„Meinst du, deine Sachen sind noch da?“, fragte Amano, als sie aus dem Taxi stiegen.
„Ich hoffe“, antwortete Charly. „Wir müssen zu Jim. Das ist mein Vermieter. Ich würde eh nicht in meine Wohnung kommen. Ich hab ja keinen Schlüssel mehr.“
Sie betraten das heruntergekommene Gebäude und fuhren mit dem Fahrstuhl in die dritte Etage, wo ihr Vermieter wohnte. Laute Musik drang aus seinem Apartment. Charly klopfte an die Tür und sie warteten. Doch es tat sich nichts.
„Bei der Musik hört er mein Klopfen bestimmt gar nicht“, sagte sie seufzend.
„Lass mich mal“, sagte Amano und hämmerte gegen die Tür.
Tatsächlich wurde kurze Zeit später die Tür geöffnet. Eine Blondine mit zerzauster Frisur und verschmiertem Lippenstift stand in einem hastig übergeworfenen Morgenmantel vor ihnen.
„Ja?“, fragte sie genervt.
„Ich muss Jim sprechen.“
Die Blondine zuckte mit den Schultern und ließ sie eintreten. Charly war froh, dass Amano bei ihr war. Sie mochte Jim nicht. Er war ein Arschloch.
Sie betraten ein unordentliches Wohnzimmer und die Blondine bedeutete ihnen, sich zu setzen, dann verschwand sie.
Charly sah Amano an, der lächelte ihr aufmunternd zu. Kurz darauf betrat Jim das Zimmer. Er trug nur Boxershorts und seine erweiterten Pupillen verrieten, dass er was genommen hatte.
„Na, sieh einer an, wer da aus der Versenkung aufgetaucht ist“, sagte er und grinste schmierig. Seine braunen Locken klebten ihm im Gesicht und er schien sich seit Tagen nicht rasiert zu haben. Charly rümpfte die Nase.
„Hallo, Jim.“
„Setzt euch doch“, sagte Jim und warf sich in einen Sessel. Die Blondine kletterte auf seinen Schoß und fing an, in seinen Haaren zu wühlen und ihm am Hals zu knabbern.
Zögernd setzte sich Charly auf die Couch, Amano ließ sich neben ihr nieder. Sie war froh, als er ihre Hand nahm und fest in seiner hielt.
„Also, was führt dich hierher nach so langer Zeit? Ich dachte, du wärst tot oder so. Kein Mensch hatte mehr etwas von dir gesehen oder gehört.“
„Ich war in Mexico“, log Charly. „Ich hab geheiratet. Das ist mein Mann, Amano.“
Jim zog eine Augenbraue hoch.
„Hast du das, ja? Interessant. Und jetzt willst du deine alte Wohnung wieder, he? Haste Glück, hab sie noch nicht wieder vermietet.“
„Nun, eigentlich wollte ich nur ein paar Sachen holen. Ich hab die Kohle für die letzten Mieten.“ Sie holte das Geld aus ihrer Tasche und reichte es Jim über den Tisch.
„Exzellent“, sagte er und nickte Amano zu. „MMA Fighter?“
Amano nickte.
„Wo und wann kämpfst du? Ich würde gern sehen, wie du die Fäuste da zum Einsatz bringst. Ich wette, du bist ein echter Totschläger. Respekt, Ma…“
„Wir sind nicht deswegen hier“, unterbrach ihn Charly. „Kannst du uns für eine Stunde oder so in die Wohnung lassen? Danach verschwinden wir. Für immer.“
„Okay“, sagte Jim und verstaute das Geld in einer Kiste auf dem Tisch neben sich. Er gab der Blondine einen Klaps auf das Hinterteil. „Husch, Süße. Ich hab was zu tun. Geh wieder ins Bett und mach dich schon mal warm. Ich komme gleich.“
Blondie stieg von seinem Schoß, warf Amano einen verführerischen Blick zu, der Charly die Galle hochkommen ließ, und verschwand, mit dem Arsch wackelnd, aus dem Raum.
