Y-Quadrant
Im Orbit des Planeten Karrx7
04. Tag des Monats Manao im Jahr 7067 Federationszeit
Nachdem Charly Lory mit Kordan in der Kantine gesehen hatte, war ihre Freundin zu ihr in Amanos Kabine gezogen. Sie schien Kordan aus dem Weg zu gehen, doch wenn sie aufeinandertrafen, gerieten sie stets aneinander. Charly hatte versucht, etwas aus ihr herauszukriegen, doch sie wollte sie auch nicht gezielt auf das ansprechen, was sie gesehen hatte. Je mehr Zeit verging, desto überzeugter war sie davon, dass Lory etwas für den Carthianer empfand.
Sie betrat die Kabine, wo Lory in einem Sessel saß und vor sich hin brütete.
„Bist du bereit?“, fragte sie.
Sie würden in Kürze auf den Planeten der Carthianer hinuntergebracht werden und Charly war schon ganz aufgeregt. Sie war froh, der Enge dieser Kabine zu entkommen und wieder frische Luft zu atmen. Sie freute sich auf die Bäume, denn Amano hatte ihr viel von den Wäldern seiner Heimat vorgeschwärmt.
Ihre Freundin blickte auf und nickte. Langsam erhob sie sich aus dem Sessel und starrte Charly abschätzend an.
„Du bist in ihn verliebt, hab ich recht?“
Charly errötete. Sie fühlte sich ertappt. Tatsächlich hatte sie angefangen, Gefühle für Amano zu entwickeln, doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie sich auf das Risiko einer Beziehung einlassen würde. Eine Beziehung führte zwangsläufig zu Sex. Und Sex stand für sie ganz eindeutig außer Frage.
„Ich weiß nicht“, antwortete sie vage. „Ich mag ihn. Er ist sehr … nett.“
Lory schnaubte.
„Nett?“, stieß sie verächtlich hervor. „Du leidest offensichtlich am Stockholmsyndrom. Wie kannst du es nett finden, dass er dich entführt und hierher zu seinem verdammten Alien-Planeten verschleppt hat?“
„Sie haben uns gerettet, Lory“, versuchte sie ihrer Freundin begreiflich zu machen.
„Gerettet!“, rief Lory spöttisch aus. „Klar. Hast du schon vergessen, Herzchen? Wir hatten unser Rück-fahr-ticket zur Erde bereits in der Tasche.“
„Amano sagt, dass dieser Ellyod Allegrass ein berüchtigter Spacepirat ist und sehr gefährlich. Er meint, dieser Kerl hätte uns nicht zur Erde geflogen, sondern uns wahrscheinlich wieder als Sklavinnen irgendwo verkauft.“
„Hat er Beweise?“, fragte Lory spitz. „Nein! Hat er nicht. Er kann alles behaupten, um dich weichzukochen.“
„Ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber ich werde mir das nicht länger anhören“, meinte Charly ärgerlich. „Ich sollte dich zum Transporterraum bringen, weil wir jetzt das Schiff verlassen, doch wenn du lieber hier oben bleiben willst? Bitte! Ich für meinen Teil werde jetzt gehen.“
Wütend verließ sie den Raum und stürmte durch den schmalen Gang auf den Fahrstuhl zu. Was bildete sich Lory eigentlich ein? Sie war es gewesen, die sich mit einem dieser Aliens eingelassen hatte. Und der Laune ihrer Freundin nach zu urteilen war es mehr als nur Sex gewesen. Also, wie kam sie jetzt dazu, ihr Vorwürfe zu machen? Aufgebracht betrat sie den Fahrstuhl.
„Transporterraum“, sagte sie. Die Türen schlossen sich und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.
***
Gebeamt zu werden, war nicht unbedingt ein angenehmes Gefühl, doch Charly war überwältigt, als sie auf einer Lichtung landeten und sie sich vorsichtig umsah. Die Bäume um sie herum waren gigantisch und die Luft so frisch nach dem stets etwas nach Klinik riechenden Raumschiff.
„Komm“, sagte Amano und fasste sie am Arm.
Sie betraten einen breit angelegten Waldweg, der zwischen den mächtigen Bäumen verlief. Der Weg endete an einer hohen Mauer. Ein massives Tor öffnete sich auf Kordans Ruf hin und sie betraten eine weitläufige und gepflegte Parkanlage. Vor ihnen lag ein großer Palastbau mit hohen Türmen. Das Gebäude bestand aus drei Flügeln und war drei Stockwerke hoch. Fasziniert starrte Charly auf das prunkvolle Gebäude, das ihr wie ein Märchenschloss erschien. Vielleicht konnte sie sich hier doch ganz wohlfühlen. Sie kam sich beinahe wie eine Prinzessin vor.
