mal auf. Das letzte was ich brauchen kann, ist losrennen und einfrieren.“

Ich würde dich nach Hause tragen, wenn das passieren würde. Direkt in mein Zimmer.

Oh, um Gottes Willen, dachte ich, reiß dich zusammen. Er ist dein Exfreund. Das Arschloch, das dich hat leiden lassen, im Unklaren darüber gelassen hatte, ob er noch lebt oder nicht. Der Typ der dir das Herz gebrochen hat, ohne Vorwarnung, ohne eine Erklärung.

„Ist okay“, sagte ich. 

Ich war nicht gerade sportlich, nicht mehr als er es gewesen war, bevor er zur Army gegangen war, aber ich verstand die Notwendigkeit sich aufzuwärmen. Ich setzte mich ihm gegenüber und versuchte seine Bewegungen zu imitieren, mich zu strecken so weit ich konnte, meinen linken Fuß festhaltend, dann den rechten.

„Also, ähm… Ich mache das nicht häufig. Oder besser, ich mache das nie.“

„Was?“, fragte er.

„Laufen gehen“, sagte ich. 

„Es könnte sein, dass es dir gefällt. Früher lief ich manchmal mit dem Boxteam in unserem Bataillon… sie liefen bis zu 33 Kilometer jeden Morgen.“

Ich starrte ihn fassungslos an. Dann sah ich das Päckchen Zigaretten in seinem linken Ärmel. 

„Du hast das gemacht und geraucht?“

„Ja, nun ja, jeder hat sein Laster, denke ich.“

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich streckte meine Füße direkt vor mich, ihm gegenüber und reckte mich so weit nach vorne, wie ich konnte. 

Ich hörte praktisch, wie er aufhörte zu atmen und setzte mich schnell wieder auf. Er wandte seine Augen ab und ich kapierte, heilige Scheiße, dass Dylan in meinen Ausschnitt geschaut hatte. 

Ich fühlte wie mir die Hitze ins Gesicht stieg, also schaute ich weg und stand auf. 

„Ich denke, ich bin jetzt aufgewärmt“, sagte ich.

Er kicherte und sagte dann: „Ähm… Es tut mir leid. Das war… völlig unangebracht. Und… unbeabsichtigt. Und… ich halte jetzt besser meine Klappe, solange es noch geht.“

„Du bist ein Arsch, Dylan.“

Er nickte, offen, mit nur einem Hauch eines Lächelns um seine linke Mundhälfte. „Das stimmt.“

Okay, er dachte, das wäre lustig. Er war wirklich ein Arsch. Ich runzelte die Stirn und sagte: „Das ist nicht lustig. Ich gehe wieder nach Hause.“

Das amüsierte Lächeln verschwand sofort. „Warte… bitte geh nicht.“

Er sah so verletzt aus, ich blieb wie angewurzelt stehen, und er sagte: „Es tut mir leid. Manchmal vergesse ich es einfach. Ich kenne die Regeln und all das, aber du bist immer noch die...“

Er verstummte und drehte sich um. „Tut mir leid, das war eine schlechte Idee.“

Ich wollte wissen, was er sagen wollte, bevor er verstummt war. Aber irgendwie fühlte ich, dass die Antwort gegen die Regeln verstoßen würde und verdammt, ich verspürte den Drang zu weinen. Und hatte ich das in letzter Zeit nicht schon viel zu oft getan?

Ich schloss die Augen und sagte dann: „Dylan. Du hast Recht. Ich bin zu sensibel. Und um fair zu sein… vielleicht habe ich auch einen Blick zuviel auf dich geworden. Lass uns loslaufen.“

Er drehte sich zu mir zurück, holte tief Luft und nickte dann, immer darauf bedacht dem auszuweichen, was ich gesagt hatte. 

Er begann langsam zu laufen, so dass ich in der Lage war, mit ihm mitzuhalten. Aber ich werde nicht lügen. Meine Beine waren es nicht gewohnt zu rennen und ich kann mir nicht vorstellen, von welchem Planeten er kam, wenn er Gefallen daran gefunden hatte, regelmäßig mehr als 30 Kilometer zu laufen. Die Army hatte ihm bestimmt Drogen gegeben, da war ich mir sicher.

„Also, ähm, wie weit laufen wir?“, fragte ich. 

„Nicht weit“, antwortete er. „Ich war nicht mehr laufen seit… na ja, davor. Ich will es nicht übertreiben.“

„Läufst du immer so früh am Morgen?“

„Ja“, sagte er. „Das ist… eine lange Angewohnheit, wirklich. Und, es ist noch nicht so schwül. Du würdest in der Mittagshitze nirgendwohin laufen wollen. Verstehst du was ich meine?“

Das war ein Argument.

Und dann, nach ein paar Minuten bemerkte ich noch etwas anderes. Obwohl ich schwer atmete und meine Beine zu schmerzen begannen, gefiel es mir. Vielleicht sogar zu gut.

