Er starrte in das rötliche Glühen des Feuers und versuchte, die eigenen Gedanken unter Kontrolle zu bekommen, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen. Gedanken, die sich ausschließlich um das stolze Mädchen drehten, das dort so schmal und reglos unter der schweren Decke lag.
Sie war unschuldig und stolz, von bezaubernder Reinheit und unvorstellbarer Vollendung, eine tugendhafte, lautere Schönheit, wie geschaffen dafür, beschützt, verehrt und angebetet zu werden.
Paskal Cocherel würde nichts von alldem tun. Er würde dafür sorgen, dass ihre Unschuld zerstört und ihr Stolz gebrochen werden würde. Es gefiel ihm, Frauen zu demütigen. Und es gab keinen Anhaltspunkt dafür, dass er es mit einer Gattin anders halten wollte als mit seinen zahllosen Huren.
Doch was ging ausgerechnet ihn das Schicksal dieser eingebildeten jungen Frau an? Er hatte einen Schwur geleistet und eine Aufgabe zu verrichten.
»Wacht auf! Wir müssen weiter!«
Die Hand an ihrer Schulter ließ Oliviane erschreckt hochfahren. Hatte sie einmal mehr die morgendliche Frühmette verschlafen?
»Was ...« Sie brach ab, als ihr mit einem Schlag klar wurde, dass sie nicht auf dem harten Strohsack in der Kammer der Novizinnen von Sainte Anne lag.
Der Mann, der sich über sie beugte, bedachte sie mit einem prüfenden Blick. »Wir müssen weiter!«, wiederholte er. »Mir ist befohlen worden, Euch so schnell wie möglich nach Cado zu bringen!«
Ehe Oliviane aufgestanden und halbwegs bei Sinnen war, standen ihre Begleiter bereits wartend bei den Pferden.
Da es auf der Lichtung keinen Prellbock gab, musste sie widerwillig die Hilfe des Anführers annehmen, damit sie in den Damensattel kam. Hastig nahm sie Platz und zog ihre Röcke in züchtige Falten. Inzwischen war es hell genug, dass er den unausgeschlafenen und leicht giftigen Blick bemerkte, mit dem sie ihn bedachte.
»Habt Ihr eigentlich einen christlichen Namen, oder nennt man Euch einfach ›He-du-da‹?«, erkundigte sie sich plötzlich.
In seinem dichten schwarzen Bart blitzten zwei überraschend weiße Reihen kräftiger Zähne. Er lachte. »Man nennt mich Landry, kleine Dame. Den Schwarzen Landry, weshalb auch immer!«
Er machte sich lustig über sie. Oliviane rümpfte die Nase und zahlte es ihm auf rospordonsche Weise heim. »Und mich nennt man Dame Oliviane. Für Euresgleichen bin ich jedoch die Dame de Rospordon!«
Nicht mehr lange, mein schönes Kind! schoss es dem Schwarzen Landry durch den Kopf, aber er sprach es nicht laut aus. Wenn es ihr Genugtuung bereitete, auf dem hohen Ross zu sitzen und dies auch noch zur Schau zu stellen, dann sollte sie dieses Vergnügen ruhig genießen. Es würde auf Cado nicht mehr viel geben, das ihr Freude machen würde.
Als die Reiter im aufsteigenden Nebel eines kalten, durchdringend feuchten Winternachmittages über die Zugbrücke von Cado trabten, war Oliviane von dem Gewaltritt so erschöpft, dass sie Mühe hatte, sich einigermaßen im Sattel zu halten. Die Einzelheiten verschwammen grau und riesig vor ihren Augen. Sie hatte lediglich den Eindruck von monumentalen Mauern, die sie in jeder Himmelsrichtung umschlossen und einsperrten.
Zu beiden Seiten des Torturmes brannten Pechfackeln. Sie beleuchteten einen Innenhof, der mehr einem Heerlager als einer Burg glich. Menschen, Hunde, Hühner, Kinder und Schmutz vermischten sich zu einem lärmenden Kaleidoskop.
»Willkommen in Eurer neuen Heimat, Oliviane de Rospordon!«
Alles in allem gewann Oliviane den Eindruck, dass sich niemand groß um ihre Ankunft zu kümmern schien. Schon gar nicht Seine Gnaden, der selbsternannte Herzog von St. Cado. Der Impuls, ihr Pferd zu wenden und einfach wieder davonzureiten, war nahezu übermächtig.