Dann sah sie Solima auf sich zurennen, und winkte ihr lachend zu. Vor Freude leise aufschreiend, lief sie dem Mädchen entgegen.
„Charly!“, rief Solima überglücklich und fiel ihr in die Arme.
Charly drückte das Mädchen an sich. Sie war froh, die Kleine wohlauf zu sehen. Nicht auszudenken, was dem Kind alles hätte widerfahren können.
„Ich freu mich, dich zu sehen“, sagte sie aufrichtig und ihr Blick glitt über das strahlende Mädchen.
„Ich freu mich auch“, sagte Solima mit einem breiten Grinsen. „Wir hatten uns solche Sorgen gemacht, dass Kordan und Amano euch vielleicht nicht finden würden oder ihr schon tot wärt. Doch als wir die Nachricht von eurer Rettung bekamen, waren wir überglücklich.“
Charly spürte, wie sich eine warme Hand auf ihren Rücken legte. Sie wandte den Kopf und erblickte Amano, der lächelnd auf sie hinabsah. Zum ersten Mal, seit Amano ihr in der Suite gegenübergestanden hatte, sah sie ihn als das, was er wirklich war. Ihr Retter. Sie erwiderte zaghaft sein Lächeln und ließ zu, dass er ihr einen Arm um die Schulter legte. Es war ungewohnt und sie versteifte sich ein wenig, doch sie kam auch nicht umhin, zu bemerken, wie aufregend ihr Retter roch und wie kraftvoll sich sein Körper neben ihr bewegte.
„Wir sollten die anderen begrüßen“, sagte er leise an ihrem Ohr und sein heißer Atem kitzelte sie, löste einen warmen Schauer aus, der sie sanft erzittern ließ.
Jetzt entdeckte sie die Gruppe, die in einiger Entfernung saß und zu ihnen herüberblickte. Sie sah Keela und Amber mit zwei Kriegern und ein etwas älteres Paar. Charly vermutete, dass es sich dabei um den König und die Königin handelte.
„Okay“, stimmte sie mit schwacher Stimme zu. Sie war ein wenig aufgeregt.
„Dann kommt, Ladys“, sagte Amano und legte seine freie Hand auf Solimas Schulter. Zusammen gingen sie auf die Gruppe zu. Charly bemerkte aus den Augenwinkeln, dass auch Lory und Kordan jetzt direkt hinter ihr waren. Gleichzeitig erreichten sie Keela und die anderen.
Der König erhob sich und lächelte sie freundlich an.
„Herzlich willkommen. Wir freuen uns, dass ihr endlich wohlbehalten bei uns angekommen seid. Ich hoffe, ihr werdet euch bei uns wohlfühlen und euch von den Abenteuern erholen, die hinter euch liegen.“
„Wohlbehalten“, schnaubte Lory neben ihr.
„Danke für die herzliche Begrüßung, Euer Hoheit“, griff Charly diplomatisch ein. „Es war überaus freundlich von Euch, Eure Männer zu unserer Rettung zu schicken.“
Der König lächelte sie warm an und sie stellte fest, dass sie ihn auf Anhieb gut leiden konnte. Auch die Königin machte einen sympathischen Eindruck.
„Nenn mich einfach Mortociar, mein Kind“, bot der König ihr an. „Wir betrachten euch Mädchen als Teil der Familie. Setzt euch doch zu uns und nehmt eine kleine Erfrischung zu euch.“
„Ich muss hier etwas klarstellen“, unterbrach Lory, Kordans mahnenden Blick ignorierend. „Ich bin nicht freiwillig hier und habe diesem Ochsen hier schon gesagt, dass ich nicht vorhabe, ein Zimmer mit ihm zu teilen, und dass ich nicht sein Eigentum bin, nur weil ich mit ihm geschlafen habe. Ich weiß ja nicht, wie das hier bei euch so läuft, aber wo ich herkomme, ist Sex allein noch kein Heiratsversprechen. Ich erwarte weder eine Luxussuite noch irgendwelche anderen Privilegien. Wenn ich eine kleine Kammer bekommen könnte und man mir behilflich sein würde, einen Weg zu finden, wie ich zur Erde zurückkomme, wäre ich in der Tat sehr dankbar.“
„Liebe Lory, so ist doch dein Name, nicht wahr?“, begann die Königin und als Lory nickte, fuhr sie fort: „Ich entschuldige mich für alle Unannehmlichkeiten, die du bisher erdulden musstest. Ich kann deine Aufregung verstehen. Bitte nimm dir die Zeit, zur Ruhe zu kommen und deine Schritte gut zu überlegen. Wir sind natürlich bereit, dir zu helfen, nach Hause zu kommen, doch dies kann sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Augenblicklich wissen wir ja nicht einmal, wo euer Planet überhaupt liegt. Ich werde Anweisung geben, dass sich unser Astronom mit dir zusammensetzt, um dieses Problem zu lösen, doch wir können uns nicht in die Dinge einmischen, die zwischen dir und Kordan bestehen. Solange du dich hier auf Karrx7 befindest, ist Kordan für dich verantwortlich und ich hoffe, dass ihr eure Probleme beilegen könnt und du vielleicht doch bei uns bleibst. Offensichtlich seid ihr beide Gefährten, auch wenn du dies im Moment noch nicht erkennen und akzeptieren magst.“
Charly musterte die Königin während ihrer kleinen Ansprache. Sie war eine bildschöne Frau und ihre Augen zeigten Wärme und Freundlichkeit.
