»Was ist das?«
Oliviane sah sich um. Sie vernahm ungewohnten Lärm aus der Ferne: Grölen, das Kreischen von Frauen, die Geräusche eines wüsten Gelages. Der dichte Nebel nahm den Tönen die Richtung, so dass sie geradewegs aus den Steinen und Mauern zu dringen schienen.
»Sie feiern in der großen Halle den Beginn des neuen Jahres«, murmelte der Schwarze Landry, das Gesicht in den duftenden hellen Haaren vergraben, die nach Sommer und Sonne rochen und sich zwischen seinen Fingern wie Seide anfühlten.
»Das neue Jahr ... O Gott!« Oliviane wollte sich aufrichten, aber das Gewicht des schweren Körpers, der sie auf den Strohsack presste, ließ es nicht zu. »Ava wird mich suchen!«, wisperte sie ängstlich und rüttelte an seinen Schultern. »Ich muss fort, lasst mich gehen! Ich bitte Euch, so helft mir doch!«
»Ava weiß, dass du in dieser Burg nicht verloren gehen kannst«, murmelte Landry. »Die Zugbrücke wurde geschlossen, nachdem der Bote des Herzogs aus Rennes eintraf. Im schlimmsten Fall nimmt sie an, dass du dich irgendwo verirrt hast. Aber ich denke, dass sie mit den anderen Frauen beim Festmahl ist! Sie ist keine treu ergebene Magd, die sich Sorgen um ihre Herrin machen würde.«
»Aber wenn er nach mir sucht?«
»Er ist mit Gordien in seiner Kammer und brütet über den Nachrichten aus Rennes«, gab Landry einen Teil seines Wissens preis. »Wie es scheint, gefällt es ihm nicht, was er gehört hat. Er hat heute Nacht anderes im Sinn als eine widerspenstige Braut!«
»O Gott!«
Das Stichwort ›Braut‹ machte Oliviane unvermittelt klar, dass sie in Schwierigkeiten steckte, in großen Schwierigkeiten. Ihre Augen flogen verwirrt durch den Söller, ehe sie zu dem Bett zurückkehrten, auf dem ihrer beider Körper noch immer eng umschlungen lagen. Was, um Himmels willen, hatte sie getan?
Eine der Kerzen war heruntergebrannt, und die andere beleuchtete den Raum nur noch spärlich. Beim Ausatmen bildete die Luft kleine Wölkchen vor dem Mund, dennoch fror Oliviane nicht. Landry hatte alles an Stoff über sie beide gebreitet, was er hatte finden können. Aber noch mehr als die wärmenden Stoffe spürte sie die Glut, die von seinem glatten, muskulösen Körper ausstrahlte. Es war, als würde diese Glut bis in die Tiefe ihres Leibes dringen, dorthin, wo das neue, herrliche Gefühl der Lust noch nachbebte.
»Heilige Anna, was habe ich getan?«, wisperte sie.
Landry betrachtete sie mit einem Blick, den sie nicht einzuordnen wusste. »Schscht! Du musst keine Angst haben«, versuchte er, ihr die Furcht zu nehmen. »Cocherel hat seine Bestätigung doch längst erhalten. Er wird kein zweites Mal nachfragen, ob die Ware unbeschädigt ist, die er gekauft hat! Er käme nie auf den Gedanken, dass ihm jemand in seiner eigenen Burg Hörner aufsetzt!«
»Die Ware ...« Oliviane wich abrupt vor ihm zurück. »Ist es das, was Ihr von mir denkt? Dass ich nur eine Ware bin, die Ihr gestohlen habt, um zu beweisen, dass Ihr ihm die Stirn bieten könnt?«
Landry vermochte nicht zu sagen, was ihn dazu trieb, diese unselige Diskussion fortzusetzen, die doch nur damit enden konnte, dass sie alles zerstörte, was eben zwischen ihnen entstanden war.
»Eine Braut ist immer eine Ware«, entgegnete er sachlich und kehrte wieder zur korrekten Anrede zurück. »Je neuer und unberührter, umso wertvoller ist ihr Handelswert. Der Eure ist beträchtlich, weshalb empört Ihr Euch darüber? Der Herzog wollte eine Braut aus einer der ersten Familien dieses Landes, und er war dafür bereit, die Forderungen Eures Großvaters zu erfüllen.«
Oliviane schluckte. Ihre Kehle war trocken. Sie war im Bewusstsein ihres Wertes erzogen worden, aber sie hatte ihn nie als Handelswert gesehen.
»Hat es Euch Vergnügen bereitet, diese Ware zu beschädigen?«, fauchte sie. Dabei war sie im Grunde wütender auf sich selbst als auf ihn. Sie hatte gewollt, was geschehen war! Sie hatte die Möglichkeit, ihn zurückzuweisen, ungenutzt verstreichen lassen!
