Oliviane zögerte. Eine innere Stimme riet ihr eindringlich, ihren Plan aufzugeben. Es war Wahnsinn, was sie vorhatte. Eine schreckliche Sünde, für die es keine Sühne geben würde. Aber hatte sie denn eine Wahl? Es würde immer so enden, dass sie nachgab, sich ihm hingab und sich damit schuldig machte. War es nicht ein Zeichen des Himmels gewesen, dass sie vor ihm die Augen aufgeschlagen hatte?
Der schlafende Mann atmete in tiefen, regelmäßigen Zügen. Er lag halb auf der Seite, so dass sie seinen Hinterkopf gar nicht verfehlen konnte. Aber er war auch der Mann, in dessen Armen sie Leidenschaft und höchste Lust kennen gelernt hatte. Durfte sie ihm das auf diese brutale Weise vergelten?
Doch, es war ihre einzige Möglichkeit, der unerträglichen Situation zu entkommen und wenigstens halbwegs ihre Ehre zu bewahren, jene Ehre des Hauses Rospordon, von der sie gelernt hatte, dass sie kostbarer und wichtiger als alles andere auf der Welt war!
Oliviane kniff die Augen krampfhaft zusammen und ließ das Holzscheit in ihren Händen mit voller Wucht auf den reglosen Schädel niedersausen. Das raue Stöhnen, dass über seine Lippen kam, ließ sie vor Entsetzen erstarren. Was hatte sie getan?
Aus einer übel aussehenden Wunde rieselte stetig Blut in die dunklen Haare und tropfte von dort auf den Strohsack. Landry lag reglos und mit geschlossenen Augen vor ihr, und Oliviane schluchzte heiser auf. Gütiger Himmel, sie hatte ihn umgebracht! Sie hatte ihm seine Zärtlichkeiten auf diese gemeine Weise vergolten!
Voller Panik griff sie nach ihren Kleidern, schlüpfte hinein und schloss mit fliegenden Fingern die Bänder. Sie stopfte alles, was ihr an Vorräten in die Hände fiel, in den nächstbesten Mantelsack und vergewisserte sich, dass das Gürteltäschchen mit der kostbaren Salbendose an Ort und Stelle hing. Ihr Umhang lag auf dem Strohsack, aber sie wagte es nicht, ihr Opfer noch einmal anzusehen, geschweige denn es zu berühren. Sie wollte fort, nur fort!
Sie riss so hastig an der Tür, dass sie polternd aufschwang. Im ersten Moment erstaunte es Oliviane, dass alles vor ihren Augen verschwamm – der graue Wald, der regnerische Morgen, der ganze entsetzliche Tag –, dann begriff sie, dass sie weinte.
Sie durfte nicht darüber nachdenken, was sie getan hatte. Sie musste fort, so schnell wie möglich! Hastig fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Augen und versuchte, einen Weg zu entdecken.
Die kleine Steinkate stand so eng an einen Felsen geschmiegt, dass ihre Mauern förmlich im grauen Granit verschwanden. Knorrige Kiefern und alte Tannen umragten sie wie düstere Wächter. Zwischen Rückwand und Fels befand sich eine Art Höhle, die als Stall diente. Dort entdeckte Oliviane einen hochbeinigen Rappen, der sie aus sanften dunklen Augen fragend musterte.
Mit letzter Kraft zog sie sich in den Sattel, legte den Mantelsack quer vor sich und trat dem unwilligen Rappen auffordernd in die Seite. »Komm schon«, trieb sie ihn heiser an. »Setz dich in Bewegung! Wir haben hier nichts mehr zu suchen!«
Oliviane umklammerte die ledernen Zügel und konzentrierte sich darauf, auf dem Rücken des Rappen zu bleiben. Tränen und Regen vermischten sich auf ihren Wangen – Oliviane konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Das ganze Elend ihrer ausweglosen Lage brach in diesem Moment über sie herein. Dass der Rappe mit dem sicheren Instinkt eines Tieres allein den Weg zu einer Landstraße fand, bemerkte sie kaum.
Theoretisch hatte alles viel einfacher gewirkt. Sie hatte den Schwarzen Landry betäuben und danach nach Rennes reiten wollen, um sich dort der Gnade Jean de Montforts zu unterwerfen. An seinem Hof musste eine Rospordon Gehör finden – und Schutz vor der Rache eines Paskal Cocherel. Einen Schutz, den sie zudem mit dem Stern von Armor bezahlen wollte. Der rechtmäßige Fürst des Landes sollte letztendlich darüber entscheiden, was mit dem Juwel geschah. So zumindest hatte sie es sich gestern noch vorgestellt.
Doch die Wirklichkeit hatte sie auf brutale Weise aus ihren kindischen Träumen gerissen. Während Landrys Leben in der Jagdhütte langsam verlöschte, schienen sich auch ihre Kraft und ihr Stolz immer mehr zu verflüchtigen. Sie war nicht besser als er – auch nur eine Mörderin, die ein Leben zerstört hatte, weil es den eigenen Zielen im Weg gestanden hatte. Wie kam sie dazu, sich für ehrenwerter zu halten?