Ich konnte sehen, dass Dylan jetzt wirklich versuchte richtig zu rennen. Er trabte dahin, jedes Mal, wenn sein rechtes Bein Kontakt zum Boden hatte, taumelte er etwas nach rechts. Seine Lippen hatten sich zu einer grimmigen Linie geformt, den Blick starr geradeaus.

„Geht es dir gut?“, fragte ich.

Er nickte. „Ja, ich darf nur nicht vergessen zu atmen. Zwei weitere Blöcke und ich denke dann gehen wir langsam zurück?“

„Okay“, sagte ich, inzwischen total atemlos. 

„Bei dir auch alles okay?“, fragte er.

„Ja, ich bin nur nicht daran gewöhnt.“

„Wir können langsamer machen“, sagte er.

„Nein, lauf weiter.“

Wir rannten zwei weitere schmerzvoll lange Blocks und wurden dann langsamer, bis wir bequem gingen. 

„Du solltest in einem angemessenen Tempo weiter laufen“, sagte er. „Halte nicht abrupt an. Das hilft dem Herz zu einer normalen Frequenz zurück zu kehren.“

„Okay“, sagte ich und fühlte mich schlecht, weil ich Probleme hatte mit jemanden mitzuhalten, der vor nur ein paar Monaten fast sein Bein verloren hatte. Und wie ich ihn so anschaute, sein T-Shirt eng um seine Brust und Arme anliegend, dachte ich, es würde viel mehr brauchen um meine Herzfrequenz zu verlangsamen, als einen kurzen Spaziergang. 

„Du bist ziemlich rot“, sagte er und schaute mich genauer an.

Oh Gott. Ich fühlte wie noch mehr Hitze in meine ohnehin schon heißen Wangen aufstieg. Und ich kapierte plötzlich. Dylan Paris flirtete mit mir. Ich schoss sofort zurück. „Tja nun, hinter Männern her rennen führt bei mir dazu.“

Seine Augen weiteten sich ein wenig, und dann grinste er mich an.

Ich wurde noch röter, wie auch immer das möglich war. 

Ein paar Sekunden später zeigte er auf etwas. Wir näherten uns Tom’s Restaurant, einem Imbiss direkt neben dem Campus.

„Sollen wir hier frühstücken?“, sagte er. „Das geht auf mich. Das ist das Mindeste, was ich dafür tun kann, dass du mir Gesellschaft leistest.“

Wollte ich wirklich, dass Dylan mich zum Frühstück einlud? Wo führte das hin? Normalerweise würden alle meine Warnsirenen losgehen, aber weshalb auch immer, ich stimmte ohne Widerworte zu. 

„Sicher, danke.“

Zwei Minuten später saßen wir an einem Tisch in dem grellbunt im Fünfzigerjahrestil dekorierten Imbiss. Mit grell roten Stühlen, Edelstahl Einrichtung und schwarzen und weißen Quadraten überall, taten einem die Augen weh. Aber es war auch angenehm. Nicht der Imbiss. Was angenehm war, war mit Dylan zusammen zu sein.

Eine müde Kellnerin, die aussah, als hätte sie die ganze Nacht durchgearbeitet, kam zu uns rüber und nahm die Bestellung auf. Ich: ein Rührei, Weizentoast mit Tomatenscheiben und ein Glas Orangensaft. Dylan bestellte ein Schinken-Käse Omelette, Pfannekuchen, Speck, Gebäck mit Bratensoße, Kaffee und Rösti. Ich wusste nicht, wie wir das alles auf dem Tisch unterkriegen sollten.

Ich konnte mir nicht helfen.

„Isst du so viel?“, fragte ich.

Er kicherte. „Dein Appetit steigt beträchtlich, wenn du in der Army bist. Ich kann echt ne Menge wegessen heutzutage.“

Während wir auf den Zugwagon warteten, der sein Frühstück bringen würde, fragte ich ihn: „Also, ähm… Ich weiß, dass ist komisch, aber außer der Arbeit für Forrester weiß ich nicht wirklich, was du so treibst.“

Er lehnte sich zurück und schaute mir in die Augen, ein seltsames Lächeln auf seinem Gesicht. „Das ist eine ziemlich weitreichende Frage“, antwortet er.

Oh, wow. Das war genau das, was ich ihm im Flugzeug vor so langer Zeit geantwortet hatte. „Du erinnerst dich daran?“

„Ich würde das ja beantworten, aber es würde die Regeln brechen.“

„Sehr witzig“, sagte ich und rümpfte meine Nase in seine Richtung.

Er grinste und sagte: „ Okay, also gut. Du zuerst.“

„Was?“

„Ich werde nicht sagen, ob ich mich erinnere. Aber du darfst zuerst fragen.“

Ich lachte und schüttelte meinen Kopf. „In Ordnung. Ich denke ich bin selbst Schuld. Warum hast du ausgerechnet die Columbia Uni ausgewählt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Glaub es oder nicht, Columbia wirbt wirklich aktiv um Veteranen. Einer der Anwerber fand mich in meinem Krankenzimmer im Walter Reed letzten März. Der Rest ist Geschichte.“

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, ein Arm lag auf der Lehne des leeren Stuhls neben ihm. Ich lehnte mich auch zurück, streckte meine Beine unter dem Tisch aus und legte sie dann auf den leeren Stuhl.

