Die massigen Granitsteine der Außenmauern hatten die Jahre der Vernachlässigung spurlos überdauert, aber das war auch schon alles, was sich zugunsten der Burg sagen ließ, die Vannes einmal beherrscht hatte. Hoch oben hingen noch die zerfetzten Reste alter Standarten, verblasst, vergessen und zu hoch, als dass sie einer der Bettler herabgerissen und sich darin eingewickelt hätte.
Auch der mächtige Eichentisch in der großen Halle hatte den Plünderern widerstanden. Er ging durch keine Tür, und die Platte war so stark, dass es einer wohlgeschliffenen Axt bedurft hätte, um ihn zu zerschlagen und zu verheizen. Es stank durchdringend nach vermodertem Stroh, nach Fäulnis, nach Verfall und Verwesung. Kurz, nach dem Untergang des stolzen Hauses Rospordon.
»Gibt es irgendwelche Räume, die man halbwegs bewohnbar machen kann?«, hörte sie Hervé de Sainte Croix draußen im Gewölbe fragen, das die große steinerne Treppe trug. »Es sieht verdammt nach Regen aus, und ich hätte gerne ein Dach über dem Kopf!«
Oliviane strich angeekelt mit den Fingerspitzen über die Schmutzschicht auf dem Tisch und gab sich einen Ruck. War es nicht ihr größter und heimlichster Wunsch gewesen, einmal die Herrin dieses Hauses zu sein? Nun, jetzt hatte sie die Gelegenheit, sich zu bewähren. Sie konnte beweisen, dass sie auch die Fähigkeiten dazu besaß.
Eine Woche später fügte Hervé de Sainte Croix ihren Vorzügen im Stillen auch noch respektvoll das Talent eines geborenen Feldherrn hinzu. Sie hatte eine Schar von Knechten und Mägden angeheuert und hielt sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit energischer Hand auf Trab.
Sie veranlasste, dass die Räume ausgemistet, mit Lauge geschrubbt, gesäubert und neu getüncht wurden. Sie gab eine solche Menge von Glasfenstern in Auftrag, dass die Handwerker von Vannes auf Monate, wenn nicht gar Jahre hinaus damit beschäftigt sein würden. Sie schickte die Bogenschützen los, um Stroh zu kaufen, damit die Steinböden frisch belegt werden konnten, und begann, die kühlen Vorratsgewölbe unter dem Haus mit dem Nötigsten zu füllen.
Wenn er dem Wunsch, sie zu sehen, nicht mehr widerstehen konnte, fand er sie wahlweise beim Bierbrauen, beim Kerzenziehen oder in der Küche damit beschäftigt, unter einer Vielzahl von Gerätschaften jene auszuwählen, welche ihr für die Küche eines noblen Hauses geeignet erschienen.
Und obwohl ihr Tag doppelt so ausgefüllt wie der aller anderen zu sein schien, konnte er bei diesen Gelegenheiten kein Zeichen von Erschöpfung an ihr entdecken. Dies war unzweifelhaft das Leben, für das sie geboren und erzogen worden war. Die Herrin eines großen Hauses sein!
Sie hatten beide Grund, mit sich und ihrer Arbeit zufrieden zu sein, und doch war Oliviane es nicht. Die vielfältigen Pflichten gaben Hervé de Sainte Croix einen vortrefflichen Grund, sie zu meiden. Es gab Tage, an denen sie ihn nicht einmal zu Gesicht bekam, und die Sehnsucht nach ihm war immer schwerer zu ertragen. Nur ihr Stolz bewahrte sie davor, ihm einfach wie ein lästiges Hündchen nachzulaufen.
»Lasst es gut sein, Herrin!«, riss sie in diesem Moment die Köchin aus ihren Gedanken. »Ihr werdet einen Ziegelstein aus diesem Brot machen, wenn Ihr es weiter so knetet und schlagt!«
Oliviane sah auf ihre bemehlten Fäuste, die, tief in der Teigmasse vergraben, ein Eigenleben geführt hatten. Mit einem tiefen Seufzer löste sie sie und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, wobei sie einen Mehlstreifen über den Brauen hinterließ.
