Kanavirius System, Xevus3
Blauer Sektor, Spaceport, Betzlawk
27. Tag des Monats Jakus im Jahr 7067 Federationszeit
„Wenn wir nicht bald jemanden finden, der uns nach Hause bringen kann, dreh ich durch“, sagte Lory gereizt und lief in der geräumigen Hotelsuite, die sie angemietet hatten, auf und ab.
Charly lümmelte sich auf der Couch und lutschte an einem Stück Konfekt, das sie am Morgen in einem der zahlreichen Shops in der Lobby gekauft hatte. Sie verstand die Aufregung ihrer Freundin nicht. Seit sie von dem Sklavenmarkt geflohen waren, wo man sie an widerliche Aliens verkaufen wollte, waren drei Wochen vergangen. Sie hatten Glück im Unglück gehabt und waren in den Besitz einer goldenen Tik-Karte gelangt, die unbegrenzte Credits bedeutete, und über eine Kellnerin war Lory mit einem Mann in Kontakt getreten, der sie mit einer falschen Identität ausgestattet hatte. Lory war nun Lady Kirikyla und Charly fungierte als ihre Sklavin. Mit dieser Identität hatten sie hier in einem der besten Hotels des Spaceports eingecheckt und versuchten seit zwei Wochen erfolglos, ein Raumschiff zu chartern, das sie nach Hause zur Erde bringen würde. Die Schwierigkeit bestand darin, dass sie keine Ahnung hatten, wo sich die Erde befand. Egal, wie gut sie versuchten, den blauen Planeten und das Sonnensystem zu beschreiben, niemand schien etwas über ihren Heimatplaneten zu wissen.
Außerirdische hatten sie und zwei andere Frauen einige Wochen zuvor entführt. Was aus Keela und Amber, den anderen beiden Frauen, geworden war, wussten sie nicht. Die beiden hatten es nicht geschafft, mit ihnen von dem Sklaven-Compound zu fliehen. Sie hatten vorsichtig versucht, etwas über sie herauszufinden, doch leider ohne Erfolg.
„Du hast echt die Ruhe weg!“, knurrte Lory ärgerlich. „Interessiert es dich überhaupt, dass wir hier schon bald drei Wochen festsitzen?“
„Was können wir tun?“, erwiderte Charly schulterzuckend. „Wir müssen auf die passende Gelegenheit warten und in der Zwischenzeit haben wir zumindest ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Besser könnte es uns doch gar nicht gehen.“
„Ich will aber von diesem verdammten Planeten weg“, sagte Lory gereizt. „Ich hab die Schnauze voll davon, dass Tussis mir mein Essen servieren, die sechs Arme haben, oder Typen mir den Lift öffnen, deren Augen zwanzig Zentimeter über ihren Köpfen auf Fühlern herumwackeln wie bei einer verdammten Schnecke!“
Charly kicherte. Ja, manche der Aliens waren wirklich gewöhnungsbedürftig. Doch es gab auch Rassen, die humanoid waren und sich von Menschen nicht oder nur wenig unterschieden. Eigentlich fühlte sich Charly hier sicherer als in ihrem kleinen, schäbigen Apartment zu Hause.
„Ich finde es nur schade, dass wir zu Hause niemandem davon erzählen können“, sagte sie. „Die würden uns gleich in die geschlossene stecken. Wenn ich nur mein iPhone dabeihätte … dann würde ich Bilder machen.“
Lory schnaubte. Sie wischte sich eine Strähne ihres schwarzen Haares, die sich aus dem Zopfband gelöst hatte, zurück und tappte unruhig mit dem Fuß.
„Ich geh jetzt erst einmal in die Bar und genehmige mir ein paar Drinks, dann fühl ich mich vielleicht besser. Kommst du mit?“
Charly sah sie an und zog eine Augenbraue in die Höhe.
„Als deine Sklavin?“
„O! Ich vergaß“, sagte Lory und blickte ein wenig zerknirscht drein. „Okay, soll ich dir irgendetwas mitbringen?“
„Wenn du noch was von dem Konfekt bekommen kannst. Das Zeug ist himmlisch.“ Charly schüttelte ihre beinahe leere Konfektschachtel energisch. Sie war auf dem besten Weg, nach dem Zeug süchtig zu werden.