„Gefährten? Sind hier alle vollkommen durchgedreht?“, fragte Lory. „Ich gehe lieber in den Wald und lebe dort, als den Rest meines Lebens mit diesem … Aaarg, lass mich runter, du Ochse.“
Mit Entsetzen sah Charly, wie Kordan sich Lory schnappte und einfach über die Schulter warf. Ihre Freundin strampelte und schlug auf den Hünen ein, wo immer sie ihn treffen konnte, doch Kordan schien keinerlei Notiz davon zu nehmen. Charly wollte ihr zu Hilfe eilen, doch Amano hielt sie am Arm zurück.
„Er wird ihr nichts tun“, raunte er ihr ins Ohr. „Kordan würde ihr nie wehtun. Vertrau mir.“
Sie nickte und betrachtete weiter das Schauspiel. Doch ganz wohl war ihr dabei nicht.
„Bastard! Sohn einer Hure! Lass mich runter ...“, brüllte Lory außer sich.
„Tante, Onkel“, sagte Kordan zum Königspaar und wandte sich zum Gehen, ohne auf Lorys Toben und Fluchen zu achten.
Charly sah den beiden hinterher, dann blickte sie in die Runde. Das Königspaar schien dem Vorfall nicht viel Bedeutung beizumessen. Nur Keela sah ähnlich entsetzt aus, wie sie sich selbst fühlte.
„Kann … kann man da wirklich nichts machen?“, fragte Keela offensichtlich verstört. „Ich meine, sie scheint das wirklich nicht zu wollen, der wird ihr doch keine Gewalt antun, oder?“
Die Königin legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm.
„Mach dir keine Sorgen. Unsere Männer wenden niemals Gewalt gegen Frauen an. Abgesehen von Festhalten oder Davontragen wird Kordan ihr nichts tun. Und du hast selbst gehört, dass sie miteinander geschlafen haben, also lässt er sie offenbar nicht so kalt, wie sie das jetzt gern behaupten möchte. Carthianer vergewaltigen nicht. Wenn sie Sex miteinander hatten, dann, weil sie es auch wollte.“
„Charly, du bist die Reise über mit den beiden zusammen gewesen, vielleicht kannst du ein wenig mehr über die Probleme erzählen, die die beiden miteinander haben“, mischte sich der König ein.
Charly hatte sich mittlerweile etwas beruhigt und schlürfte an einem Tajaka. Sie warf Amano einen Blick zu und der nickte zustimmend.
„Nun, es ist ein ständiges Auf und Ab mit den beiden. Kordan war von Beginn an hinter ihr her wie ein Raubtier hinter seiner Beute. Doch Lory ist eine Frau, die es gewohnt ist, Befehle zu geben, und so ecken sie und Kordan ständig miteinander an. Ich kann aber bestätigen, dass definitiv etwas zwischen ihnen läuft, und das ist nicht nur einseitig. Wir haben sie einmal dabei erwischt, zufällig natürlich, ähm ...“ Charly wurde rot und blickte Amano Hilfe suchend an. Allein der Gedanke daran, was die beiden miteinander getrieben hatten, löste ein seltsames Prickeln in ihrem Leib aus und ihr wurde auf einmal viel zu heiß.
Amano grinste amüsiert, doch kam er ihr zu Hilfe, indem er die Geschichte weitererzählte: „Die beiden waren in der Kantine, als Charly und ich hereinplatzten, und sie waren ziemlich heftig bei der Sache und ich hatte nicht den Eindruck, dass Lory zu etwas gezwungen werden musste.“ Zwinkernd fügte er hinzu: „Auch wenn sie geschrien hat, so waren das ganz sicher keine Hilfeschreie.“
Prinz Berka, der mit am Tisch saß, kicherte und der König versteckte seine Heiterkeit hinter einem Hüsteln. Amber war rot geworden wie eine Tomate. Sie schien genauso verlegen zu sein wie Charly.