Die Köchin war eine stämmige Bretonin, die sich Oliviane für diese Stellung selbst angetragen hatte, und sie hatte bisher keinen Anlass gesehen, diese Entscheidung zu bereuen. Gwenna war die Witwe eines Fischers und Mutter einer großen Kinderschar, die nun nicht länger Hunger leiden musste. Und dies war einer von zahlreichen Gründen, weshalb Gwenna ihre neue Herrin ins Herz geschlossen hatte, die so hart schuftete wie kaum eine der Mägde. Andernfalls hätte sie vielleicht nicht gewagt, die junge Frau auf ihren verborgenen Kummer anzusprechen.
»Männer schätzen es, wenn frisches und lockeres Brot auf dem Tisch bereitliegt, aber sie vergessen meist, danach zu fragen, wer dieses Wunderwerk gebacken hat. Wenn Ihr dem Seigneur die eigene Blindheit vor Augen führen wollt, müsst Ihr schon handfestere Mittel ins Feld führen ...«
»Was meinst du damit?« Oliviane runzelte verblüfft die Stirn.
»Verzeiht«, Gwenna rührte ein letztes Mal im Suppentopf, der auf dem Feuer stand, und trat näher zu ihrer Herrin. »Aber es bricht mir das Herz, wenn ich Euch noch länger dabei zusehen muss, wie Ihr Euch grämt. Warum sagt Ihr ihm nicht einfach, was Ihr fühlt?«
Oliviane errötete. Sie holte tief Luft, um dann doch nur mit den Schultern zu zucken. Gwenna hatte Recht. Weshalb sollte sie sie für die Wahrheit rügen?
»Das hab’ ich längst getan, Gwenna. Und weißt du, was er mir geantwortet hat? Er will lieber zur Hölle fahren, als sein Schicksal mit dem meinen verbinden!«
Die Köchin runzelte unter der frisch gestärkten Leinenhaube die Stirn und schnaufte missbilligend über so viel Ahnungslosigkeit. »Aha? Und deswegen sieht er Euch an wie ein magerer Hofhund einen verlockenden Knochen, sobald er glaubt, dass Ihr es nicht bemerkt!«
»Tut er das?« Die aufkeimende Hoffnung in Olivianes Augen sprach für sich.
»Ihr müsst es bemerkt haben!« Gwenna sah die Verlegenheit ihrer Herrin und kam zu der Erkenntnis, dass sie bei aller Tüchtigkeit und allem Fleiß von Männern keine Ahnung zu haben schien. »Er will Euch, daran kann es keinen Zweifel geben.«
»Das wäre schön«, seufzte Oliviane und rieb ihre Mehlhände über der Schüssel von den Teigresten frei. »Aber er hat den härtesten Schädel im ganzen Land. Er wird im Notfall lieber sich selbst schaden als zuzugeben, dass er sich getäuscht hat.«
»Dann bringt Ihr ihn am besten in eine Lage, in der keine Worte mehr nötig sind«, schlug Gwenna mit ihrem praktischen Hausfrauenverstand vor.
»Heilige Anna!« Oliviane lachte gequält auf. »Als ob das so einfach wäre! Ich kann ihm doch nicht schon wieder ein Holzscheit über den Kopf ziehen!«
»Habt Ihr das schon einmal getan?« Auf Gwennas rundem Gesicht erschien ein beeindrucktes Lächeln. »Ich wusste, dass Ihr eine Frau mit Tatkraft und Verstand seid. Jetzt fühlt er sich in seinem männlichen Stolz verletzt und möchte, dass Ihr vor ihm auf dem Boden kriecht. Das erklärt natürlich einiges! Dann müsst Ihr es anders anpacken ...«
»Ich werde nicht auf die Knie gehen ...«, brauste Oliviane auf und wurde von ihrer Köchin sogleich unterbrochen. »Natürlich nicht, das verlangt ja niemand. Das ist ja das Übel, wenn zwei Dickköpfe aufeinander treffen. Einer von euch beiden wird seinen Stolz aufgeben müssen, und ich fürchte, dass Ihr es sein müsst. Als noble Jungfer könnt Ihr Euch ja schlecht in seinen Alkoven legen oder ihn in der Rolle der frechen Bademagd bei Maudez verführen. Wenn er fürchten müsste, dass er Euch entehrt hat oder gar Euren Ruf gefährdet ...«
»So etwas sollte ich tun?«, unterbrach Oliviane sie verblüfft.