„Ich werde sehen, was sich machen lässt. Bis später.“
Damit verließ Lory die Suite und Charly streckte sich seufzend auf der Couch aus. Sie fand das Leben hier gar nicht so übel. Vor allem da sie relativ luxuriös lebten, dank der Kreditkarte, die sie einer ermordeten Frau abgenommen hatten.
Zu Hause hatte Charly es nicht so gut gehabt. Ihre Mutter war gestorben, als sie erst fünf Jahre alt gewesen war, und ihr Vater hatte die sechs Kinder allein großgezogen. Charly war die Jüngste. Sie hatte zwei ältere Schwestern und drei ältere Brüder. Sie und ihr Bruder Steven waren die einzigen der Geschwister, die die roten Locken und grünen Augen ihres Vaters geerbt hatten. Alle anderen waren schwarzhaarig mit graublauen Augen wie ihre verstorbene Mutter. Charly hasste die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. Und sie hasste ihren Vater. Er war ein trinkender Schläger mit einem umfangreichen Strafregister, ebenso wie ihre Brüder. Ihre älteste Schwester war eine Prostituierte im Bordell ihres eigenen Bruders und die mittlere Schwester lebte schon seit Jahren in Europa. Charly hatte keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie, seit ihr Bruder Steven versucht hatte, sie ebenfalls für sein Bordell anzuwerben und sie zu zwingen, seinen Partner zu heiraten. Damals war sie achtzehn gewesen. Sie hatte es geschafft, sich ein Zimmer in einer WG zu mieten, und sich mit Nebenjobs über Wasser gehalten, während sie ihre Schule erfolgreich zu Ende brachte. Jahrelang büffelte sie sich durchs Studium und hatte ihren Informatikabschluss mit Auszeichnung geschafft. Das Leben schien alles für sie offenzuhalten, doch dann war etwas passiert, das sie vollkommen aus der Bahn geworfen hatte.
Sie war entführt und in einem Kellerloch gefangen gehalten worden. Diese drei Monate hatten sie zerstört. Danach ließ sie sich mit den falschen Leuten ein und war als Hackerin auch das eine oder andere Mal in krumme Dinge verwickelt gewesen.
Als diese hässlichen Aliens sie beim Joggen entführt hatten, war sie geschockt gewesen. Wieder einmal war sie in Gefangenschaft geraten. Doch diesmal war sie wenigstens nicht allein gewesen. Die anderen Mädels hatten die Lage für sie erträglicher gemacht. Außerdem waren sie weder gequält noch vergewaltigt worden. Was natürlich nicht hieß, dass ein eventueller Käufer das nicht früher oder später nachgeholt hätte, wenn sie nicht geflohen wären. Die Flucht, die Ungewissheit, was aus den anderen Frauen geworden war, das alles hatte ihr ein wenig zugesetzt. Doch hier in diesem Hotel ließ es sich aushalten und es war ja nicht gerade so, dass sie etwas oder jemanden aus ihrem alten Leben vermissen würde. Nicht, dass sie vorhatte, für immer auf Xevus3 zu bleiben, doch solange sie nach einer Reisemöglichkeit suchten, würde sie die Annehmlichkeiten hier so gut es ging genießen.
***
Als Lory zurückkam, grinste sie wie ein Honigkuchenpferd. Charly setzte sich auf und sah ihre Freundin abwartend an.
„Du errätst nie, was gerade passiert ist“, verkündete Lory gut gelaunt.
„Keine Ahnung? Schieß los!“
„Ich habe zwei Rückfahrkarten für uns, Süße. Na, wie klingt das?“
Charly starrte Lory ungläubig an.
„Was ... was soll das heißen?“
„Na, dass ich einen Mann getroffen habe, der zufällig ein Raumschiff hat und bereit ist, uns zur Erde zurückzubringen.“
Charlys Augen weiteten sich. Ihr Herz schlug auf einmal schneller. Konnte das wirklich wahr sein? Würden sie tatsächlich von diesem Wüstenplaneten fortkommen und zurück nach Hause fliegen?
„Ehrlich?“, fragte sie fassungslos.
