„Wo können die beiden nur so lange stecken?“, fragte Lory besorgt.
„Vielleicht sind sie zusammen was essen gegangen“, meinte Kordan.
„Ohne uns Bescheid zu geben? Nein! Das glaube ich nicht. Da stimmt was nicht.“
„Weißt du, wo ihre Wohnung ist?“, fragte Kordan.
„Ja, sie hat es mir gesagt. Wir fahren hin. Sofort!“
„Okay“, stimmte Kordan zu und erhob sich vom Bett. Er nahm Lory in die Arme und strich ihr über den Rücken. „Es wird ihnen schon nichts passiert sein. Wir finden sie.“
„Sie waren hier“, sagte Lory in drohendem Tonfall. „Ich weiß es. Also, wo ist die Wohnung von Charly? Ich will nachsehen.“
„Ich kann doch nicht einfach irgendwelche Leute in die Wohnung meiner Mieter lassen!“, wehrte der Mann ab. „Woher soll ich ...“
Weiter kam er nicht, denn Kordan hatte seine Hand um seine Kehle geschlossen und ihn ein Stück weit hochgehoben. Seine Beine zappelten hilflos in der Luft und sein Gesicht lief rot an. Langsam ließ Kordan ihn wieder runter, ohne jedoch die Hand von seinem Hals zu nehmen.
„Frag ihn noch mal“, sagte Kordan.
„Also, Buddy!“, zischte Lory. „Mein Freund hier ist ziemlich unbeherrscht. Er tötet manchmal Leute ganz aus Versehen und ich kann nichts tun, um ihn aufzuhalten. Das Einzige, was deinen wertlosen Arsch noch retten kann, ist, dass du uns jetzt zu Charlys Wohnung führst. Verstanden?“
Der Mann nickte und Kordan ließ ihn los.
„Ich ... i-ich muss die Schlüssel ...“, krächzte der Mann.
Lory und Kordan folgten ihm in die Wohnung. Mit zittrigen Fingern nahm der Mann einen Schlüssel von einem Board mit Ersatzschlüsseln.
„Hie-hier. D-das ist der Schlüssel.“
„Gut“, sagte Lory. „Und jetzt los!“
Er führte sie ein Stockwerk höher und hielt vor einer Tür. Mit zittrigen Fingern schloss er auf und Kordan schwang die Tür auf.
„O. Mein. Gott!“, rief Lory aus.
Kordan stürmte in den Raum. Der Mann wollte umdrehen und abhauen, doch Lory bekam ihn zu fassen und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Er schrie vor Schmerz auf, doch er ließ sich in den Raum führen. Sie schubste ihn in einen Sessel und funkelte ihn finster an.
„Beweg dich nicht oder ich schwör bei Gott, dass ich dich töte. Und zwar langsam.“
Er nickte hektisch und Lory wandte sich Kordan zu, der sich über die reglose Gestalt von Amano gebeugt hatte.
„Lebt er noch?“, fragte sie besorgt.
„Ja, aber seine Werte sind schlecht. Er hat so viel Blut verloren. Wäre er einer von deiner Rasse, er wäre schon tot.“
„Fuck!“, schrie Lory und fuhr sich hektisch über das Haar. „Wo ist Charly?“
Kordan holte sein Funkgerät aus der Tasche und reichte es Lory. „Sie sollen ihn hochbeamen. Ich suche nach Charly.“
Lory verständigte die Cordelia und erzählte in Kurzform, was passiert war, während sie Charlys Vermieter nicht aus den Augen ließ. Amano wurde im selben Moment hochgebeamt, wie Kordan zurück ins Zimmer geplatzt kam.
„Keine Spur von ihr“, sagte er frustriert. „Frag ihn!“
Lory packte den Vermieter am Kragen und sah ihm direkt in die Augen.
„Wo – ist – sie?!“
„Ich ... ich weiß es nicht“, stammelte er.
Lory griff ihm in den Schritt und drückte zu. Er schrie vor Schmerz auf.
„Wenn du nicht willst, dass ich eine Frau aus dir mache, dann erzählst du mir jetzt zur Abwechslung mal die Wahrheit!“
„Ihr ... ihr Bruder. Er ... er hat sie ... m-mitge-genommen.“
„Wohin?“
„Ich weiß nicht so genau. Er hat eine halbe Stunde hierher gebraucht. Mehr weiß ich nicht.“
„Woher weißt du, wie lange er hierher gebraucht hat?“, wollte Lory wissen. Ihre Stimme war eiskalt.