„Vielleicht möchtest du dich erst einmal ein wenig frisch machen, Charly“, sagte die Königin und erhob sich. „Ich führe dich in deine Gemächer. Amano wird dem König erst einmal Bericht über eure Rettungsaktion erstatten müssen, doch du siehst müde aus.“
Charly erhob sich zögernd.
„Ja, ich fühle mich ein wenig abgeschlagen“, gab sie zu und war erleichtert, sich zurückziehen zu können. Vor allem, wenn Amano noch zu tun hatte. Ein wenig allein zu sein, würde ihr guttun und sie konnte über diese seltsamen Gefühle nachdenken, die sie seit Kurzem in seiner Nähe befielen.
Sie folgte der Königin durch die Gänge des Palastes. Charly hatte noch nie zuvor solchen Prunk gesehen und war ein wenig eingeschüchtert.
„So, hier sind wir“, sagte die Königin und blieb vor einer großen Tür stehen.
Charly blickte auf den Eingang und fragte sich, ob sie in der Lage wäre, wieder von hier aus den Weg nach draußen zu finden. Dieser Palast war so riesig und alle Türen und Gänge ähnelten sich so sehr.
Die Königin öffnete die Tür und Charly folgte ihr in den Raum. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Er war noch größer und luxuriöser als die Suite, die sie auf Xevus3 bewohnt hatten. Den Raum beherrschte ein riesiges Bett mit dunkelblauem Himmel. Zu ihrer Rechten befand sich ein großer Bereich mit Sofas, Sesseln und Tischchen, dazwischen standen große Pflanzen und dekorative Statuen. Auf der linken Seite befand sich eine Bar und weitere Sitzmöbel. Auch sah sie dort zwei weitere Türen.
„Wünschen Eure Hoheit etwas zur Erfrischung?“, erklang eine weibliche Stimme und Charly sah sich um, doch außer der Königin konnte sie niemanden entdecken.
„Ja bitte, Ceyla. Lass bitte Tee und vielleicht ein wenig Gebäck bringen“, sagte die Königin.
„Kommt sofort, Euer Hoheit“, antwortete die unsichtbare Stimme, die von überall her zu kommen schien.
„Danke, Ceyla.“
„Wer ist Ceyla?“, fragte Charly leise. „Der Zimmerservice?“
Die Königin kicherte.
„Zimmerservice? Nein, Ceyla ist viel mehr als das. Sie ist der Zentralcomputer des Palastes. Wenn du Hilfe brauchst, etwas möchtest oder dich verlaufen hast, dann brauchst du sie nur zu fragen.“
„O-kay“, antwortete Charly etwas zögerlich. Sie fühlte sich von all dem Luxus hier wie erschlagen. Ihr kleines schäbiges Apartment hätte mindestens sechs Mal hier reingepasst.
„Ich zeige dir noch alles. Komm, meine Liebe. Hier ist das Bad.“
Sie öffnete eine Tür auf der rechten Seite und sie betraten ein Bad, das locker die Ausmaße von Charlys kompletter Wohnung hatte. Es gab eine runde Badewanne, die in den Boden eingelassen war, eine Reihe von Waschbecken vor einer Spiegelwand, die andere Wand sah aus, als wäre sie aus Felsen. Nur eine Toilette konnte sie nicht sehen.
„Die Dusche funktioniert per Stimmbefehl“, erklärte die Königin. „Ich zeig es dir.“
Sie traten etwas näher an die Felswand heran und Charly sah die Königin irritiert an. Was für eine Dusche?
„Wasser an, warm, mittlerer Grad.“
Sofort ergoss sich ein Wasserfall von der Felswand und Charly trat erschrocken einen Schritt zurück. Damit hatte sie nicht gerechnet.
„Du kannst per Stimme das Wasser wärmer oder kälter stellen und den Härtegrad zwischen weich, mittel oder hart wählen.“ Sie sah Charly lächelnd an. „Wasser aus“, befahl sie und das Wasser stoppte. „Gebläse warm, höchste Stufe.“
Sofort startete ein warmes Gebläse in dem Duschbereich. Charly konnte gar nicht erwarten, das alles selbst auszuprobieren. So etwas Praktisches hatte sie noch nie in ihrem Leben zu sehen bekommen.
„Das ist wundervoll“, sagte sie begeistert.
„Ja, es ist sehr nützlich“, schmunzelte die Königin. „Gebläse aus.“ Das Gebläse verstummte sofort.