„Ja, ehrlich“, bestätigte Lory und ihre Wangen glühten vor Begeisterung. „Ist das nicht großartig? Endlich kommen wir von diesem verdammten Wüstenplaneten weg.“
Kanavirius System, Xevus3
In den Straßen von Betzlawk
30. Tag des Monats Jakus im Jahr 7067 Federationszeit
Die Straßen von Betzlawk waren staubig und die Sonne brannte Amano unangenehm auf den Kopf. Er mochte diese verdammte Hitze nicht und würde alles darum geben, jetzt ein Glas eisgekühlten Tajaka auf der Terrasse seines Hauses zu genießen. Aber sie hatten eine Mission zu erfüllen. Ihr Cousin, Prinz Marruk, hatte sie hierhergesandt, um zwei Frauen zu retten, die an diesem Ort als Sklavinnen verkauft werden sollten. Die Frauen waren geflohen und hielten sich jetzt hier irgendwo auf, vorausgesetzt, sie waren noch am Leben. Amano hielt das Ganze für eine zum Scheitern verurteilte Mission. Wie sollten sie hier zwei Frauen finden, von denen sie nur eine vage Beschreibung hatten, die auf Hunderte Frauen hier zutreffen konnte?
„Verdammt!“, knurrte Kordan, Amanos Cousin, ungehalten. „Seit zwei Tagen irren wir hier rum und haben keinen Anhaltspunkt, wo die beiden Frauen sind.“
„Ich kann nicht glauben, dass niemand sie gesehen hat in all den Wochen“, erwiderte Amano ebenso frustriert. Sie hatten nicht einmal eine falsche Fährte. Nein! Sie hatten gar keine!
„Lass uns hier noch einen Versuch starten, ehe wir für heute zurück zum Hotel gehen. Wir könnten uns hier einen Drink genehmigen und die Bedienung ein wenig ausfragen“, schlug Kordan vor.
„Ja, das klingt gut. Ich könnte einen Drink vertragen. Oder zwei.“ Amano klopfte seinem Cousin auf die Schulter. „Komm! Worauf warten wir noch?“
Sie betraten das Trinkhaus und setzten sich an einen Tisch in der Nähe der Theke. Eine Bedienung kam mit einem Lappen zu ihnen und wischte halbherzig über die verklebte Tischplatte.
„Was kann ich euch bringen?“, fragte sie lustlos.
„Bring uns zwei doppelte Schwarze und was zu essen“, verlangte Kordan.
„Wir haben Taki vom Grill, Mosule mit Brot oder gebackene Shanika“, leierte die Bedienung gelangweilt herunter.
„Ich nehm das Taki“, sagte Amano.
„Ich auch“, stimmte Kordan zu. „Bring uns zwei Taki und auch etwas Brot dazu.“
„Kommt gleich“, sagte die Bedienung und verschwand.
Kurz darauf kam sie mit den Getränken zurück und stellte die Gläser vor Kordan und Amano auf den Tisch.
„Können wir dich etwas fragen?“, sagte Kordan schnell, bevor die Bedienung wieder verschwinden würde. „Wir bezahlen auch gut, wenn du uns weiterhelfen kannst.“
„Frag!“
„Wir suchen zwei junge Frauen. Eine hat lange schwarze Haare und blaue Augen, die andere hat rote Locken und grüne Augen. Beide sind sehr hübsch, sehen aus wie Frauen meiner Rasse, nur vielleicht ein wenig kleiner. Sie kennen sich hier nicht besonders gut aus. Wir sind hier, um ihnen zu helfen.“
„Es waren zwei Frauen hier“, sagte die Bedienung, „auf die deine Beschreibung passen könnte. „Ist zwei oder drei Wochen her. Sie hatten eine goldene Tik-Karte und wussten nicht damit umzugehen. Außerdem wollten sie, dass ich ihnen helfe, eine ID zu fälschen. Ich hab sie zu einem Freund geführt, der so etwas macht. Danach hab ich sie nicht mehr gesehen. Ich weiß nur, dass sie zum Spaceport wollten.“
Amano stieß einen Pfiff aus.
„Eine goldene Tik-Karte“, sagte er erstaunt. „Frag mich, wie sie an die gekommen sind.“
Die Bedienung zuckte mit den Schultern.
„Interessiert mich nicht. Ich hab gut für meine Hilfe bezahlt bekommen. Tausend Credits gaben sie mir.“
Amano sah die Bedienung ungläubig an. Tausend Credits waren für Serviermägde wie sie beinahe ein Jahresgehalt. Er wunderte sich, dass sie noch hier arbeitete, wenn sie so viel Geld von den Frauen bekommen hatte.