„Du bist dran“, sagte ich. 

„Also, letzten Winter hast du versucht dich zu entscheiden worüber du deine Abschlussarbeit schreiben willst. Für was hast du dich letztendlich entschieden?“

Ich holte tief Luft und schaute dann zu ihm auf. „Ich kann nicht glauben, dass du dich daran erinnerst. Ich meine… Du warst mitten in einem Krieg, wurdest beschossen, bombardiert und kamst ins Krankenhaus, und du erinnerst dich daran dass ich mich mit meiner Abschlussarbeit herumgequält habe?“

Mit einem schrägem Lächeln antwortete er: „Ich bin derjenige, der gerade die Frage stellt.“

Ich verdrehte die Augen. „Okay. Am Ende entschied ich mich für das Thema ‚Rechtliche Verteidigung gegen Vergewaltigung in den Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert’.“

„Wow“, sagte er. „Das ist fantastisch. Das würde ich gerne mal lesen. Ich würde vermutlich bei den rechtlichen Dingen kein Wort verstehen, aber es interessiert mich trotzdem.“

„Mach dich nicht schlechter als du bist, Dylan. Du kommst vielleicht aus anderen Verhältnissen als ich, aber du bist ein schlauer Kerl.“

„Nicht mehr“, sagte er, zog eine Grimasse und tippte sich an die Stirn.

Ich zog ebenfalls eine Grimasse und wünschte mir bedauernd, dass er sich nicht immer selbst schlecht machte. „Bin ich dran?“

Er nickte. 

Ich dachte nach. Es gab so vieles, das ich wissen wollte. Und einiges davon war gefährlich nah bei den Themen, die wir vermieden. Zu vieles würde die Regeln brechen, zu vieles würde nur zu Herzschmerz führen. Schlussendlich sagte ich: „Was war das Beste, dass du in Afghanistan gesehen hast? Ich weiß es war Horror und Krieg. Aber gab es Momente der… ich weiß nicht… Gnade?“

Er schluckte, und nickte einmal. Ich war erstaunt zu sehen, wie seine Augen feucht wurden.

„Es tut mir leid, ich wollte nicht – „

Er hob die Hand um mich zu stoppen. „Es ist okay.“ Er holte tief Luft und sagte dann: „Okay, wir waren da draußen in der Provinz. Und ich meine… so richtig weit draußen. Ein kleines Dorf am Ende der Welt, das Dega Payan hieß. Es ist ziemlich weit oben im Gebirge und bis vor ein paar Jahren gab es noch nicht mal eine Straße, um es mit der Außenwelt zu verbinden. Man brauchte um die fünf Stunden um irgendwohin zu kommen.“

„Also, eines Tages waren wir dort. Wir halfen Essen zu verteilen, es gibt dort UN-Helfer und wir versuchten einen guten Eindruck zu hinterlassen. Und da war dieses kleine Mädchen, es stand da und schaute uns zu. Ich denke sie war … vielleicht etwa zwölf? Ich konnte sie mir gut in der Mittelstufe vorstellen, wenn man ihr erlaubt hätte eine Schule zu besuchen, was vermutlich nicht der Fall war. Egal, auf jeden Fall lächelte sie und machte Witze. Kowalski… er kam aus Nevada. Also stell dir vor, was dort einfach so geschah. Kowalski schenkte der Kleinen einen Schokoriegel und sie umarmte ihn. Und dann drehte er sich um, um zu uns zurück zu kommen und wir hörten ein Klickgeräusch. Jeder bricht in Panik aus und ich schaute nach unten und sah eine Granate. Jemand aus der Menge hatte sie geworfen und sie landete genau vor den Füßen des Mädchens.“

Oh mein Gott. Ich konnte nur denken, das war ein Moment der Gnade? Die gute Sache, die ihm passiert ist?

Seine Augen waren nun wirklich rot und sein Gesicht verzog sich ein wenig als er sagte: „Also, egal, Kowalski… er warf sich auf die Granate. Er umschloss sie, sein Rücken dem Mädchen zugewandt. Und sie ging los, und … er wurde einfach… zerfetzt. Er war sofort tot. Und weißt du was… das kleine Mädchen… ihr passierte nichts. Sie verlor nicht einen Tropfen Blut. Er sah das kleine Mädchen und… warf einfach sein Leben weg um sie zu retten.“

Ich schüttelte meinen Kopf, und obwohl er nicht weinen konnte, begann ich damit. Ich konnte einfach nicht anders. Denn während er mir diese Geschichte erzählte war es, als ob ich in seine Seele schauen konnte, und oh Gott, das tat weh. 