»Die Braut! Sie haben die Braut gebracht! Die Braut ist da!«
Einzelne Worte erhoben sich plötzlich über den allgemeinen Lärm, und mit einem Schlag verstummte das Getöse um sie herum. Erst als sich alle Köpfe zur Treppe wandten, begriff Oliviane, weshalb. Paskal Cocherel stand plötzlich dort. Auf den ersten Blick erinnerte sie ihr künftiger Gemahl an einen der heidnischen Steine, die man überall in ihrer Heimat fand. Schwer, gedrungen, die halblangen grauen Haare wie eine Mähne um den Kopf stehend, bot er ein Bild verwitterter, massiger Kraft und Stärke.
Der Schwarze Landry sah aus dem Augenwinkel, dass sie sich stolz aufrichtete und ihre letzten Kräfte mobilisierte. Mit leiser Befriedigung beobachtete er, dass sie zwar trocken schluckte, aber in scheinbar gelassener Würde das Folgende abwartete.
»Bringt sie ins Haus!«, bellte der Herzog über den Hof und ließ seinen Blick über die Neugierigen schweifen. »Was gafft ihr so? An die Arbeit mit euch – oder ich sorge persönlich dafür, dass Ihr euch unter dem Torturm eine Weile ausruhen könnt!«
Oliviane sah, dass sich die Menschen unter dem Gebrüll des Herzogs duckten und so schnell wie möglich davonschlichen. Sie zweifelte keinen Moment mehr daran, dass sich unter dem Torturm die Folterkammer befand. Sie fror, aber es war eine Kälte, die tief aus ihrem Inneren kam und nichts mit den unfreundlichen Temperaturen des Dezembertages zu tun hatte.
»Kommt«, murmelte Landry so leise, dass nur sie es hören konnte. »Ihr macht es nicht besser, wenn Ihr jetzt Schwäche zeigt.«
Die Tatsache, dass er zweifellos Recht hatte, weckte wieder ihre Lebensgeister. Oliviane zwang sich, ihr Bein über das Sattelhorn zu heben, und glitt anmutig aus dem Sattel. Sie gab Landrys Hand so schnell frei, dass er kaum den Druck spürte. Dann raffte sie ihre Röcke und schritt hocherhobenen Hauptes die wenigen Stufen hinauf.
Als sie vor Paskal Cocherel stand, befanden sich ihre Augen auf gleicher Höhe. Sie stellte erstaunt fest, dass er nur wenig mehr als mittelgroß war. Seine massige Statur ließ ihn größer wirken, doch nach dem ersten Blick in seine Augen, die so gelblich wie das Fackellicht schimmerten, beging sie nicht den Fehler, ihm zu trotzen.
Sie brachte ihren Respekt in einem anmutigen Knicks zum Ausdruck, dessen höfische Eleganz den Schwarzen Landry entzückte, dem Herzog hingegen nur ein unwilliges Knurren entlockte.
»Dann seid Ihr also hier«, brummte er so unwillig, als hätte sie ihm eine Liste alter Schulden präsentiert. »Nun herein mit Euch, es ist kalt. Maé wird sich um Eure Unterbringung kümmern. Maé! Zum Teufel, wo steckt das elende Weib schon wieder?!«
Ohne sich der Artigkeiten zu erinnern, die er einer Dame und erst recht seiner zukünftigen Frau schuldete, stapfte er durch das Portal in die große Halle zurück und ließ Oliviane alleine über die Schwelle ihres künftigen Heimes treten. Immerhin entging ihm auf diese Weise ihr entsetzter Blick auf die schmutzigen Schragentische, den Unrat auf dem strohbedeckten Boden und die Spinnweben an den Wänden.
»Maé!«, brüllte der Herzog.
Oliviane zuckte unmerklich zusammen, aber die dralle blonde Frau, die nun betont gemächlich herbeischlenderte und sie aus neugierigen Augen musterte, wirkte völlig unbeeindruckt. Offensichtlich war dies die normale Lautstärke, in der sich der Herzog von St. Cado äußerte, wenn ihm etwas missfiel. Aber noch mehr als die stoische Ruhe der Magd verblüfften Oliviane Maés gewaltige, wogende Brüste. Sie quollen über den herausfordernd freizügigen Ausschnitt ihres schmuddeligen Hemdes, als besäßen sie ein Eigenleben. Auch der Rock sah aus, als hätte sie sich seit Wochen bei jeder Gelegenheit die schmutzigen Finger daran abgewischt.
»Was gibt’s?«, fragte sie freundlich und bedachte den Herzog mit einem Lächeln, das Oliviane schlagartig ahnen ließ, dass Maé in ihrer ganzen speckigen Üppigkeit durchaus sein Wohlgefallen fand.