Der Mann sah sie panisch an. Er wusste, dass er gerade einen schweren Fehler begangen hatte.
„Bi-bitte. Ich ... ich erzähl dir alles, was ich weiß, nur ... nur tu mir ni-nichts.“
„Was für ein erbärmlicher Jammerlappen“, schnaubte Kordan angewidert.
„Sprich!“, forderte Lory.
„Er hat mir sei-seine Nummer ge-gegeben, dass ich ihn ... ihn anrufe, wenn ... wenn ...“
„Du hast ihm gesagt, dass Charly hier ist? Ist das so?“, fragte Lory mit nur mühsam unterdrückter Rage.
Der Vermieter nickte.
Kordan nahm das Funkgerät.
„Beamt uns hoch!“, befahl er.
„Auch die Person, die bei euch ist?“, kam die Stimme des Offiziers der Cordelia durch das Gerät.
„Ja, ihn auch. Er ist ein Gefangener.“
***
Charly lag auf einem Bett. Noch immer war sie wie gelähmt. Aber langsam verspürte sie ein Kribbeln in den Zehen und den Fingern. Sie hatte das Gefühl, dass die Wirkung des Mittels, das ihr Bruder ihr gespritzt hatte, bald vollkommen verschwunden war. Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier war, doch es war schon seit einer Ewigkeit dunkel draußen. Sie hatten sie ins Bordell gebracht und hier auf das Bett geschmissen. Dann waren sie verschwunden. Seitdem hatte sie niemanden mehr zu Gesicht bekommen.
Eine Weile später konnte sie ihre Finger bewegen und noch ein wenig später die ganze Hand. Als die Lähmung endlich nachgelassen hatte, setzte sie sich vorsichtig auf. Ihr Gesicht schmerzte jetzt, das war der Nachteil davon, dass die Taubheit vergangen war. Denn die hatte auch ihre Schmerzen betäubt. Der einzige Schmerz, der konstant da war und nicht vergehen wollte, war der Verlust des einzigen Menschen, den sie je über alles geliebt hatte und der sie ebenso bedingungslos zurückgeliebt hatte. Die Stelle in ihrer Brust, wo ihr Herz gewesen war, war jetzt leer. Zumindest fühlte es sich an, als hätte sie dort ein großes Loch. Eisige Kälte kroch durch dieses Loch und breitete sich von dort aus in ihrem ganzen Körper aus. Sie wollte nicht mehr leben. Ohne Amano ergab nichts mehr Sinn und sie würde lieber tot sein als ihrem Bruder und Sam zu Willen.
Langsam erhob sie sich aus dem Bett und trat ans Fenster. Es war vergittert. Kein Weg da durch. Springen schied also aus. Dann musste sie eben eine Waffe finden. Etwas, womit sie ihre Pulsadern durchschneiden könnte, wäre gut. Erhängen schied aus. Dafür fehlte ihr der Mut. Es würde ewig dauern, falls sie es falsch machte.
Eine halbe Stunde später ließ sie sich frustriert auf das Bett fallen. Sie hatte nichts gefunden, was sie benutzen konnte, um sich selbst zu töten. Was sollte sie tun? Spätestens am Morgen würden ihr Bruder und Sam wiederkommen und sie war sich sicher, dass sie dann zu leiden hatte. Allein der Gedanke, Sam könnte sie wieder anfassen, oder ihr Bruder, ließ sie vor Furcht und Abscheu erzittern. Sie hatte niemandem erzählt, dass sie wusste, wer sich unter der Maske verbarg. Auch wusste niemand, dass es nicht ein, sondern zwei Maskenmänner gewesen waren, die sie vergewaltigt hatten. Sie wusste, immer dann, wenn ihr Peiniger nicht gesprochen hatte, war es nicht Sam gewesen. Er hatte geschwiegen in dem Glauben, sie würde ihn dann für Sam halten, doch sie hatte ihn trotzdem erkannt. Auch wenn er ihr stets einen Sack über den Kopf gestülpt hatte, ehe er sich an ihr verging. Sie hatte geschwiegen, weil sie sich geschämt hatte. Wie würden die Leute über sie reden? Nein! Niemand durfte je davon erfahren, dass ihr eigener Bruder sich wieder und wieder an ihr vergangen hatte. Es reichte, dass sie es wusste und damit leben musste. Es hatte sie zerstört. Bis Amano sie geheilt hatte. Amano. Ihr sanfter, liebevoller Amano. Erneut liefen die Tränen über ihre Wangen. Sie rollte sich zusammen wie ein Fötus und schlief irgendwann erschöpft ein.