„Das tut mir so leid“, sagte ich. „Es tut mir leid, dass ich gefragt habe. Es tut mir leid, dass das passiert ist.“

„Nein“, sagte er und schüttelte Kopf. „Es muss dir nicht leid tun. Verstehst du denn nicht? Kannst du die… Heldentat nicht sehen? Das ist die wahre Bedeutung von Gnade. Er hat nicht mal eine Sekunde an sich selbst gedacht. Er dachte nur an das kleine Mädchen und daran ihr das Leben zu retten.“

Ich schniefte. „Okay, neue Regel. Wenn ich dabei bin dich etwas zu fragen, dass mich zum Weinen bringen wird, wenn ich die Antwort höre, ähm, kannst du dann bitte ein Veto einlegen?“

Er lächelte sanft und sagte: „Wenn du möchtest.“

„Du bist dran.“

Die Kellnerin kam und brachte unser Essen. Und … meine Herren. Ich hatte echt unterschätzt wie viel er bestellt hatte. Sie musste zwei Tabletts bringen. Ernsthaft. Er versuchte die Anordnung auf den Tabletts ein wenig umzuarrangieren und belegte letztendlich dreiviertel des Tisches. Er zog die Pfannkuchen zu sich hin, übergoss sie mit zehntausend Kalorien aus Sirup und Butter und begann zu essen.

Nachdem er geschluckt hatte, sagte er: „Okay. Was machst du am Liebsten, jetzt wo du hier in New York bist?“

Ich biss ein kleines Stück von meinem Toast ab und dachte nach. Dann runzelte ich die Stirn. Was mochte ich am Liebsten? Klar gab es Dinge die ich mochte. Ausgehen mit Kelly. Die Butler Library besuchen. Picknick im Riverside Park. Was sonst? Es war ja nicht so, dass ich das erste Jahr am College nicht genossen hätte. Es war nur so… dass nichts so Besonders war, dass ich es als meine liebste Beschäftigung bezeichnen würde. Außer einer Sache. Und das war zusammen mit Dylan in Dr. Forresters Büro zu sitzen. 

Ich runzelte die Stirn und sagte dann: „Ich kann das nicht beantworten.“

Seine Augen weiteten sich und er grinste. „Du verarschst mich. Das betrifft die Regeln nicht.“

„Vergiss die Regeln“, sagte ich. „Die einzige Antwort, die ich dir geben kann, wäre eine Lüge.“

„Warum?“

„Such dir eine andere Frage aus, Soldatenjunge.“

„Ich werde so oder so eine Antwort darauf erhalten. Du kannst mir nicht erzählen, dass du seit einem Jahr in New York bist und immer noch nicht weißt, was du hier am liebsten machst.“

„Ich kann dir erzählen was ich will.“

„Du hast die Regeln in diesem Spiel festgelegt, Alex. Lügen sind nicht gestattet.“

„Aber es steht nirgendwo, dass ich antworten muss.“

Er schüttelte den Kopf und lachte dann: „Ich werde nicht locker lassen bis ich die Antwort erfahre.“

„Warum?“

„Weil du in all der Zeit, die ich dich kenne, niemals die Regeln mitten in einem Spiel geändert hast. Das ist einfach… umwerfend.“

Ich wollte ihn anknurren. Stattdessen aß ich einen Bissen von meinem Ei und sagte dann: „Wenn ich antworte, musst du mir versprechen zu vergessen, was ich gesagt habe.“

Er genoss das ganze sichtlich. Gott.

„In Ordnung“, sagte er. „Mein Kurzzeitgedächtnis ist eh nicht das Beste.“

Ich unterdrückte ein Lachen und sagte: „Okay. Also die Wahrheit ist, das Beste ist die Zeit die wir zusammen in Dr. Forresters Büro arbeiten. Das ist die Antwort.“

Er blinzelte, sein Lächeln verschwand für eine Sekunde. Ich konnte nicht sagen, was sein Gesichtsausdruck bedeutete, denn wenn ich ein Foto davon gesehen hätte, hätte ich auf schreckliche Angst getippt. Aber es war nur ein kurzer Moment und dann sagte er: „Ich erinnere mich an keine Frage und an keine Antwort, also habe ich noch eine Frage offen, richtig?“

„Dylan! Das ist unfair!“

Jetzt grinste er wirklich.

„Also gut“, sagte ich und versuchte nicht laut loszulachen. Er sah so glücklich aus. 

„Okay“, sagte er. „Jetzt wird es langsam was.“

Ich kicherte. Ich konnte nicht anders.

„Mal sehen… ich denke Kelly ist immer noch deine Zimmergenossin. Erzähl mir über das letzte Mal, als ihr zusammen ausgegangen seid. Was habt ihr gemacht?“

Ach du meine Güte. Er hatte echt ein Talent dafür die richtigen Fragen zu stellen, oder? Aber ich erzählte ihm die Geschichte trotzdem. Von unserer Nacht in der Bar und wie Randy meinen Arm ergriffen hatte und wie sie ihm das Pfefferspray ins Gesicht gesprüht hatte. Ich ließ nur unsere Diskussion über Dylan aus und die Hintergrundgeschichte über Randy und mich, auch die Tatsache, dass ich ihn seit der Mittelstufe kannte und ganz besonders die Tatsache, dass er versucht hatte mich zu vergewaltigen. 