„Wir bezahlen dich ebenso gut“, sagte Kordan und zückte seinen Geldbeutel. Er zählte tausend Credits ab und legte sie auf den Tisch, die schnell in der Rocktasche der Bedienung verschwanden.
„Ich bringe euch euer Essen“, sagte sie und verschwand.
„Was sagst du?“, wollte Amano wissen und sah seinen Cousin an.
„Ich sage, sie sind es“, meinte Kordan. „Deswegen haben wir sie hier nirgendwo gefunden. Sie sind im Spaceport, am letzten Ort, wo ich gesucht hätte. Die beiden Weiber sind cleverer, als ich gedacht hätte. Goldene Tik-Karte. Alle Achtung. Damit leben die sicher in Luxus und ich hab mir Sorgen gemacht, dass sie am Verhungern sind.“
Amano lachte. Er war jetzt neugierig auf die beiden Frauen geworden. Vielleicht wurde der Auftrag ja doch noch ganz amüsant.
„Aber ich bin erleichtert“, sagte er. „Besser, sie leben im Luxus, als dass sie hier irgendwo tot in einem Hinterhof liegen.“
„Ja, du hast recht“, stimmte Kordan zu. „Ich bin auch froh. Ich hoffe nur, dass sie Xevus3 noch nicht verlassen haben, sonst wird es kompliziert für uns.“
***
„Ich kann es nicht glauben, dass wir morgen früh diesen verdammten Planeten verlassen“, sagte Lory.
Charly blickte auf und sah zu ihrer Freundin hinüber, die am Fenster stand und hinausblickte.
„Ich auch nicht“, stimmte sie zu. „Ich weiß gar nicht, was ich als Erstes mache, wenn ich wieder zu Hause bin. Ich hoffe nur, ich hab meine Wohnung noch und alles. Wie lange waren wir jetzt weg?“
„Über zwei Monate und ehe wir da sind, noch ein Monat; also sind wir mehr als ein Vierteljahr weg gewesen. Ich hab auch keine Ahnung, wie wir das jemandem erklären sollen. Was mit meiner Wohnung und meinen Sachen passiert ist, meinem Job, keine Ahnung. Wir werden sehen. Irgendeine Geschichte wird uns auf der Rückreise schon einfallen.“
Auf mich wartet nichts außer einer kleinen Wohnung, mit belanglosen Dingen vollgestopft, und vielleicht nicht einmal mehr das, dachte Charly betrübt. Na ja, macht auch nichts. Ist ʼne gute Gelegenheit, neu anzufangen. War eh eine Scheißbude. So ein Dreckloch bekomm ich überall wieder.
Es hämmerte an der Tür. Charly und Lory sahen sich an und zuckten mit den Schultern.
„Ich geh nachsehen“, meinte Charly. An der Tür guckte sie durch den Sucher. Was sie dort zu sehen bekam, beunruhigte sie.
O weh, die sehen nicht gemütlich aus!
„Da stehen zwei riesige Typen vor der Tür“, flüsterte sie. „Beide groß und breit wie Schränke und der eine von ihnen hat den eiskalten Blick eines Killers. Ich glaub nicht, dass das nette Kerle sind. Was machen wir?“
Lory trat hinzu und sah durch den Sucher.
„Wer ist da?“, fragte sie.
„Wir müssen mit euch reden“, antwortete der mit dem eiskalten Blick. „Wir sind gekommen, euch zu holen.“
„Zu holen?“, wollte Lory wissen. „Wir fliegen doch erst morgen früh. Gehört ihr zur Crew?“
„Ja. Wir gehören zur Crew“, bestätigte derselbe Mann.
„Und das soll ich dir glauben, Wichser“, murmelte Lory und warf Charly einen besorgten Blick zu. „Diese Typen gehören nicht zu Ellyod, darauf verwette ich mein Rückfahrticket. Geh und versteck dich irgendwo. Falls ich nicht mit ihnen fertigwerde, bleib in deinem Versteck bis morgen früh. Wenigstens eine von uns muss es zurück zur Erde schaffen.“
„Aber ich kann dich doch nicht im Stich lassen“, widersprach Charly. Sie wollte nicht feige erscheinen, auch wenn die Angst ihr beinahe die Kehle zuschnürte.