Sie erwachte von einem Summen. Erschrocken schlug sie die Augen auf. Ein Schrei wollte sich von ihren Lippen lösen, doch er blieb ihr in der Kehle stecken. Das konnte nicht sein! Das war unmöglich! Ihre Augen weiteten sich, ehe sie ohnmächtig zusammensackte.
***
„Ich bringe diesen Bastard um!“, knurrte Amano und seine Hände ballten sich zu Fäusten.
Er atmete tief durch, ehe er die Faust wieder öffnete und mit zittriger Hand über Charlys Wange strich. Sie war dunkelviolett, beinahe schwarz und wie es aussah, war ihr Kiefer gebrochen. Außerdem war ihr Auge auf der Seite zugeschwollen und eine Lippe aufgeplatzt. Er fühlte Kordans Hand auf seiner Schulter. Ein Zittern lief durch seinen Körper, als er mit aller Macht die Rage unterdrückte, die durch seine Venen rauschte. Heiß und potent.
„Wir werden den Kerl zur Rechenschaft ziehen. Aber wir dürfen nicht den Kopf verlieren“, ermahnte Kordan ihn.
„Ich weiß“, erwiderte Amano zwischen zusammengebissenen Zähnen.
„Du solltest versuchen, sie zu wecken. Sie kann uns helfen, den Bastard zu identifizieren. Es sind viele Männer in diesem Haus, ich höre ihre Stimmen. Und Frauen. Meine Güte, es hört sich an, als ob die ...“
Es hört sich nicht nur so an!“, knurrte Amano. „Wir sind in einem Bordell. Charly hat mir erzählt, dass ihr Bruder sie zwingen wollte, für ihn zu arbeiten.“
„Du meinst ... als ...“
„Als Hure, ja!“
„Bastard!“, knurrte Kordan.
„Sie rührt sich“, sagte Amano. Sofort war er bei Charly und nahm sanft ihre Hand. „Charly, Baby. Wach auf. Ich bin’s.“
Sie schlug flatternd die Augen auf.
„Amano?“, flüsterte sie. „Bin ich tot?“
„Nein. Nein, warum solltest du tot sein?“
„Aber wieso sehe ich dich dann?“, schluchzte sie. „Du ... du bist doch to-tot. Ich hab es ge-gesehen. Er ... er hatte dich erschossen.“
„Lory und Kordan fanden mich noch rechtzeitig. Ich war schwach, bewusstlos, aber nicht tot. Sie haben mich sofort aufs Schiff gebeamt und in die Medizineinheit gesteckt.“
„Aber so schnell kannst du doch unmöglich geheilt sein. Bei Lory hat es ...“
„Lory ist ein Mensch. Carthianer heilen schneller, besonders Krieger. Ich bin nicht einhundert Prozent, aber ich bin okay. Kannst du uns zu deinem Bruder führen?“
„Sie sind zu zweit. Mein Bruder Steven und Sam.“
„Wer ist Sam?“
„Es ist ... er ist der Mann, der ...“
„DER Mann?“
Sie nickte.
Amano knurrte und er sprang auf, um wie ein Löwe im Käfig hin und her zu laufen. Er raufte sich die Haare und versuchte, seine Rage zu kontrollieren. Der Mann, der seiner Gefährtin über Monate all die schlimmen Dinge angetan hatte, war hier? Er würde sie beide töten. Er blieb stehen und sah Charly an.
„Führ mich zu ihnen!“
„Die Tür. Sie ist sicher abgeschlossen.“
Kordan trat an die Tür und verpasste ihr einen Tritt. Mit einem Knall flog sie in den Flur hinaus. Amano ergriff Charly bei der Hand und zog sie mit sich. Leute kamen aus den Zimmern, Frauen kreischten, Männer riefen. Die männlichen Gäste beeilten sich, ihre Hosen wieder hochzuziehen und sich aus dem Staub zu machen. Dann traten zwei Männer aus einem Zimmer am Ende des Flurs und Amano wusste sofort, dass sie es waren. Allein das plötzliche Erstarren seiner Gefährtin hätte es ihm gesagt, doch es war noch etwas anderes. Er erkannte die Ähnlichkeit mit Charly und auch wenn in ihrer Wohnung alles so schnell gegangen war, so meinte er, dass er in dem Mann am Ende des Flurs den Mann erkannte, der auf ihn geschossen hatte.