»Je nun«, Gwenna hielt die Überraschung ihrer Herrin für sittliche Entrüstung und wurde ein wenig verlegen. »Das wäre eine Möglichkeit, die ich einer kühnen jungen Witwe raten würde. Aber in Eurem Fall ...«
Oliviane hörte ihr längst nicht mehr zu. In ihrem Kopf nahm der Plan bereits Gestalt an. Sie legte ihre Mehlhand auf Gwennas Arm und sah sie aus ihren großen samtigen Augen bezwingend an. »Du meinst, er sucht Maudez’ Badestuben regelmäßig auf?«
»Die meisten Männer tun das«, nickte Gwenna verdutzt. »Aber ...«
»Du musst mir helfen!«, forderte Oliviane und fiel ihr schon wieder ins Wort. »Ich kann doch nicht einfach dort hineinmarschieren und Maudez um seinen Beistand bitten. Man muss das genau planen, damit wir zum einen nicht gestört werden, zum anderen aber auch ein paar von seinen Rittern mit ihm dort sind. Wenn er nicht wirklich in der Klemme steckt, wird er nicht nachgeben!«
»Das ist doch ...!« Gwenna stemmte die Arme in die Hüften und starrte ihre Herrin fassungslos an. »Das könnt Ihr nicht tun! Ihr seid eine Edeldame, eine hochgeborene Jungfer aus bester Familie!«
»Zum Kuckuck! Du selbst hast mir doch geraten, zu diesem Mittel zu greifen!«, schimpfte Oliviane mindestens ebenso empört zurück. »Komm mir jetzt bloß nicht mit Unzucht und Sünde! Er soll endlich zugeben, dass er mich liebt, dass er nicht ohne mich leben kann und Sehnsucht nach mir hat! Danach will ich gerne für den Rest meines Lebens die Zehn Gebote befolgen und meinem Gatten für immer treu sein!«
»Ach Gott!«, hauchte Gwenna und bekreuzigte sich zur Sicherheit gleich mehrmals hintereinander. »Ob das gut ausgeht?!«
»Das lass nur meine Sorge sein«, sagte Oliviane energisch. »Hilf mir bei diesem Streich, und es wird dein Schaden nicht sein!«
»Ich will nichts dafür!«, schnaubte Gwenna noch eine Spur grimmiger. »Ich tu’s, weil ich Euch gern hab’. Aber wenn Ihr noch eine Mutter hättet – sie würde mich teeren und federn für die Dummheit, dass ich Euch diesen Floh ins Ohr gesetzt habe. Nehmt einmal den schlimmsten Fall an: dass Ihr keinen Erfolg habt, dass der Seigneur diesen Streich in den falschen Hals bekommt und Euch für ein liederliches Frauenzimmer hält ...«
Oliviane zuckte mit den Schultern und reckte das Kinn vor. »Dann kann ich auch nicht unglücklicher sein, als ich es ohnehin schon bin. Ich hab’ nichts zu verlieren, Gwenna, du darfst es mir glauben!«
Die plötzliche Traurigkeit in ihrem Gesicht wirkte auf die Köchin überzeugender als alle Worte. Sie wusste, wie es einem ums Herz war, wenn man sich nach einem Kerl sehnte. Da ging es den noblen Damen wohl auch nicht viel anders als einer einfachen Köchin, die beim letzten Wintersturm ihren Mann verloren hatte.
»Überlegt es Euch gut«, warnte sie trotzdem noch einmal.