„Aber wo ist denn die ... die“, stammelte Charly.
„Die Toilette?“
Charly nickte.
„Hier“, sagte die Königin und drückte auf einen Knopf neben der Dusche und ein Teil der Wand öffnete sich und gab den Blick auf eine groß angelegte Toilette frei. Es waren insgesamt drei Kabinen darin und weitere Waschbecken.
„Hoheit?“, erklang die Stimme von Ceyla. „Der Tee ist serviert.“
„Danke, Ceyla“, sagte die Königin. „Komm, Kind. Ich zeige dir nur noch schnell das Ankleidezimmer, ehe ich dich deinem Tee überlasse.“
Sie führte Charly aus dem Bad und öffnete eine Tür einige Meter weiter nahe der langen Fensterfront. Sie führte in ein großes Zimmer mit Schränken und einem riesigen Schminktisch.
„Es sind einige Kleider hier in diesem Schrank“, sagte die Königin und öffnete einen von ihnen. „Da wir deine Maße nicht hatten, haben wir erst einmal nur ein paar angefertigt. Später werden wir dir noch weitere anpassen.“
„D-danke“, stammelte Charly überwältigt von dem Anblick der Kleider. Es mussten mindestens zehn Stück sein und die Stoffe sahen kostbar aus.
„Unterwäsche ist in dieser Schublade. Ich habe verschiedene Größen reinlegen lassen. Ich war mir nicht sicher. Keela erwähnte, du wärst recht gut gebaut obenrum.“
Charly errötete und starrte verschämt auf ihre tatsächlich recht beachtliche Oberweite. Sie hasste ihre großen Brüste. Das hatte schon oft zu blöden Sprüchen und dummer Anmache geführt.
Die Königin schien von ihrer Verlegenheit keine Notiz zu nehmen oder zumindest ließ sie sich nichts anmerken. Charly folgte ihr zurück in den Wohnbereich, wo ein Tablett auf einem der Tische stand.
„Ich lasse dich jetzt allein“, sagte die Königin. „Denk dran, dass du dich jederzeit an Ceyla wenden kannst.“
„Danke.“
Die Königin verließ den Raum und Charly stand eine Weile unschlüssig da, ehe sie sich langsam auf den Tisch mit dem Tablett zubewegte. Sie nahm auf einem der Sessel daneben Platz. Ihr Blick fiel auf das Tablett. Darauf standen eine silberne Kanne, eine zierliche Porzellantasse und eine Schale mit Gebäck, das sie ein wenig an die Baklava erinnerte, die ihre türkischstämmige Zimmergenossin von der Uni immer gebacken hatte. Sie nahm eines der kleinen Gebäckstücke zwischen die Finger und steckte es vorsichtig in den Mund. Es schmeckte ein wenig anders als Baklava, aber genauso süß. Und es war auch genauso klebrig. Zum Glück lag eine gefaltete Serviette neben dem Schälchen. Sie schleckte ihre klebrigen Finger ab und wischte sie mit der Serviette trocken. Dann schenkte sie sich von dem Tee ein und machte es sich gemütlich.
Eine halbe Stunde später ging die Tür auf und Charly schreckte aus ihrem Sessel hoch. Es war Amano. Er hatte die Tür hinter sich geschlossen und stand nun reglos da, sie aus seinen braunen Augen musternd. Ihr Herz schlug schneller und sie suchte nach Worten, um diese peinliche Stille zwischen ihnen zu durchbrechen.
„Hast du dich ein wenig erholt?“, fragte er und kam langsam auf sie zu.
„Ja“, gab sie schwach zurück. Mit jedem Schritt, mit dem er ihr näher kam, schien ihr Herz noch schneller zu schlagen.
Er setzte sich ihr gegenüber und nahm sich ein Gebäckstück. Sie beobachtete, wie er es in den Mund schob, ohne die Augen von ihr zu lassen.
„Wirst ... wirst du etwa auch in diesem Zimmer ...“
„Was hattest du gedacht?“, fragte er leise und schleckte sich genüsslich den Zucker von den Fingern.
Sie schluckte, als ihre Augen genau verfolgten, wie ein Finger zwischen seinen sinnlichen Lippen verschwand, während er sie mit diesem eindeutigen Blick bedachte. Dieser Mann sah viel zu gut aus und war viel zu sexy für ihren Geschmack. Es war nur zu offensichtlich, dass er gerade an Sex dachte. Ihr wurde ganz kribbelig und sie zwang sich, den Blick abzuwenden.
„Mache ich dich nervös?“, fragte er mit einem leisen Lachen in der Stimme.
„Nein!“, sagte sie etwas zu hastig. „Warum solltest du? Du bildest dir zu viel ein.“
Er lachte und sie errötete.