„Okay, warte mal ne Minute, ich verstehe dass nicht ganz. Ich verstehe ja, dass der Typ zu aufdringlich war, aber warum hat sie gleich Pfefferspray benutzt?“

Auf einmal blinzelte ich wieder um die Tränen zu unterdrücken. 

„Oh Scheiße“, sagte er. „Es tut mir leid. Was auch immer es ist, du musst nicht darüber reden, wenn du nicht möchtest.“

Ich biss mir auf die Unterlippe und flüsterte dann: „Er hat letztes Frühjahr versucht mich zu vergewaltigen.“

Dylans komplettes Auftreten änderte sich im Bruchteil einer Sekunde. Erst entspannt und spaßig, dann beunruhigt, aber als das Wort „vergewaltigen“ aus meinem Mund kam, setzte er sich sofort gerade in seinem Stuhl auf. Sein Gesicht war kalt, mit soviel Zorn in den Augen, wie ich es noch niemals zuvor gesehen hatte. Er zitterte.

„Wie war sein Name noch mal?“, fragte er mit leiser Stimme. 

„Es tut nichts zur Sache“, sagte ich. 

„Doch das tut es.“

„Warum?“

„Weil, sollte ich ihn jemals treffen, werde ich dafür sorgen, dass er ins Krankenhaus muss. Und zwar für eine lange Zeit.“

Er meinte es ernst. Wirklich ernst. Ich hatte keine Zweifel, wenn Randy jetzt vor uns stünde, würde er tatsächlich in einem Krankenhaus landen. Aber Dylan… er würde im Gefängnis landen.

„Du hast dich wirklich sehr verändert“, flüsterte ich. 

„Was?“, fragte er.

„Ich kannte dich… in vielerlei Hinsicht. Aber ich habe niemals gedacht, dass du gefährlich sein könntest. Außer für mich.“

Er blinzelte. „Alex. Hör mir zu… egal was in der Vergangenheit passiert ist, es ändert nichts an meinen Gefühlen für dich. Was ich schon immer für dich empfunden habe. Ich würde alles tun um…“

Er stoppte. Hatte er wieder ein Wort vergessen? Oder hielt er mich hin? Oder war da noch etwas anderes? Und er hatte nicht mal ein Wort dazu verloren, dass ich ihm gesagt hatte, er wäre gefährlich für mich. Denn das wusste er schließlich, oder? Wir waren gefährlich füreinander. Es war nicht wirklich eine große Überraschung, dass ich das sagte, oder? Ich drehte mich wieder zu ihm um. 

„Du würdest alles tun, um?“

Er knurrte fast vor Frust. „Um… in der Zeit zurück zu gehen… zurück zu gehen und zu verhindern, dass dir das passiert. Um dich zu beschützen.“

Wollte er sagen, um in der Zeit zurück zu gehen und die Dinge zu ändern? Zurück zu gehen und in der einen Nacht nicht einfach aufzulegen? Nicht einfach zu verschwinden, wie er es getan hatte?

„Hör mir zu Dylan. Was ich zu sagen habe ist wichtig.“

Er starrte mich immer noch an, seine Augen waren unheimlich gefühlstief. Er nickte, „Okay“.

„Vergiss es. Es ist vorbei. Okay? Wir brauchen das nicht. Wir brauchen… das hier… auch nicht. Iß dein Frühstück. Okay? Es ist Zeit für einen Themenwechsel.“

Er schaute mich an, ruhig, sein Blick kühl. Nachdenklich. Ich fühlte einen Schweißtropfen in meinem Haar und holte tief Luft.

„In Ordnung“, sagte er. Seine Stimme hatte wieder dieses leise Knurren, dass mich verrückt machte. „Du bist dran.“

„Ich bin dran mit was?“

„Dein Spiel.“

Ich schloss die Augen. Das war vor vier Jahren lustig gewesen. Jetzt war es… beängstigend. Es wurde Zeit uns etwas Fröhlicherem zuzuwenden.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiterspielen will.“

Er sackte förmlich in seinem Stuhl zusammen, kein intensiver Blick mehr, kein Starren. Er schloss die Augen, holte tief Luft und sagte dann: „Es tut mir Leid. Mein Gott. Es tut mir leid, Alex. Ich habe ein paar… sagen wir einfach, Probleme mit Zornausbrüchen.“

„Das habe ich gemerkt“, sagte ich, und versuchte verzweifelt zur fröhlichen Stimmung von vorhin zurück zu kehren.