Charly schloss die Tür hinter ihnen und sah Amano entschuldigend an.
„Ich fürchte, es ist nicht die tollste Bude, und ich habe nicht aufgeräumt. Ich ...“
„Charly“, unterbrach Amano sie und zog sie in seine Arme. „Wir sind nicht hier, um über deine Bleibe zu diskutieren, und ich kann dir sagen, wenn ich keine Dienstboten hätte, dann würde es bei mir schlimmer aussehen als das hier.“ Er machte eine Geste durch den Raum.
„Ähmm, okay. Also ich such dann mal meine Sachen zusammen.“ Sie hob ein paar Klamotten auf, die über das Sofa verstreut waren. „Setz dich doch.“
„Kann ich dir was helfen?“
Sie schüttelte den Kopf. Dann gab sie ihm einen Kuss und verschwand mit den Klamotten im Bad, wo sie die Kleider in den Wäschekorb warf.
***
Jim blätterte in seinem Telefonbuch, bis er die gesuchte Nummer gefunden hatte, dann wählte er und wartete.
„Ja“, erklang eine raue Stimme.
„Steven, hier ist Jim. Du weißt doch, der Vermieter von deiner kleinen Schwester.“
„Ja, ich weiß, wer du bist“, antwortete Steven kühl. „Was willst du? Sag nicht, meine Schwester ist nach all den Monaten tatsächlich aufgetaucht.“
Jim legte die Beine auf den Tisch und grinste.
„Doch, Stevie. Sie ist hier. Ich meine, gerade jetzt ist sie oben in ihrer Wohnung.“
„Nenn mich nicht Stevie!“, erklang Stevens warnende Stimme.
„Geht klar, Mann. Sorry.“
„Also sie ist wirklich wieder da, ja? Ich komme sofort.“
„Ah, Steven? Da ist noch was“, sagte Jim.
„Spucks aus!“
„Sie ist nicht allein. Da ist ein Typ bei ihr. Sie sagt, es wäre ihr Mann.“
„Was?“, schrie Steven ungläubig. „Charly hat ʼnen Stecher? Diese kleine Schlampe. Na egal. Den erledige ich. Muss ʼne ziemliche Flasche sein, he?“
„Ähm, also ehrlich gesagt, Steven ... der Kerl ist ... der ist ziemlich groß und breit. MMA Fighter. Sieht nicht wie einer aus, dem du unbewaffnet gegenübertreten solltest. Kein Scheiß, Mann. Der ist ʼn Brecher. Muskeln wie Herkules und groß.“
„Fuck, die kleine Schlampe. Okay, danke für die Warnung. Ich werd ʼn paar Leute mitbringen und meine Wumme.“
„Vergiss meine kleine bescheidene Prämie nicht“, sagte Jim grinsend.
„Du bekommst dein Geld.“
***
Charly warf ihre Lieblingsjeans in den Koffer und wühlte sich dann durch ihre Unterwäsche auf der Suche nach ihrem Tresorschlüssel. Im Tresor bewahrte sie die Dinge von ihrer Mutter auf. Plötzlich ertönte ein lauter Knall, als ob jemand die Tür eingetreten hätte, und gedämpfte Schüsse waren zu hören. Sie meinte, ihr Herz würde jeden Augenblick stehen bleiben.
„Amano!“, schrie sie erschrocken auf und rannte aus dem Schlafzimmer.
Amano lag blutüberströmt und reglos auf der Couch. Ein Schrei glitt über ihre Lippen.
„Hallo, Schwesterchen“, ließ eine Stimme sie verstummen.
Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie hob langsam den Blick. Steven stand mit der Waffe in der Hand, flankiert von zweien seiner Bodyguards, keine fünf Schritte von ihr entfernt. Auf Stevens Kopfnicken hin löste sich einer der Männer von seiner Seite und kam auf sie zu.