Blöde Kuh!, schalt sie sich im Stillen.
„Ich würde lieber ein Zimmer für mich allein haben“, sagte sie. „Es kann auch ganz klein und bescheiden sein.“
„Hast du Angst?“, fragte er und sie hob vorsichtig den Blick, um ihn anzusehen. Sie hatte erwartet, Spott in seinen Augen zu erkennen, doch stattdessen sah sie Besorgnis.
„Ich ... ich fühle mich nicht wohl in der Gegenwart von ... von Männern“, gestand sie.
So, nun ist es raus!
„Ich vermute, dass du einen guten Grund dafür hast?“, erwiderte er ruhig.
Sie nickte und kämpfte tapfer die Tränen zurück. Sie wollte nicht an das Vergangene denken. Sie hatte es so gut begraben gehabt. Musste dieser Mann ihr so auf die Pelle rücken?
Verdammt!
„Jemand hat dir wehgetan.“
„Ja“, antwortete sie schlicht und hoffte, er würde es dabei belassen.
Sie traute sich nicht, ihm in die Augen zu sehen, also starrte sie auf seine Hände, die sich bei ihrer Antwort zu Fäusten geballt hatten.
„Ich werde für dich Rache üben. Eines Tages, wenn wir wissen, wo dein Planet liegt“, sagte er und sie stellte erstaunt fest, dass er es ernst meinte. Die mühsam unterdrückte Wut in seiner Stimme war unverkennbar.
Ohne dass sie es wollte, rollte eine erste Träne über ihre Wange.
„Willst du darüber reden?“, fragte er. Diesmal war seine Stimme sanft, besorgt.
Sie schüttelte den Kopf.
„Kann nicht“, brachte sie leise hervor, ehe die Tränen anfingen wie Sturzbäche aus ihren Augen zu quellen.
Er war aufgesprungen und neben ihrem Sessel in die Knie gegangen, um sie zu umarmen, doch sie schob ihn beiseite.
„Nicht!“, sagte sie beinahe panisch und er ließ von ihr ab.
„Ich hab gedacht, wir wären über dieses Stadium des Nicht-Berührens hinweg. Entschuldige. Ich wollte dich nur ... nur trösten“, erklärte er. „Würdest du mit einer Frau sprechen? Dich von ihr trösten lassen?“
Sie nickte.
„Ich hole Moreena. Warte hier.“
***
Amano eilte aus dem Raum und fragte Ceyla nach der Königin. Sie war in ihrem Studio, wo sie zu malen pflegte, also begab er sich dorthin. Charly so aufgelöst zu sehen und ihr nicht helfen zu können, hatte ihn beinahe um den Verstand gebracht. Er verspürte den Drang, den Mann zu töten, der sie so verletzt hatte. Was hatte der Kerl bloß mit ihr angestellt?
„Moreena?“, rief er, als er das Studio betrat.
„Ich bin hier“, lautete die Antwort der Königin.
Amano ging in den zweiten Raum des großen Ateliers und Moreena sah ihn besorgt an. Sicher konnte sie ihm ansehen, wie es um ihn stand.
„Was ist geschehen?“, fragte sie.
„Charly“, brachte er aufgeregt hervor. „Sie weint. Irgendein Bastard hat ihr in der Vergangenheit wehgetan, aber sie will weder mit mir darüber reden noch sich trösten lassen. Sie hat aber zugestimmt, mit dir zu reden.“
Die Königin legte ihren Pinsel beiseite und wischte sich die Hände an einem Tuch ab.
„Ich gehe sofort zu ihr.“
„Kann ich hierbleiben und zuhören?“
„Sicher. Du solltest wissen, was mit deiner Gefährtin geschehen ist. Mach es dir bequem.“ Sie küsste ihn auf die Wange und lächelte ihm zu. „Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das schon wieder hin.“
Nachdem die Königin gegangen war, setzte sich Amano vor den großen Bildschirm in der Ecke des Studios.
„Ceyla, hol mir den Sitzbereich meiner Gemächer auf den Bildschirm und schalte die Tonübertragung hinzu.“
„Gern. Einen Moment“, erwiderte der Computer und kurz darauf hatte er den gewünschten Bereich auf dem Bildschirm vor sich.
„Zoom näher an Lady Charly heran.“
Das Herz wurde ihm schwer, als er das gerötete Gesicht seiner Gefährtin in Großaufnahme sah.
„Nicht ganz so nah.“
Der Computer zoomte etwas zurück und jetzt hatte er Charly komplett im Blick. Es klopfte an der Tür seiner Gemächer und Charly hob den Blick.