Der Umstand, dass sie über Tage hinweg unter äußerster Anspannung gelebt und kaum geschlafen hatte, trug zudem dazu bei, dass Kälte und Nässe Oliviane stärker erschöpften, als es normalerweise der Fall gewesen wäre. Immer wieder verschwamm die Welt vor ihren Augen, und Oliviane drohte aus dem Sattel zu gleiten. Das Pferd schien es zu spüren, und es blieb immer wieder reglos stehen, bis sie sich wieder aufrichtete und es heiser vorwärts trieb – aufs Geratewohl die Landstraße entlang, von der sie nicht einmal wusste, wohin sie führte.
Sie entdeckte die traurige Gruppe nasser Menschen viel zu spät, die ihr plötzlich den Weg versperrte: drei schäbige Karren, deren Planen, vom Regen durchnässt, den Frauen und Kindern nur unzureichenden Schutz gewährten, und eine Handvoll Männer und Jugendlicher, die um die Deichsel des ersten Wagens stand und heftig gestikulierte. Das graue Bündel, das zu ihren Füßen lag, entpuppte sich beim Näherkommen als toter Maulesel.
Olivianes Rappe blieb wie von selbst in der Nähe der Gruppe stehen, und ihr Anführer erfasste die Situation sofort. Das nasse, erschöpfte Mädchen, dessen Kleider einen gewissen Wohlstand verrieten, und das wohlgenährte, starke Pferd, das ganz offensichtlich einem Krieger gehörte, schickte der Himmel!
Oliviane starrte verwirrt in das hagere braune Gesicht, das sich ihr nun entgegenhob. Schwarze lockige Strähnen klebten auf dem mageren Schädel, und eine schmale Adlernase beherrschte das befremdliche Landstreichergesicht. Gegen ihren Willen erschauerte sie, und sie hätte nicht sagen können, ob vor Furcht oder vor Kälte.
»Gott zum Gruße, schöne Reisende!«
Oliviane hörte die höflichen Worte, aber in ihrem schmerzenden Kopf fand sich keine Antwort darauf. Ihre Augen glitten von dem fremdartigen braunen Gesicht zu den anderen, die sie ebenso neugierig begafften wie ihr Anführer.
»Dies ist weder das richtige Wetter noch der richtige Tag für eine Reise«, sagte der Mann, und ein heiserer Akzent verlieh seinen Worten eine fremdartige Melodie. »Willst du nicht absteigen und unter unseren Planen Schutz vor dem Regen suchen? Du siehst aus, als hättest du ein wenig Erholung dringend nötig.«
Er hatte nicht damit gerechnet, dass Oliviane seiner Aufforderung dermaßen gehorsam Folge leisten würde. Geradezu dankbar dafür, dass jemand ihr die Entscheidung abnahm, glitt sie stumm aus dem Sattel. Ihr fallender Mantelsack wurde von einer geschickten braunen Hand aufgefangen, ohne dass sie es bemerkte.
Eine andere Hand stützte sie freundlich und bewahrte sie vor einem Sturz in den Schlamm der Straße. Ihre Glieder waren vor Kälte fast abgestorben, und die mitleiderregende Blässe ihres Gesichtes verriet überdeutlich, dass sie am Ende ihrer Kraft war.
»Kümmert euch um sie!«, befahl die fremdartige Stimme, und Oliviane wurde von starken Armen in den Karren gehoben, wo sich Frauen und Kinder bereits eng aneinander drängten. Die alte Frau, neben der sie Platz fand, hatte offensichtlich die Befehlsgewalt über die ärmliche bunte Truppe.
Oliviane sackte neben ihr zusammen. Sie spürte es kaum, als jemand eine Decke um ihre Schultern legte, die intensiv nach Heu und Ziegenstall roch. Oliviane begann zu zittern, ihre Zähne klapperten aufeinander, und im Rhythmus ihres Herzens dröhnte es in ihr in dumpfer Verzweiflung: Mörderin! Mörderin!
Inzwischen hatten die Männer draußen das Pferd an die Deichsel des ersten Wagens geschirrt und den Kadaver des Maultieres zerteilt. Es war alt und zäh, aber es war Fleisch für ihre Kochtöpfe. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, doch Oliviane hörte nicht einmal den erleichterten Seufzer, mit dem die Frauen diese Tatsache zur Kenntnis nahmen.
Irgendwo zwischen Wachen und Träumen sah sie unentwegt das bärtige Gesicht des Schwarzen Landry vor sich, ein Antlitz mit geschlossenen Augen, über dessen Schläfe rotes Blut rann. Sie hatte ihn getötet! Aber sie hatte nicht nur ihn getötet – mit dem gleichen Hieb hatte sie auch das eigene Herz zerschlagen. Es war die Strafe des Himmels, dass sie erst jetzt begriff, wie tief sie ihm verbunden war ...