„Baby, diese beiden dort sind wahrscheinlich gefährlich“, sagte Lory eindringlich. „Du hast mir deine Story erzählt, du willst sicher nicht, dass dir noch einmal so etwas Schlimmes passiert. Ich bin hart. Entweder kill ich die Typen oder ich geh drauf. Das ist mein Job. Aber du wirst das nicht durchstehen. Glaub mir. Niemand will, dass du hier die Heldin spielst, also geh und versteck dich gut. Los!“
Charly hatte ihrer Freundin nur eine abgespeckte Version ihrer Geschichte erzählt. Wenn sie wüsste, was sie wirklich erlebt hatte … Sie fröstelte. Was sollte sie jetzt tun? Sie zögerte, dann umarmte sie ihre Freundin kurz und fest. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend lief sie ins Schlafzimmer, um sich zu verstecken.
„Ich will aber nicht mit euch reden“, hörte Charly Lory den Männern zurufen. „Verschwindet!“
„Wir sind geschickt worden, euch zu holen“, rief der andere der beiden. „Wir wollen euch helfen.“
Lory stand im Schlafzimmer und sah sich hektisch um. Wo zum Teufel sollte sie sich nur verstecken?
„Ja, und mein Onkel ist der Kaiser von China“, hörte sie Lorys spöttische Stimme. „Verpisst euch oder ihr werdet es bitter bereuen. Ich kill euch, wenn ihr hier reinkommt!“
O verdammt, verdammt! Was soll ich tun?
„Mach die Tür auf. Wir wollen nur reden. Mach auf!“,
erklang wieder die Stimme des Mannes.
Charly lief in das angrenzende Bad. Sollte sie sich hier einschließen? Aber dann säße sie in der Falle. Das war nicht gut. Das war überhaupt nicht gut.
„Scheiße“, murmelte sie. „Warum musste das jetzt sein? Verflucht!“
Plötzlich hörte sie einen lauten Knall, als ob jemand die Tür eingetreten hätte. Die Geräusche deuteten tatsächlich darauf hin, dass die beiden Männer gewaltsam in ihre Suite eingedrungen waren.
„Hey, sachte, Kleine!“, hörte sie die Stimme eines Mannes. „Lass uns doch wie vernünftige Leute miteinander reden, okay?“
„Du kannst mich mal, Wichser! Nimm das!“, erwiderte ihre Freundin eisig.
Charly konnte Lory für ihren Mut nur bewundern. Sicher, sie war als FBI-Agentin bestimmt solche Szenen gewohnt, doch zwei bullige Kerle gegen eine Frau … das sah übel aus. Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie konnte Lory doch nicht einfach im Stich lassen. Nur, was sollte sie tun? Sie hatte ja nicht einmal eine Waffe zur Hand.
Denk nach! Verdammt, Charly, denk nach!
Sie ging zurück ins Schlafzimmer auf der Suche nach einer brauchbaren Waffe, als sie eine Stimme sagen hörte:
„Geh und such nach der anderen!“
Charly lief es kalt den Rücken hinunter und sie sah sich panisch um.
„Komm mir nicht zu nahe!“, hörte sie Lory erneut.
Charly ergriff eine leere Flasche und öffnete den großen begehbaren Kleiderschrank. Vorsichtig verschloss sie die Tür und lauschte mit klopfendem Herzen. Jemand betrat das Schlafzimmer. Charly umfasste die Flasche so kraftvoll wie möglich. Trotzdem begannen ihre Hände zu zittern. Augenblicklich musste sie an das Martyrium denken, das hinter ihr lag. Die Schläge und Vergewaltigungen. Die Demütigungen und endlosen Stunden der Einsamkeit. Kalter Schweiß bedeckte ihren Körper.
Die Schritte im Schlafzimmer kratzten an ihren Nerven. Sie versuchte herauszuhören, wo er jeweils hinging und was er tat. Jetzt schien er im Bad nachzusehen. Bald würde er auch diesen Schrank inspizieren, da war sie sich sicher. Ob sie versuchen sollte, schnell aus dem Schrank und durch das Schlafzimmer zu fliehen, solange er im Bad war? Doch wohin? Im Wohnzimmer kämpfte Lory mit dem anderen Bastard. Lory! Wieder bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie sollte ihr helfen. Doch wie? Mit einer lächerlichen Flasche in der Hand? Wohl kaum!
Die Schritte näherten sich. Zu spät! Jetzt konnte sie nur noch eines tun: beten!