„Also stell mir eine Frage“, sagte er, „aber versuch eine auszuwählen, die nicht so eine heftige Reaktion auslöst, und ich werde das Gleiche versuchen.“

Ich schüttelte den Kopf und sagte dann: „In Ordnung. Was ist deine schönste Erinnerung überhaupt?“

Er lächelte bitter. „Das kann ich nicht beantworten. Es wäre gegen die Regeln.“

„Oh, vergiss die Regeln. Sag es mir.“

Er holte schaudernd tief Luft. „Meine liebste Erinnerung ist, wie ich dich an unserem letzten Abend in der Jugendherberge in Tel Aviv in den Armen gehalten habe und wir zusammen eingeschlafen sind. Es war… bittersüß, aber gleichzeitig auch wundervoll. Ich habe diese Nacht nicht wirklich geschlafen. Ich habe dich angeschaut. Die ganze Nacht lang, und dann erneut, die ganze Zeit im Flugzeug auf dem Rückweg. Wir hatten nur noch ein paar Stunden zusammen und ich wollte keine Sekunde davon vergeuden, indem ich schlief. Ich war insgesamt etwa achtundvierzig Stunden wach und schlief auf dem Flug von New York nach Atlanta sofort ein. 

Ich lächelte ihn schüchtern an. „Meine liebste Erinnerung ist, wie wir uns zum ersten Mal geküsst haben.“

„In der Nähe des toten Meeres“, antwortete er. 

„Es war dunkel und der Wind wehte“, sagte ich, „und es war kühl und wir waren allein.“

„Du sagtest: ‚Das könnte kompliziert werden.’“

Ich lachte plötzlich laut auf und versuchte gleichzeitig die Tränen zurückzuhalten. Ich erinnerte mich, dass ich das gesagt hatte. Ich hatte niemals so Recht gehabt in meinem Leben. „Und es wurde kompliziert.“

„Ja“, sagte er. „Das wurde es.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht ob es daran lag, dass wir nicht loslassen konnten, oder dass wir zu sehr losgelassen haben.“

Ich schüttelte meinen Kopf. „Ich weiß es auch nicht.“

Er schaute auf den Tisch und antwortete nicht. 

Schließlich sagte ich fast flüsternd: „Dylan… denkst du manchmal…“ Ich konnte die Frage nicht zu Ende stellen.

Er sah weiterhin den Tisch an, und antwortete dann so leise, dass ich ihn fast nicht hören konnte. „Immerzu“, sagte er.

Ich schluckte. „Wir sollten gehen.“

„Ja“, antwortete er.



Renn schnell weg (Dylan)


Okay, ich bin der Erste, der zugeben muss, dass wir eine Grenze überschritten hatten, und ich wusste nicht, wie wir zurückkehren sollten. Wir hatten beide mehr oder weniger zugegeben, dass wir uns immer noch liebten. Wir waren beide so durcheinander, dass ich fast nicht wusste, was ich denken oder sagen sollte. 

Ich ging wie im Nebel zu den Vorlesungen. Dienstags hatte ich Algebra um 9:00 Uhr. Um ehrlich zu sein, hatte ich jetzt schon Probleme dabei. Es machte mich verrückt, denn dass sollte eigentlich eine einfache Eins sein. Ich hatte schließlich in der High School Mathe als Leistungsfach gehabt. Das hier war praktisch unteres Oberstufenniveau für mich und an der High School war ich echt gut in Mathe gewesen. Jetzt starrte ich manchmal auf die Aufgaben und fühlte, wie sich der Kopfschmerz hinter meiner Stirn ausbreitete und die Formeln vor meinen Augen zu verschwimmen begannen. Buchstaben und Zahlen wirbelten um mich herum, wie in einem verdammten Whirlpool. 

Nach drei Wochen war ich bereits dabei in diesem Kurs durchzufallen. Und das Problem war, die Army zahlte für mich, also durfte ich nicht durchfallen. Also gab ich auf und ging am Ende der Vorlesung von meinem Tisch in der ersten Reihe zu Professor Wheelers Pult und sagte: „Professor Wheeler, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?“

Er sah von seinen Papieren auf und sagte: „Meine Sprechstunde ist donnerstags um 10:00 Uhr.“

„Dies wird höchstens ein paar Minuten dauern, Sir.“

Er runzelte die Stirn, tiefe Falten bildeten sich in seinem Gesicht unterhalb seines Bartes und er sagte: „Was kann ich für Sie tun, Mr. Paris?“

Ich holte tief Luft und sagte: „Ich bin am durchfallen.“

Er nickte. „Das sind Sie.“

„Hören Sie… Ich frage mich… werden irgendwo an der Uni Nachhilfestunden angeboten, die Sie mir empfehlen könnten?“

„Mr. Paris, vielleicht ist Algebra einfach zu hoch für Sie. Haben Sie mal überlegt den Kurs ‚Mathe für Geisteswissenschaftler’ oder etwas Vergleichbares zu belegen?“

Für den Bruchteil einer Sekunde wollte ich ihm eine reinhauen, ihm das selbstgefällige Lachen aus dem Gesicht wischen. Er hatte keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen Soldaten gemacht, seitdem ich in dem Kurs war. Ich holte tief Luft, zählte bis Zehn und erklärte ihm dann alles. Dass Mathe an der High School eines meiner besten Fächer gewesen war. Die Bombe und was sie angerichtet hatte, dass sie mein Gehirn durcheinander gewirbelt hatte, und ich manche Dinge einfach vergaß.