„Was hast du getan“, sagte sie voller Grauen. „Du hast ... du hast ihn ...“
„Sorry, Schwesterchen, aber er hatte etwas, was mir gehört. – Dich.“
„Du Bastard!“, schrie sie und wollte auf ihn losgehen, doch dann explodierte ein heftiger Schmerz an ihrem Hinterkopf und ihre Welt wurde schwarz.
***
Charly erwachte mit furchtbaren Kopfschmerzen. Sie stöhnte und öffnete die Augen. Das Blut schien in ihren Adern zu gefrieren, als sie sah, wo sie sich befand. Ihr schlimmster Albtraum war wahr geworden. Und es war diesmal kein Traum, so viel verriet der dröhnende Schmerz in ihrem Schädel. Sie befand sich genau dort, wo sie die drei schrecklichsten Monate ihres Lebens verbracht hatte. Sie brauchte nicht lange, um festzustellen, dass dieselbe Kette sie an dasselbe Rohr fesselte wie damals.
„Nein“, flüsterte sie. „O Gott, bitte nicht!“
„Ich glaube nicht, dass Gott dir helfen wird, Schwesterherz“, erklang Stevens Stimme. „Und auch dein Stecher wird hier nicht auftauchen. Es sei denn, er steht von den Toten auf.“
Charly wandte den Kopf und sah ihren Bruder in der Ecke, gegen die Wand gelehnt, stehen. Sein Grinsen und der gemeine Ausdruck in seinen grünen Augen jagten ihr eiskalte Schauer über den Leib. Langsam drang es in ihr Bewusstsein. Amano war tot. Tränen fingen an, aus ihren Augen zu quellen und ihre Wangen hinabzulaufen. Sie hatte den Mann verloren, der ihr alles bedeutete. Er war tot und sie war schuld. Wären sie nicht in ihre verdammte Wohnung gefahren, dann würde er noch leben. Ihr Herz schmerzte so sehr, dass sie glaubte, jemand hätte es in einem Schraubstock zerquetscht.
Ihr Bruder lachte.
„Sie weint! Die kleine Schlampe weint“, sagte er.
„Warum?“, schluchzte sie. „Warum hast du das getan? Warum konntest du mich nicht endlich in Ruhe lassen? Hast du mir noch nicht genug angetan?“
„Du hättest dir schon damals alles ersparen können. Wenn du nur nicht so verdammt hochnäsig gewesen wärst. Du hättest nur für mich arbeiten müssen. In der Familie unterstützt man sich schließlich gegenseitig.“
Charly lachte freudlos.
„Du kennst die Bedeutung des Wortes Familie gar nicht. Ein normaler Bruder verlangt nicht von seiner Schwester, für ihn anzuschaffen!“
„Du hättest gut verdient. Und Sam hätte sich um dich gekümmert.“
„SAM!“, spie sie ihm entgegen. „Dein sauberer Freund ist ein perverses, sadistisches Arschloch!“
„Er hätte dich besser behandelt, wenn du seine Frau geworden wärst, wie es geplant war. Ich fürchte, die Tatsache, dass du ihm ins Gesicht gespuckt hast, hat nicht unbedingt seine beste Seite hervorgebracht. Aber er hat dir jetzt verziehen. Er will dir noch eine Chance geben.“
„Was?“, rief Charly entsetzt aus. „Das ... das ist nicht dein Ernst?“
„Ich finde ja auch, dass du keine Chance verdient hast, doch Sam hat gesagt, dass er dich noch immer will. Er ist hier.“
Angst machte sich in ihrem Inneren breit und sie begann zu zittern. Er war hier? Der Mann, der ihr Leben in die Hölle auf Erden verwandelt hatte?