»Schaff sie in ihre Kammer und sorg dafür, dass es ihr an nichts fehlt«, schnauzte Paskal Cocherel. »Bring ihr etwas zu essen und auch Kleider. Ich wünsche nicht, dass meine künftige Gemahlin wie eine Vogelscheuche herumläuft und mir Schande macht!«
Oliviane verbarg ihr Entsetzen hinter einer reglosen Miene. Sie richtete ihre braunen Augen auf den Mann, der ihr Gemahl werden sollte.
»Ich danke Euch für den freundlichen Empfang«, erwiderte sie so kalt und förmlich, dass nicht einmal der Schwarze Landry sicher war, ob sie es ironisch meinte. »Werdet Ihr mir sagen, auf welchen Tag Ihr unsere Vermählung angesetzt habt?«
»Die Vermählung findet statt, sobald sich eine vertrauenswürdige Person davon überzeugt hat, dass Ihr Eure monatliche Reinigung bekommt, gesund seid und noch nie bei einem Mann gelegen habt. Ich hoffe, Euer schurkischer Großvater hat mich in dieser Sache nicht belogen!«, knurrte der Herzog. »Ich habe es nicht gerne, wenn man mir das Fell über die Ohren zieht!«
»Aber ich schwöre ...« Oliviane verstummte, zu stolz, um den Satz, der ihr spontan über die Lippen gekommen war, zu beenden. Eine zarte, blau schimmernde Ader pochte an ihrer Schläfe.
»Ich bin kein Narr!«, erklärte ihr Bräutigam mit einem Lächeln, das ihr einen Schauer des Entsetzens über den Rücken jagte. »Ich verlange von Euch, dass Ihr mir einen Erben schenkt, der jenseits jeden Zweifels geboren wird. Ich erwarte eine adlige Jungfrau in meinem Hochzeitsbett, habt Ihr verstanden?«
Er blies ihr seinen Ekel erregenden Atem ins Gesicht, der stark nach säuerlichem Wein und Zwiebeln roch. Dennoch hielt Oliviane dem stechenden Raubvogelblick des alten Straßenräubers mit stolz erhobenem Kopf stand. Das Leben mit ihrem Großvater hatte sie gelehrt, sich nie einschüchtern zu lassen.
»Ich werde meine Pflichten als Eure Gemahlin erfüllen, sobald ich diesen Schwur vor dem Altar geleistet habe«, sagte sie in kühler Ruhe. »Bis dahin schuldet Ihr mir den Respekt, den jeder Edelmann seiner Braut entgegenbringen soll. Wenn es Euch nach einer Magd gelüstet, so haltet Euch an jene dort ...«
Der Schwarze Landry merkte nicht, dass er den Atem anhielt. War sie verrückt, den Alten auf diese Weise zu provozieren? Ein einziger Faustschlag von ihm würde sie quer durch den Raum schleudern und ihr schönes Antlitz für immer verunstalten!
»Zum Henker! Ihr habt Mut, das gefällt mir!«
Die Anspannung löste sich unter dem polternden Lachen des Söldnerführers. Er ließ Olivianes Hand los und griff nach einem Juwelen verzierten Pokal, der auf dem verwahrlosten Tisch stand.
»Nun denn, meine feine Braut, auf Euer Wohl! Ihr habt Glück. Nach genau dieser Art von nobler Herablassung habe ich gesucht. Ihr werdet sie meinen Söhnen in die Wiege legen und ihnen damit das Rüstzeug geben, dieses Land zu beherrschen. Enttäuscht mich nicht, und wir werden prächtig miteinander auskommen!«
Olivianes Knie zitterten, als sie ihm durch eine Verbeugung ihren Respekt erwies, aber die schweren, Schmutz bedeckten Röcke verbargen das verräterische Zeichen von Schwäche.
»Kommt schon«, drängte Maé, und Oliviane folgte der Magd, die hüftschwingend aus dem Saal schlenderte, nur zu gern. Ihr letzter, vorsichtiger Blick unter halb gesenkten Lidern galt jedoch nicht dem barschen unfreundlichen Herzog, dessen Frau sie werden sollte, sondern dem Schwarzen Landry.
Er stand neben einer steinernen Säule, die Arme über dem Lederwams verschränkt, die Augen wie dunkle Kohlestücke in einem wilden Gestrüpp aus Bart, Brauen und Haaren. Welch seltsamer, beunruhigender Mann! Und doch, sie entdeckte zu ihrer eigenen Überraschung, dass es ihr schwer fiel, ihn zu verlassen.