„Sir… Ich weiß Sie mögen mich nicht. Aber… ich bitte Sie um Hilfe. Ich versuche alles zu tun, um mein Leben wieder in den Griff zu kriegen. Ich brauche diesen Schein. Verstehen Sie das?“

Er zupfte mit seinem Daumen und Zeigefinger an seinem Bart und starrte mich an. Endlich sagte er: „Ich kann Ihnen die Kontaktdaten von ein paar Nachhilfelehrern geben.“

Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er schrieb mir die Kontaktdaten auf und gab mir den Zettel. 

„Ich erwarte, dass Sie Leistung bringen, verstehen Sie?“, sagte er. „Nur weil Sie ein Soldat gewesen sind heißt das nicht, dass Sie in irgendeiner Weise von mir bevorzugt werden, Paris. Wenn Sie in meinem Kurs bleiben wollen, dann müssen Sie sich Ihre Note verdienen. Ist das klar?“

Ich nickte: „Mehr möchte ich auch gar nicht.“

Von dort ging ich zu meinem Kurs in „Alte westliche Zivilisationen“, der mir wesentlich leichter fiel. An diesem Abend schickte ich noch E-Mails an die Nachhilfelehrer, die er mir vorgeschlagen hatte. 

In dieser Nacht konnte ich kaum schlafen. Und ich sollte mich klar ausdrücken: Ich habe niemals Probleme zu schlafen. Die Army hatte mir beigebracht bei jeder Gelegenheit, die sich mir bot, zu schlafen. Es gab eine Fünfzehnminütige Fahrt auf der Laderampe eines Zweitonnen-LKWs auf einer sandigen Straße am Ende der Welt? Schlafenszeit. In den letzten zwei Jahren war ich in der Lage gewesen ohne Vorbereitung, weitere Gedanken oder Vorwarnung, meine Augen zu schließen und zu schlafen. Aber in der Nacht, nachdem ich mit Alex laufen gewesen war kreisten meine Gedanken um die Dinge, die ich ihr gesagt hatte – die Dinge, die sie mir gesagt hatte.

Sie musste es mir nicht extra sagen um es zu verstehen. Wenn ich nicht so ein Arschloch gewesen wäre und meinen Skype- und Facebookaccount nicht gelöscht und stattdessen ihre Mails beantwortet hätte, wäre sie letztes Frühjahr nicht mit jemand anderem ausgegangen. Und der Typ hätte nicht versucht sie zu vergewaltigen.

Es war meine Schuld. Ich hatte sie ohne Schutz zurückgelassen. Ich hatte die Frau, die ich mehr liebte als das Leben, in Gefahr gebracht. 

Das würde nicht noch einmal passieren. Es war zu spät für Alex und mich als Paar, aber ich würde verdammt noch mal solange ihr Freund sein, wie sie es mir erlaubte.

Ich würde alles sein, was sie wollte.

Aber mein Verstand war ein Verräter und er wandte sich noch weiteren Dingen zu. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass wir uns getrennt hatten, bei weitem nicht. Tatsache ist, nachdem wir aus Israel nach Hause kamen, sagten wir beide es wäre vorbei. Was wir gehabt hatten war wunderschön, magisch… und vorübergehend. Sie würde zu ihrem Mike in San Francisco zurückkehren und ich zu Hailey in Atlanta. 

Ich machte mit Hailey vier Tage nach meiner Rückkehr nach Atlanta Schluss. Und sie tat das Gleiche mit Mike. 

Keiner von uns sagte wirklich etwas. Es passierte einfach. Wir waren nicht zusammen, nicht treu, wir waren gar nichts. Deshalb fand ich mich auch an Silvester im Bett mit Cindy Harris wieder, was eine Menge Spaß gewesen war aber… auch traurig. Ich konnte nicht aufhören an Alex zu denken und wie sehr ich mir wünschte es wäre sie statt Cindy. Das machte mich… unglaublich traurig. Und Cindy merkte das. 

Irgendwann drehte sie sich von mir weg und sagte dann: „Wie heißt sie?“

„Wer?“, fragte ich. 

„Das Mädchen, das du liebst.“

Und so wurde aus einer heißen Nacht, eine Nacht in der ich zusammenbrach und weinte und ihr erzählte, wie sehr ich Alex vermisste. Cindy war sehr gelassen. Sie umarmte mich und sagte genau die richtigen Dinge, und wir trennten uns als Freunde.

Danach ging ich für eine Weile mit niemand mehr aus. Alex und ich telefonierten fast jeden Tag miteinander. Wir schrieben uns E-Mails, sandten uns ständig SMS und stupsten uns gegenseitig auf Facebook an. Wir waren etwa sechseinhalbtausend Kilometer voneinander entfernt und ich stellte ihr auf Facebook nach, schaute mir alle Fotos an, die sie postete, versuchte jedes Mal wenn sich ihr Status änderte festzustellen, was das bedeutete.