„Ja“, hörte er sie sagen.
Kurze Zeit später erschien die Königin im Bild. Sie strich Charly tröstend über den Kopf und setzte sich dann neben sie in einen Sessel.
„Amano informierte mich, dass es dir nicht gut gehen würde. Er bat mich, nach dir zu sehen. Ist dir das recht?“, hörte er ihre Stimme über die Lautsprecher.
Charly nickte.
„Er macht sich wirklich große Sorgen um dich. Ich habe ihn selten so aufgeregt gesehen“, sagte Moreena.
Charly sah die Königin an, doch sie blieb stumm. Nur ihr leises Schluchzen war zu hören.
Moreena beugte sich etwas zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Arm.
„Hast du jemals mit jemandem darüber geredet, was dir geschehen ist?“
„Nur ... nur mit der Polizei und mit Lory, aber ich habe nicht alle .. nicht alle Einzelheiten ....“
„Möchtest du mir davon erzählen?“
Charly wischte sich über die feuchten Augen, dann nickte sie.
„Ich weiß ... nicht, wo ... wo ich anfangen soll.“
„Lass dir Zeit“, sagte die Königin sanft. „Atme tief durch und dann beginne mit dem, was dir einfällt.“
Charly schien sich zu sammeln, ehe sie zu sprechen anfing.
„Ich war auf der Abschlussparty gewesen. Die Abschlussparty der Uni. Meine Freundin Hallie und ich hatten einen über den Durst getrunken. Ich ... ich kam einem der Jungs aus meinem Jahrgang etwas näher. Es war laut und voll auf der Party, also ... also schlug Bob vor, dass wir ...“ Charly richtete sich etwas auf und wischte sich erneut über die Augen, ehe sie weitersprach: „... Er schlug vor, dass wir eine kleine Spritztour mit seinem Auto machen, und ich ... ich stimmte zu.“
Amano starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Seine Eingeweide krampften sich schmerzlich zusammen, als er daran dachte, was dieser Bob ihr wohl angetan haben mochte. Seine Hände krallten sich in die Armlehnen des Stuhls, auf dem er saß.
Moreena sah Charly abwartend an.
„Wir hielten auf einem einsam gelegenen Parkplatz“, berichtete Charly weiter. „Er kam gleich zur Sache und wollte ... wollte mir an die Wäsche, doch mir ging das ... zu schnell. Ich hatte Angst. Ich fühlte mich nach der Fahrt auch wieder etwas nüchterner und ich bereute, mich auf diese Spritztour eingelassen zu haben. Ich wehrte mich und Bob ... Er ließ von mir ab und schrie mich an. Er war sauer und beschimpfte mich. Er ...“
„Hat er dir Gewalt ...“
„Nein!“, unterbrach Charly die Mutmaßung der Königin. „Er schmiss mich aus dem Auto und fuhr davon.“
„Er hat dich allein zurückgelassen?“, fragte die Königin ungläubig.
Charly nickte.
„Ich lief also allein nach Hause“, fuhr Charly fort. „Was sollte ich auch tun? Ich hatte mein Handy und mein Geld in meiner Handtasche, und die war noch in Bobs Auto, also konnte ich mir kein Taxi rufen. Es war ein weiter Weg, doch irgendwann landete ich wieder in meinem Stadtteil und ich fühlte mich schon sicher, aber dann ...“ Sie brach ab und schluchzte erneut.
Amano schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte. Er hatte schon gehofft, dass die Annäherungsversuche von diesem Bob alles gewesen wären, doch offensichtlich kam da noch mehr und es schien schlimm zu sein, denn Charly schluchzte jetzt so arg, dass er aufsprang und schon zu ihr eilen wollte. Nur die Erinnerung daran, dass sie sich nicht von ihm berühren lassen wollte und dass seine Anwesenheit es für sie wahrscheinlich eher schlimmer machen würde, hielt ihn davon ab.
„Was passierte dann?“, fragte die Königin sanft.
Charly schniefte und nahm das Taschentuch, das Moreena ihr entgegenhielt. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und schnäuzte sich.
„Es war nicht mehr weit bis nach Hause“, berichtete Charly weiter. „Ich wurde überfallen. Ein Mann ergriff mich von hinten. Ich verlor das Bewusstsein.“ Sie atmete tief durch. „Ich erwachte in einem kalten dunklen Keller. Ich war mit Ketten an ein Rohr gefesselt und ich begann um Hilfe zu schreien. – Doch niemand kam. Zumindest nicht, um mich zu retten. Nur mein Entführer. Er trug eine Maske. Er ...“ Sie stockte und schlug die Hände vor das Gesicht.