***
Amano ging auf die Tür zu, die, wie er vermutete, ins Ankleidezimmer führte. Die Frau musste in diesem Raum sein. Ja! Sie war dort. Jetzt, wo er näher kam, konnte er ihre Angst riechen. Sicher würde sie hysterisch reagieren und er würde sie beruhigen müssen. Diese Frau war eindeutig nicht vom gleichen Schlag wie ihre kampferprobte Freundin, die sich so tapfer gegen Kordan zu schlagen schien. Wenn er die Geräusche, die aus dem Wohnzimmer drangen, richtig deutete, dann hatte sein Cousin mit der kleinen Kämpferin alle Hände voll zu tun.
Er war froh, dass die Frau, die er retten sollte, nicht so eine Wildkatze zu sein schien. Der Gedanke, gegen eine Frau zu kämpfen, behagte ihm nicht. Frauen waren zarte Wesen, die man beschützen und verwöhnen sollte.
Seine Hand griff nach der Türklinke. Vorsorglich setzte er schon mal ein freundliches Lächeln auf, um das arme Ding nicht zu erschrecken. Seine Größe und die muskulöse Gestalt würden sicherlich einschüchternd auf sie wirken, doch er würde ihr schon klarmachen, dass ihr von ihm keine Gefahr drohte. Vorsichtig öffnete er die Tür und sein Blick fiel auf einen Rotschopf. Viel konnte er nicht sehen, bevor eine Flasche ihn am Kopf traf. Sie zerbarst an Amanos hartem Schädel. Zum Glück war sie leer gewesen. Erstaunt musterte er die Frau vor sich, die ihn jetzt erschrocken ansah. Sicher hatte sie sich von ihrem Angriff mehr Wirkung erhofft. Sie konnte ja nicht ahnen, dass Carthianer solche Dickschädel waren. Buchstäblich und sprichwörtlich!
„Hey, Kleines“, sagte er und hob vorsichtig die Hände, um ihr zu zeigen, dass er keine Waffe hatte. „Ich tu dir ja nichts. Ich bin hier, um dich zu retten.“
„Ja klar!“, zischte sie und trat einen Schritt zurück, den abgebrochenen Flaschenhals vor sich haltend. „Ich zerschneide dir dein hübsches Gesicht, wenn du näher kommst.“
Amano lächelte.
„So, du findest mich also hübsch, ja? Dann sind wir uns ja schon einig. Ich finde dich auch niedlich.“
„Ich-bin-nicht-NIEDLICH!“, sagte sie, jedes Wort betonend. „Komm näher und finde es heraus!“
Amanos Mundwinkel zuckten amüsiert. Ganz so kampflos würde er die Kleine hier wohl doch nicht rauskriegen.
„Leg das alberne Ding weg“, sagte er ruhig. „Du könntest dich damit verletzen.“
„Ich habe nicht vor, noch einmal einem verfluchten Hurensohn wie dir in die Hände zu fallen“, sagte sie und hielt sich plötzlich die scharfe Kante der abgebrochenen Flasche an den Hals. „Eher sterbe ich, als dass ich zulasse, dass du Hand an mich legst.“
Amanos Puls beschleunigte sich, als er sah, wie ein zarter Blutstropfen an ihrem Hals erschien. Das hatte ihm noch gefehlt, dass sie sich selbst verletzte, das dumme Ding.
„Hey“, sagte er und schüttelte leicht den Kopf. „Kein Grund, gleich dramatisch zu werden, Kleine. Ich tu dir doch nichts. Ich verspreche dir, dass du bei mir in Sicherheit bist. Ich bin nur hier, um dich zu retten.“
„Du kannst mir viel erzählen, doch das heißt noch lange nicht, dass du die Wahrheit sagst. Brichst hier gewaltsam in unsere Suite ein und erwartest allen Ernstes, dass ich dir vertrauen soll?“
Amano musste zugeben, dass sie recht hatte. Von ihrer Perspektive aus gesehen, wirkte er wahrscheinlich nicht gerade wie ein Freund oder Retter.
„Wir haben die Tür nur eingetreten, weil ihr sie nicht geöffnet hattet“, versuchte er, sein Verhalten und das seines Cousins zu erklären.
Sie zog eine wohlgeformte Augenbraue in die Höhe und ihre grünen Augen funkelten spöttisch.