Ehrlich gesagt war es ziemlich verrückt. Da war ich also, in meinem letzten Jahr an der High School. Das Mädchen, das ich liebte, war auf der anderen Seite des Landes. Eine Woche waren wir ein Paar, die nächste Woche nicht. Keiner von uns war in der Lage festzustellen, was das Beste für uns war. Ich hatte geplant, sie im März während der Frühjahresferien zu besuchen, aber Anfang Januar war die wirtschaftliche Lage so schlecht, dass ich den Nebenjob als Kellner in dem Restaurant, in dem ich gearbeitet hatte, verlor. Kein Geld bedeutete auch keine Reise quer durchs Land. Also sahen wir uns im März nicht. In einer Nacht während der Frühjahresferien rief sie mich an, betrunken.

Die Worte, die aus ihrem Mund kamen, machten mich fassungslos: „Ich wünschte ich könnte mir dir schlafen.“

Mir blieb das Herz stehen.

Also schnorrte ich. Ich versuchte weiter einen Job zu bekommen, hatte aber kein Glück. Es war das Jahr 2009, Jobs als Kellner oder Tellerwäscher gingen an Leute mit Uniabschlüssen. Ein achtzehnjähriger Highschoolschüler hatte keine Chance. Ich verpfändete meinen iPod, meine Mutter und ich veranstalteten einen Hofflohmarkt und ich schaffte es insgesamt einhundertundzwanzig Dollar zusammen zubekommen. Und das war genug für ein Greyhoundticket von Atlanta nach San Francisco und zurück. Ich fuhr einen Tag nachdem ich mit der High School fertig war los. 

Egal. Es gibt nicht viel zu diesem Besuch zu sagen. Es war ergreifend… schmerzvoll… erbärmlich. Wir küssten uns im Golden Gate Park. Wir schmusten in einem Fotoautomaten an der Bushaltestelle bevor ich zurückfuhr. Wir verliebten uns erneut ineinander, obwohl das unmöglich war. Eine Woche nachdem ich wieder zu Hause war, hatten wir unseren ersten richtigen Streit am Telefon. 

Ich tat, was ich am besten konnte. Ich rannte davon so schnell ich konnte. Am Morgen nach unserem Streit trat ich der US-Army bei. 

Ist es ein Wunder, dass ich nun, zwei Jahr später an der Columbia-Uni, in meinem Bett lag und nicht schlafen konnte?

Anstatt zu schlafen, dachte ich daran wie es wäre, sie in meinen Armen zu halten.

Ich dachte an sprichwörtlich hunderte von E-Mails, die wir hin und her geschickt hatten.

Ich dachte an hunderte von Stunden, die wir miteinander telefoniert und über unser Leben und unsere Träume gesprochen hatten.

Nachdem ich mit ihr am frühen Morgen zusammen gelaufen war, war es schwer zu vergessen, wie sehr ich sie liebte und ich musste es vergessen. Denn die eine Sache, die ich nicht vergessen konnte, war unser letztes Gespräch. Kowalski war an diesem Morgen getötet worden und wir waren zur Basis zurückgekehrt, aufgewühlt und entsetzt von seinem Tod. Es war für die meisten von uns ein Tiefpunkt in unserer Stationierung. Auf jeden Fall war es das für mich. Ich musste dringend mit ihr sprechen. Ich brauchte sie. Mehr als je zuvor. Und dann, als ich sie über Skpe erreichte, war sie verdammt noch mal betrunken. Soviel war offensichtlich. 

Ich versuchte ihr zu sagen, was los war, aber sie unterbrach mich. Sie begann mir zu erzählen, dass es nicht funktionierte, das wir nicht zusammen sein konnten. Und dann sah ich etwas, das ich niemals erwartet hätte. Ein Mann lief hinter ihr durch den Raum, mit nacktem Oberkörper. Und als er bei ihr war, berührte seine Hand kurz ihre Schulter. 

Selbst wenn ich nur daran denke, wird mir schlecht. Ich möchte vor Wut schreien. Ich bin nicht darüber hinweg. Ich denke nicht, dass ich jemals darüber hinweg sein werde. Und obwohl ich einen ganzen Tag damit verbringen kann, darüber nachzudenken wie sehr ich sie liebe, kann ich diesen Moment nicht vergessen. Ich konnte nicht denken. Ich konnte nichts sagen. Ich schloss einfach die Verbindung. Ich loggte mich auf Facebook ein und deaktivierte mein Profil. Ich löschte meinen Skypeaccount. Ich löschte meine digitale Identität. Und dann nahm ich meinen Laptop und zerstörte ihn. 

Am nächsten Morgen ging es wieder raus ins Einsatzgebiet.

Es dauerte Wochen, bis ich wieder die Chance hatte meine E-Mails zu lesen. Aus Gründen, die ich nicht verstand, brachte mir meine Mutter einen gebrauchten Laptop als ich im Walter Reed Krankenhaus lag. 

Ich hatte etwa zwanzig neue Mails von ihr. In einem schmerzhaften Moment hätte ich sie fast gelesen. Ich konnte es nicht. Aber ich konnte sie auch nicht löschen. Also verschob ich sie in einen Archivordner, wo ich sie nicht sehen musste. Und ich versuchte zu vergessen.

Wie bei so vielen anderen Dingen in meinem Leben, machte ich auch hier einen Scheißjob.