Amano hatte sich wieder gesetzt und verfolgte Charlys Offenbarung mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen. Sein Gepard in ihm lief Amok, wollte losziehen und diesen Mann, der Charly ein Leid angetan hatte, in Stücke reißen. Doch dieser Bastard war Lichtjahre entfernt und Amano und sein Gepard waren zur Untätigkeit verdammt. Er konnte seine Gefährtin nicht einmal in die Arme nehmen, konnte ihr keinen Trost spenden. Er hatte sich nie zuvor so elend gefühlt.
„Er ... vergewaltigte mich. Immer wieder“, erzählte Charly leise. „Doch das war ihm nicht genug. Er quälte mich. Er ... er verbrannte mich mit seinen Zigarren, schnitt mir in die Haut. Er schlug mich, bespuckte mich ... uri... urinierte auf mich. – Immer wieder drohte er mir, mich ... mich zu töten. – Und ich ...“ Sie schluchzte jetzt hilflos und Moreena setzte sich neben sie auf die Armlehne und hielt Charly ganz fest. „Ich wünschte mir, dass er es wirklich tun würde. Ich hoffte, er würde ... mich ... töten. Es war zu viel. Ich kannte keine Minute ohne Schmerz mehr, keine Sekunde ohne Angst. Er hatte mir beinahe alle Haare ausgerissen, meine Augen waren zeitweise so geschwollen, dass ich nichts mehr sehen konnte. Er gab mir kaum Essen und zu trinken bekam ich nur, wenn ich ... wenn ich ihm ...“
„Ist schon gut“, sagte Moreena beruhigend. „Du brauchst nicht mehr zu erzählen. Sag mir nur, wurde der Mann für sein Verbrechen bestraft? Ist er tot?“
Charly schüttelte den Kopf.
„Er wurde nie gefasst. Ich konnte ihnen keine Beschreibung liefern, weil er immer maskiert gewesen war. Der Keller, in dem ich gefangen gehalten wurde, gehörte zu einem einsam gelegenen Haus, das seit Jahren verlassen stand. Er kam nur dorthin, wenn ... wenn er mich ...“
„Wie hast du es geschafft, ihm zu entkommen?“
„Ich hatte ...“, begann Charly und seufzte. „... hatte in tagelanger Arbeit den Mörtel um einen Ziegelstein herum entfernt, bis er locker wurde. Mit diesem Stein schl... schlug ich den Bastard nieder. Ich dachte ... ich hoffte, er wäre tot. Doch als die Polizei in den Keller kam, nachdem ich sie dorthin geführt hatte, war er verschwunden. Seine DNA-Spuren passten zu keinem der registrierten Verbrecher, somit konnten sie ihn nicht finden.“
„Warum hast du nicht die Maske entfernt, um zu sehen, wer er ist?“, fragte Moreena.
Amano konnte sehen, wie Charly erbleichte. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und er konnte sehen, wie sie zitterte. Warum regte sie diese eine, eigentlich berechtigte Frage so auf? Mehr als die Schilderung all der Qualen zuvor? Plötzlich wandte sich Charly aus Moreenas Armen und sprang vom Sessel auf.
„Ich ... ich hab einfach ... nicht daran gedacht“, erklärte sie hastig.
Amano konnte ihr ansehen, dass sie log. Sie hatte daran gedacht, aber etwas hatte sie davon abgehalten, es zu tun. Nur was? Es ergab keinen Sinn. Wieso hatte sie sich nicht vergewissert, wer ihr Peiniger war und ob er wirklich tot war? Dann hätten die Sicherheitskräfte ihres Planeten den Mann bestrafen können. Verwirrt beobachtete er, wie Moreena sich erhob und Charly nach einer kurzen Umarmung allein ließ. Als Charly allein war, brach sie weinend auf dem Sessel zusammen und Amano sprang auf. Er musste zu ihr. Hastig eilte er aus dem Raum und stieß im Flur mit seiner Tante zusammen.
„Wo willst du hin?“, fragte Moreena.
„Ich muss zu ihr“, erwiderte Amano.
Die Königin schüttelte den Kopf.
„Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist“, sagte sie. „Komm. Gehen wir in meine Gemächer.“
„Sie hat gelogen“, sagte er. „Sie hat es nicht einfach nur vergessen.“
„Ich weiß“, erwiderte seine Tante. „Aber sie wird nicht mit dir darüber reden, warum sie ihm die Maske nicht abgenommen hat. Jedenfalls jetzt nicht. Lass sie sich beruhigen und schlaf heute woanders. Sie braucht jetzt Ruhe. Ich werde ein wenig später eine der Dienerinnen senden, damit sie nach Lady Charly sieht.“