Amano schob Charly in das Zimmer zurück und befahl ihr dortzubleiben. Dann eilte er mit Kordan durch den Gang. Charlys Bruder und dieser Sam waren geflohen, doch sie holten die beiden Kerle auf der Treppe ein.
***
Charly lag in der Medizineinheit und sah Amano in die besorgten warmen Augen. Er lächelte ihr aufmunternd zu.
„Du wirst sehen. In einer Stunde spürst du nichts mehr und bald bist du wieder so hübsch wie eh und je.“
„Was wirst du jetzt tun?“, fragte sie. Amano hatte ihre Angst vollkommen falsch gedeutet. Sie hatte keine Angst vor der Behandlung. Sie hatte Angst, dass ihm etwas passieren könnte. Sie hatte mitbekommen, wie er mit Kordan besprochen hatte, dass er sich mit ihrem Bruder und Sam duellieren wollte. Und zwar die beiden zusammen gegen ihn. Und dabei war er noch nicht hundertprozentig geheilt. Er war von Kugeln durchlöchert gewesen.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, beruhigte sie Amano „Sie werden dir nie wieder etwas tun. Sie werden keiner Frau mehr Schaden zufügen. Ich werde dich heute rächen. Und alle Frauen, die sonst noch unter ihnen zu leiden hatten.“
„Warum wartest du nicht wenigstens, bis du wieder fit bist?“
„Ich bin fit genug.“
„Sie sind zu zweit!“
„Ich bin besser“, sagte Amano bestimmt.
„Lady Charly. Wenn Ihr jetzt bitte stillhalten wollt. Ich schalte jetzt die Geräte an“, sagte der Heiler.
Er betätigte ein paar Knöpfe und Schalter, dann spürte Charly, wie sie müde wurde.
Als sie erwachte, lag sie in ihrem Bett in ihrer Kabine. Wie viel Zeit war vergangen? Was war mit Amano? War der Kampf schon vorbei? Und wie war er ausgegangen? Sie setzte sich mit klopfendem Herzen im Bett auf und im selben Moment öffnete sich die Tür.
Amano kam ins Zimmer. Er war blutbesudelt von oben bis unten. Seine Hände, sein Gesicht. Alles war voller Blut. Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Wie viel von dem Blut war sein? Wie schwer war er verwundet?
Er trat an ihr Bett und starrte auf sie hinab. Langsam ging er vor dem Bett auf die Knie. Er zog sein Messer, hielt es mit der Klingenseite an seine Brust. Seine freie Hand ergriff ihre Hand und legte sie um die Klinge. Seine Hand legte sich über ihre. Zu ihrem Entsetzen drückte er die Spitze in sein Fleisch und führte sie in einem tiefen Schnitt quer über die Brust. Sie starrte wie in Trance auf das rote Blut, das aus der frischen Wunde quoll.
„Was ...?“, schrie sie erschrocken auf.
„Ich bitte dich um Vergebung“, flüsterte er rau. „Ich habe versagt.“
„Was? Ich verstehe nicht. Leben sie noch? Oder was meinst du damit?“
„Sie sind tot!“, knurrte er. Er schloss die Augen und löste den Griff um das Messer. Es fiel zu Boden. Dann nahm er ihre Hand und presste sie auf seine Brust. Sie konnte seinen wilden Herzschlag spüren. „Ich habe versagt, mene carisha. Ich habe dich nicht beschützt. Ich habe dich gerächt, doch es war meine Unachtsamkeit, die dich in Gefahr gebracht hat. Ich bitte dich, mir zu verzeihen. Du hast das Recht, dich von mir zu trennen, da ich versagt habe. Es ist deine Entscheidung.“
Sie schüttelte verwirrt den Kopf.
„Amano“, flüsterte sie. „Da gibt es nichts zu verzeihen. Es war nicht deine Schuld. Du konntest doch nicht wissen, dass das passieren würde. Wenn überhaupt, dann war es meine Schuld, dass du angeschossen wurdest. Ich habe unbedingt in meine Wohnung gewollt.“
„Charly“, flüsterte Amano heiser. „Ich habe versagt! Ich brauche deine Vergebung, da ich mir sonst selbst nicht vergeben kann.“
Sture Miezekatze, dachte sie liebevoll. Wenn du es unbedingt hören willst.
„Ich vergebe dir“, sagte sie.
Ein tiefer Seufzer kam über seine Lippen, dann riss er sie an sich und küsste sie.