„Sam!“, rief ihr Bruder. „Du kannst jetzt reinkommen.“
Die Tür öffnete sich und ein großer gut aussehender Mann Mitte dreißig betrat den Raum. Seine blonden Haare waren kurz geschnitten, der graublaue Anzug saß perfekt und betonte seine breiten Schultern und schmalen Hüften besonders vorteilhaft. Sam Broker war ein Mann, dem die Frauenherzen zuflogen. Zumindest solange sie nicht wussten, was hinter der gepflegten Fassade steckte. So beschafften sie die Mädels für Stevens Bordell. Sam verdrehte ihnen den Kopf und machte sie abhängig, dann zwang er sie zum Anschaffen. Wer nicht spurte, der verschwand. Für immer. Charly vermutete, dass sie nicht die erste und letzte Frau gewesen war, die in diesem Kellerloch gelitten und geblutet hatte. Wie viele Frauen hatte er hier zu Tode gequält?
„Charly“, sagte er und seine kalten grauen Augen musterten sie dreist. „Was für eine Überraschung.“
Er kam näher und packte sie bei den Haaren. Mit einem schmerzhaften Ruck zog er sie auf die Beine und sie schrie auf.
„Ich muss sagen, ich war ein wenig ärgerlich, als ich hörte, dass du … geheiratet hast. Ich war sogar ärgerlich auf deinen Bruder, weil er mir nicht vorher Bescheid gegeben hat. Es wäre mein Privileg gewesen, deinen Stecher zu töten. Und ich hätte es nicht so verdammt schnell gemacht wie Steven. Ich hätte mir Zeit genommen und dir die Gelegenheit gegeben, dabei zuzusehen. Besser noch, ich hätte dich vor seinen Augen nehmen können, um ihn zu quälen. Meinst du, dass ihn das wütend gemacht hätte, zu sehen, wie du es mit mir treibst?“
„Ich würde es nie mit dir treiben“, sagte Charly bitter. „Du hast die Kraft, mich zu vergewaltigen, aber ich würde es nie mit dir treiben. Denn dazu gehören zwei. Vergewaltigung wird immer das Einzige sein, was du von mir bekommst!“
Der Schlag kam so schnell, dass sie keine Chance gehabt hatte, sich darauf einzustellen. Ihr Kopf wurde so ruckartig zur Seite geschleudert, dass sie das Gefühl hatte, es würde ihr das Genick brechen. Sie schmeckte Blut und sie bemerkte, dass ein paar Zähne sich gelockert hatten. Tränen brannten in ihren Augen.
„Steven sagt, dein Stecher wäre ein MMA Fighter gewesen. So kann man sich in Menschen irren. Ich hätte vermutet, dass du dir eher so einen schlauen Bürotypen mit Brille aussuchen würdest. Ich dachte immer, dass du mit einem richtigen Mann nicht fertigwerden würdest. Vielleicht bist du erwachsener geworden. Vielleicht bist du jetzt besser trainiert, dass du für uns arbeiten kannst.“
„Von mir aus töte mich, das macht mir nichts aus!“, schrie sie ihn an. „Aber ich werde nicht für euch die Beine breitmachen.“
Er schlug erneut zu und sie wäre zu Boden gegangen, wenn er sie nicht am Arm gehalten hätte. Sie war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Ihr Kiefer fühlte sich an, als ob er gebrochen wäre. Wahrscheinlich war er das auch. Die Schmerzen waren unerträglich und sie schluchzte.
„Es reicht!“, sagte Steven. „Du ruinierst ihr ganzes Gesicht für Wochen. Wie soll sie so anschaffen, he? Lass es gut sein jetzt.“
„Okay. Fahren wir!“, sagte Sam und warf sich Charly über die Schulter.
Sie zappelte und schrie, doch dann spürte sie einen Stich in ihren Hintern und ihr wurde ganz seltsam. Die Glieder wurden ihr schwer und taub. Sie war bei Bewusstsein, doch sie konnte sich nicht mehr rühren, nicht einmal mehr einen Ton herausbringen. Stumm liefen die Tränen über ihr Gesicht. Alles, was sie vor sich sehen konnte, war Amanos blutüberströmte Gestalt.