Ihr unerwarteter, wütender Angriff verblüffte Landry. Er hatte die üblichen Seufzer und Tränen erwartet. Eine Frau, die seines Trostes bedurfte. Die empörte Rachegöttin brachte ihn freilich aus dem Konzept. Und wie hinreißend, wie verlockend sie war! Die letzte, flackernde Kerze streute einen goldenen Schimmer über die gelösten Haare und ließ die bloßen, ebenmäßigen Schultern wie Perlmutt leuchten. Die vollen Brüste mit den rosigen Spitzen bebten vor Zorn. Sie hatte offensichtlich völlig vergessen, dass sie nichts am Leib trug.
»Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mir unangenehm war«, entgegnete er vorsichtig. »Es ist der Sinn dieser wundervollen Sache, einander Vergnügen zu bereiten, meine kleine Dame! Ihr werdet noch feststellen, dass dieser Zeitvertreib dazu beiträgt, dem Leben ein wenig Würze zu verleihen!«
Oliviane verengte die Augen, bis ihre Pupillen völlig zwischen den dichten, geschwungenen Wimpern verschwanden. Die Kälte, die über ihren Körper hereinbrach, ernüchterte sie ebenso, wie es Landrys lässig dahingeworfene Worte taten.
»Ich tauge nicht dazu, in Eure Schublade mit den Spezereien gesteckt zu werden, Seigneur Landry«, erwiderte sie mit allem Hochmut, den sie in dieser Lage noch aufbringen konnte. Mit jedem Wort begriff sie weniger, weshalb sie sich in die Arme dieses Mannes gestürzt hatte, kopflos wie ein törichtes Insekt in die tödliche Flamme.
»Dabei seid Ihr höchst appetitlich, meine Schöne!«, murmelte Landry und knabberte an einer ihrer verlockenden Schultern.
Oliviane erschauerte unter der Zärtlichkeit seiner warmen Lippen. Sie begann sich vor dem Zauber zu fürchten, den seine Berührungen auf sie ausübten. Mühsam versuchte sie zu verbergen, dass sich ihr Herzschlag beschleunigte und dass sich die feinen Härchen auf ihrer Haut in erregtem Frösteln aufrichteten.
»Hört auf mit diesen albernen Vergleichen«, forderte sie heiser und entzog sich ihm ungeduldig. »Sagt mir lieber, wie ich in meine Kammer zurückkomme, ohne dass mir der dümmste Knecht auf den ersten Blick ansieht, was ich getan habe!«
Der Schwarze Landry verstand die Panik in ihrer Stimme völlig falsch. Er hielt sie für Angst vor dem Herzog und vermutete dahinter den heißen Wunsch, alles ungeschehen zu machen, damit das Geschäft zwischen den Rospordons und dem mächtigen Paskal Cocherel nicht gefährdet wurde.
Sie mochte noch so nobel, vollkommen und schutzbedürftig aussehen, ihr Verstand war der eines geschickten Geldverleihers! Es gab keinen Grund, sich Sorgen um sie zu machen. Sie war geschickt genug, sich aus jeder Klemme herauszuwinden.
Ehe er es verhindern konnte, hatte sie sich aus dem warmen Nest befreit. Sie schlüpfte in solcher Windeseile in ihre Kleider, dass er nur flüchtig ihren verführerischen nackten Körper zu sehen bekam.
Sie riss ihren Umhang vom Lager und wandte beim Anblick des breiten, muskulösen Brustkorbes, den ein spitz zulaufendes Dreieck dunkler, lockiger Haare schmückte, befangen die Augen ab.
»So wartet doch, in drei Teufels Namen«, fluchte er und kam mit einem wahren Panthersprung auf die Beine. »So unangenehm es Euch auch sein mag, Ihr werdet wohl oder übel meine Hilfe annehmen müssen, um zurück in Eure herrschaftliche Kammer zu finden!«
Die Tatsache, dass er Recht hatte, steigerte Olivianes Zorn nur noch mehr. »Dann beeilt Euch!«, fuhr sie ihn an und schlang ihre üppigen blonden Haare zu einem Knoten zusammen, den sie unter der Kapuze ihres Umhangs verbergen konnte. Jede ihrer Bewegungen war so sicher und routiniert, dass Landry einen ärgerlichen Laut unterdrückte. Woher nahm sie die Stirn, so souverän und herrisch Befehle zu erteilen?
»Stets zu Euren Diensten«, knurrte er und richtete sein Gewand. Den Dolch, der sonst in seinem Gürtel steckte, behielt er jedoch in der Hand. Die bedrohlich blitzende Klinge erregte ihre Aufmerksamkeit.