»Was ist es, das dich so düster und schwermütig macht? Meine Mutter sagt, du hast nicht gegessen und sprichst kein Wort mit den Frauen?«
Oliviane sah in das braune Gesicht des Anführers, von dem sie jetzt wusste, dass man ihn Juan nannte und dass er der Sohn der alten Frau war, die mit scharfer Zunge und Argusaugen über die Weiber und Kinder der Gruppe herrschte. Sie waren Gaukler, ein elender Haufen hungriger Abenteurer, Artisten, Wahrsagerinnen und Landstreicher, die von Markt zu Markt und von Fest zu Fest zogen, um leben zu können.
»Du bist schön, und du bist traurig.« Juans rauer Akzent verlieh seinen Worten besondere Eindringlichkeit. Er berührte den dicken goldenen Zopf, der Olivianes Haare bändigte, und seine Fingerkuppen glitten über die schmalen Wangen ihres blassen Gesichts. »Was ist geschehen, dass das Leben allen Glanz für dich verloren hat? Willst du uns nicht endlich deinen Namen verraten?«
»O ... Odile ...«, wisperte sie so zögernd, dass sie sich sofort verriet. Aber sie brachte ihren wirklichen Namen nicht mehr über die Lippen. Oliviane war am Lager des Schwarzen Landry für immer gestorben.
Der Mann unterdrückte ein Lächeln. Er wusste noch nicht genau, was er von ihr halten sollte. Noch respektierte er, dass ihr Pferd ihnen aus einer ausweglosen Lage geholfen hatte. Doch die Tatsache, dass er beim Durchsuchen ihres Mantelsacks nur Männerkleider und einen Beutel Silbermünzen entdeckt hatte, gab ihm zu denken. Sie sah nicht wie eine Diebin aus, aber alles sprach dafür, dass sie eine war. Wen jedoch hatte sie bestohlen? Wurde sie gesucht? Brachte sie ihn und die anderen Gaukler durch ihre Gegenwart in Gefahr?
»Nun, Odile, wohin führt dich deine Reise?«, wagte er eine weitere Frage. »Du trägst vornehme Kleider, und dein Pferd, das unseren Karren zieht, ist wohl genährt und stark. Es ist das Pferd eines Kriegers, nicht das eines Mädchens ...«
Oliviane errötete und senkte den Kopf, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Sie hatte gewusst, dass die Fragen kommen würden.
»Ich habe mir das Pferd nur ausgeliehen, um nach Rennes zu reiten«, murmelte sie, unfähig sich eine andere, glaubhaftere Geschichte auszudenken.
»Diese Stadt ist auch unser Ziel«, erklärte Juan. »Man sagt, am Hofe des Herzogs der Bretagne hätten Gaukler und Artisten ein gutes Auskommen. Aber wem wirst du dein Pferd zurückgeben, wenn wir dort sind?«
Oliviane schwieg bedrückt.
»Bist du deiner Familie weggelaufen?«, forschte Juan weiter.
»Ich habe keine Familie mehr«, gestand sie müde. »Ich bin allein. Es gibt keine Menschenseele, die mein Schicksal kümmert ...«
»Dann bleib bei uns, solange es dir gefällt«, bot Juan scheinbar wohlwollend an. Oliviane konnte nicht ahnen, dass er im Stillen an den Beutel Silbermünzen und das Pferd dachte, die so auf höchst problemlose Weise in seinen Besitz übergingen. Er verabscheute Gewalt, auch wenn er sie von Fall zu Fall durchaus anzuwenden wusste, falls es die Umstände erforderten.
»Ich danke dir«, sagte sie tonlos. »Ich habe dein Mitleid nicht verdient ...«
»Du bist zu streng mit dir«, erwiderte Juan selbstgefällig. »Denkst du, wir haben nicht längst durchschaut, dass du das Pferd ebenso gestohlen hast wie den Mantelsack? Wovor fliehst du?«
»Du hast meine Sachen durchsucht?!« Ein Anflug ihres alten Hochmuts kehrte ganz plötzlich zurück.
»Du wirst noch lernen, dass ein Mann in meiner Lage vorsichtig sein muss. Ganz besonders, wenn er ein Mädchen bei sich aufnimmt, das einen Mantelsack voller Männerkleider und nicht einen einzigen Frauenrock bei sich trägt. Weißt du, was die ehrbaren Bürger mit einem schönen Mädchen machen, das als Diebin erwischt wird? Du musst das nächste Mal vorsichtiger sein.«
Er hatte den Arm um ihre bebenden Schultern gelegt, während er eindringlich weiter auf sie einredete. Eine ebenso beschützende wie besitzergreifende Geste, die der rothaarigen jungen Frau, die sie heimlich beobachtete, viel verriet. Ihr schmales Gesicht, das dem einer Füchsin glich, verzog sich zu einer bösen Grimasse und Eifersucht.
Juan gehörte ihr, und sie würde nicht zulassen, dass er dieses hergelaufene Weibsbild an ihre Stelle setzte! Sie würde Mittel und Wege finden, dies zu verhindern!