„Schon mal überlegt, dass wir euch nicht öffnen wollten? Immerhin kennen wir euch nicht. Wenn ihr immer gleich Leuten die Tür eintretet, nur weil sie euch nicht öffnen, dann wunder dich nicht, wenn man euch nicht vor Begeisterung um den Hals fällt.“
„Das mit dem Um-den-Hals-Fallen hat ja noch Zeit, bis wir uns besser kennen“, sagte Amano lächelnd. „Mir würde es fürs Erste genügen, wenn du das Ding von deinem zarten Hals nehmen und mitkommen würdest.“
„Träum weiter!“, zischte die Rothaarige und presste den Flaschenhals noch fester an ihr weißes Fleisch. Ein neuer Blutstropfen quoll heraus.
Amano fluchte innerlich. Das lief nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Wenn sie sich die Kehle durchschnitt, würde er sie nicht retten können. Bis er sie zur Medizineinheit geschafft hätte, wäre sie längst verblutet. Er musste sie irgendwie ablenken. Doch wie?
„Okay“, sagte er schließlich. „Vorschlag zur Güte. Moment. Keine Panik.“
Er trat einen Schritt zurück, um weniger bedrohlich zu wirken, und zog langsam, sodass sie es sehen konnte, sein langes Messer aus der Scheide. Dann richtete er die Spitze ebenso langsam gegen seine Brust, wo sein Herz wie wild schlug, und sah sie herausfordernd an.
„Hier“, forderte er sie auf, „nimm die Klinge, dann hast du die Karten in der Hand. Ich will dir wirklich nichts tun.“
Er sah sie direkt an. Ihr Blick wanderte zu der Klinge, dann zurück zu seinem Gesicht. Zu seiner Erleichterung lockerte sich etwas ihr Griff um den Flaschenhals, während sie anscheinend überlegte. Vorsichtig streckte sie die freie Hand nach ihm aus.
„Du hast nicht genug Kontrolle über deine linke Hand“, sagte er ruhig und ihre Hand hielt auf halber Strecke inne. „Du solltest die rechte Hand nehmen.“
„Aber ... die rechte Hand brauche ich, um ...“
„Schmeiß die blöde Flasche weg. Diese Klinge ist besser“, sagte er und wartete gespannt. Schließlich ließ sie die rechte Hand sinken und der Rest der kaputten Flasche fiel zu Boden. Ehe sie nach seinem Messer greifen konnte, sprang er vor und packte sie.
Sie schrie auf und versuchte, in seinen Arm zu beißen.
„Ich wusste, dass ich dir nicht trauen kann“, klagte sie ihn an.
***
Charly verfluchte sich selbst, weil sie auf seinen Trick hereingefallen war. Sie schrie und wehrte sich verbissen in seinem Griff. An seinem leisen Fluchen erkannte sie, dass sie es ihm nicht leicht machte. Gut! Sie hatte nicht vor, sich kampflos zu ergeben.
„Halt doch still“, raunte der Kerl und gab einen Schmerzenslaut von sich, als sie kräftig gegen sein Schienbein trat.
Doch zu ihrer Enttäuschung wurde sein Griff nur fester anstatt lockerer. Er hob sie einfach hoch und schwang sie über seine Schulter, als wäre sie ein Sack Getreide. Sie trommelte mit ihren Fäusten gegen seinen Rücken, doch der Bastard ließ sich nicht beirren und trug sie aus dem Schlafzimmer.
„Nein, lass mich los!“, schrie sie.
Sie brüllte und fluchte, bis sie plötzlich verstummte, als sie Lory auf der Couch liegen sah. Eine riesige Scherbe ragte aus dem Bauch ihrer Freundin und da war eine Unmenge Blut überall. Der blonde Hüne, mit dem ihre Gefährtin gekämpft hatte, war über Lory gebeugt. Er sah panisch aus, doch das registrierte Charly nicht. Ihr Entsetzen verwandelte sich in nackte Wut und sie fing erneut an zu toben.
„Du Bastard!“, schrie sie außer sich. „Was hast du mit ihr gemacht? Schwein! Hurensohn! Du verficktes Arschloch! Ich mach dich platt, wenn ich dich kriege. Das wirst du mir büßen!“
Sie verstummte endgültig, als Amano ihr einen gezielten Schlag auf den Kopf verpasste und es schwarz um sie herum wurde.