»Wenn Ihr Euch meiner auf diese Weise entledigen wollt, so müsst Ihr es nicht heimlich tun«, sprach sie ihn offen darauf an. »Der Himmel verbietet es mir, selbst Hand an mich zu legen, aber wenn Ihr das für mich tut, wäre es für mich ein Grund, Euch zu preisen.«
»Da soll doch ...« Seine Stirn rötete sich zornig. »Was redet Ihr da für närrisches Zeug?«
»Denkt Ihr, ich hätte nicht wieder und wieder mit diesem Gedanken gespielt?«, murmelte sie gedankenverloren. »Die Ramparts von Vannes sind hoch genug, und von unserem Haus gibt es einen Aufgang zur Stadtbefestigung. Aber ich hatte mein Wort gegeben, ganz zu schweigen von der unentschuldbaren Sünde, die ein Freitod darstellt ...«
Der Ton ihrer Stimme verriet, dass sie die Wahrheit sagte, und diese Wahrheit entlockte dem Schwarzen Landry eine ganze Reihe höchst bildhafter Flüche. Er steckte den Dolch in die Scheide, als hätte er sich an seinem Heft verbrannt, und packte Oliviane an den Schultern.
»Untersteht Euch!«, zischte er mit mühsam gedämpfter Stimme. »Schwört mir hier und jetzt bei Eurer vermaledeiten Rospordon-Ehre, dass Ihr nie Hand an Euch legen werdet? Nun, wird’s bald! Ich warte!«
»Was kümmert’s Euch, was aus mir wird!«, rebellierte sie kratzbürstig. »Ihr habt bekommen, was Ihr wolltet. Entweder Ihr vollendet das Werk Eurer Zerstörung, oder Ihr lasst mich in Frieden!«
»Euer Wort!«
Oliviane zuckte unter der Wut, mit der er die wenigen Silben hervorstieß, zusammen. »Mein Wort«, wisperte sie geradezu gleichgültig. »Welche Bedeutung es plötzlich gewinnt! Erst mein Großvater und nun Ihr ...«
»Euer Großvater ist ...«
»... ein stolzer alter Mann, der mit allen Mitteln versucht hat, seinem Haus zu neuem Ansehen zu verhelfen, wolltet Ihr das sagen? Wie dumm, dass er sich dabei eines Mädchens bedient hat, das sich von Euch betören ließ und ihn verraten hat! Er hat mich für stärker gehalten, als ich bin ...«
Der Schwarze Landry verzichtete darauf, ihr zu erzählen, was er über das Schicksal des alten Seigneurs wusste. Je mehr Fäden Oliviane mit dem Diesseits verbanden, desto weniger würde das Jenseits eine Versuchung für sie darstellen. Bei dem bloßen Gedanken daran, wie leicht sie sich eben über die Zinnen hätte stürzen können, überlief es ihn eiskalt.
»Sorgt Euch nicht«, unterbrach sie seinen Gedankengang geradezu freundlich. »Es ist vermutlich gar nicht nötig, dass ich selbst Hand an mich lege. Mein ehrenwerter Gemahl wird mir diesen Dienst sicher abnehmen, wenn er in unserem Brautbett erkennt, dass ich nicht mehr die bin, für die er mich hält!«
Noch während sie sprach, wurde ihr klar, dass dies tatsächlich die wahrscheinlichste aller Möglichkeiten war.
Sie bedachte den Schwarzen Landry mit einem rätselhaften Lächeln, das keine Spur von Angst mehr enthielt. »Seid Ihr bereit? Ich möchte gehen!«
Seine Hände sanken herab, und für einen Moment glaubte sie, neben dem Zorn, der ihn erfüllte, auch Ratlosigkeit in seinen Augen zu lesen.
Zum Henker! Warum hatte er dermaßen die Beherrschung verloren? Was hatte sie an sich, dass er sich wie ein hungriges Raubtier auf sie gestürzt und jede Vernunft vergessen hatte? Himmel, er würde sich etwas überlegen müssen, sonst bestand die Gefahr, dass es am Dreikönigstag nicht nur eine tote Braut, sondern auch einen toten Landry gab.
»Dann kommt«, knurrte er und löschte die letzte Kerze.
Oliviane fühlte, wie er nach ihrem Arm griff. Es war, als folgte sie einem Phantom, das mit den Schatten der Nacht verschmolz und weder Namen noch Gestalt hatte. Wirklich war nur der warme, entschlossene Griff um ihren Arm.
Oliviane kämpfte mit aller Macht gegen das Feuer an, das an dieser Stelle aufglomm und auf ihren ganzen Körper überzugehen drohte. Sie war so ausschließlich darauf konzentriert, dass sie fast taumelte, als er sie plötzlich freigab und die Tür ihrer Kammer öffnete. Oliviane konnte nicht sagen, wie sie hierher gekommen waren. Sie stolperte über die Schwelle und sah im rötlichen Schimmer der Glutbecken, dass Ava tatsächlich nicht auf sie gewartet hatte.
Hinter ihr wurde der Riegel vorgeschoben, und die Erleichterung über diese Tatsache machte Entsetzen Platz. Was hatte sie getan?