20. Kapitel

»Der Page sagt, Ihr wollt nicht zu Tisch kommen. Weshalb? Seid Ihr krank?«

Oliviane fuhr mit einem leisen Aufschrei von ihrem Fenstersitz hoch. Sie hatte dort gesessen, tief in Gedanken versunken. Obwohl sie im Schein des Feuers gegrübelt hatte, erkannte sie den Umriss der hohen Gestalt auf Anhieb. Und die Anspannung, unter der Hervé de Sainte Croix stand, schien sogleich auf sie überzugehen.

»Ihr?« Sie wich zurück.

»Der Herzog hat mich gebeten, nach Euch zu sehen, weil Ihr nicht zu Tisch gekommen seid. Gebt Ihr Euren Launen immer ohne jegliche Beherrschung nach? Ist Euch nicht bewusst, dass Jean de Montfort sich um Euch sorgt? Denkt Ihr nicht, dass er seine Zeit sinnvoller verwenden könnte, als über die Grillen einer verwöhnten Demoiselle nachzudenken?«

Die beherrschte Stimme, die ihr in höfischem, kühlem Französisch höchst unberechtigte Vorwürfe machte, ließ Oliviane für einen Moment die quälende Selbstverachtung vergessen. Dieser Mann hatte kein Recht, sich in ihr Leben zu mischen. Kein Recht, ihr eine peinigende Ähnlichkeit vorzugaukeln, die ihr Herz aussetzen ließ, und sie gleichzeitig seine Verachtung so deutlich spüren zu lassen.

»Denkt Ihr, Ihr habt Euch mit dem Stern von Armor das Recht erkauft, Eurem Herzog auf der Nase herumzutanzen?«, fuhr er fort.

»Nein«, räumte sie in bitterem Spott ein. »Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass ich nicht das kleinste Recht besitze. Nicht einmal jenes, selbst darüber zu bestimmen, ob ich heiraten oder Kinder in die Welt setzen möchte. Ich bin eine Frau und demzufolge das minderwertigste Wesen auf Gottes Erdboden. Unfähig, den eigenen Kopf zu gebrauchen. Unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen, und nur dazu da, dem Manne zu gehorchen! Denn Männer wie Ihr sind schließlich die Krone der Schöpfung!«

Die Worte sprudelten wie ein Sturzbach aus ihrem Mund, und als sie einmal zu reden begonnen hatte, konnte sie nicht so schnell wieder aufhören. Die Widersprüche ihres ganzen Daseins drängten vehement über ihre Zunge. Mutter Elissa hätte ihr vermutlich laut Beifall geklatscht. Aber Oliviane hatte sich für diese Debatte einen Gegner gesucht, der sich nicht so einfach mundtot machen ließ.

»Redet keinen Unsinn, das hat niemand behauptet!«, brummte er knapp und reizte sie damit nur zu einem neuerlichen Ausbruch.

»Ach nein? Haben nicht schon die weisen Kirchenväter festgestellt, dass die weibliche Natur besonders angeleitet werden muss, weil sie schwach und sündig ist? Haben sie damit etwa nicht allen Männern dieser Welt den Freischein geliefert, über die Köpfe der Frauen hinweg ihr Leben zu dirigieren? Sie wie dumme Schafe zu verkaufen, zu gebrauchen und am Ende zu schlachten, wenn sie zu nichts mehr nütze sind? O nein, widersprecht nicht! Ich weiß, dass Ihr Euren Herrn verteidigen wollt, aber ich möchte wetten, dass auch er nicht ausschließlich an seinem Heiligenschein poliert.«

»Zum Teufel!«, staunte der Seigneur de Sainte Croix und warf ihr einen verblüfften Blick zu. »Ihr werdet zur reinsten Furie, wenn man es wagt, Euch zu widersprechen!«

Oliviane reagierte höchst empfindlich auf seinen sarkastischen Ton. »Warum geht Ihr nicht endlich und amüsiert Euch mit Euresgleichen?«

Sie ahnte nicht, dass das Feuer die Umrisse ihrer Gestalt golden umschien und dass in ihrer Stimme die Tränen bebten, die sie mit aller Gewalt unterdrückte. Sie mochte ihre Fehler haben, stellte der Seigneur fest, aber sie besaß nicht die Spur von Koketterie. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, dass sie ein Bild bot, welches das Herz des härtesten Mannes rühren musste.

»Wie ihr seht, bin ich ohnehin der Hausdrachen, der jeden ehrbaren und friedfertigen Mann in den Wahnsinn treiben würde«, fügte sie resigniert hinzu. »Warum geht Ihr nicht und berichtet Eurem Herrn davon?«

»Ich beabsichtige nicht, den Pagen für Euch zu spielen. Ich bin gekommen, um Euch an die Tafel zu holen, und ich muss gestehen, ich habe Hunger!«

»Ich habe keinen Appetit!«, beharrte Oliviane und begriff im selben Moment, wie kindisch ihre Auseinandersetzung mit diesem Mann war. Sie lastete ihm Dinge an, die er nicht wissen konnte. Sie ließ tatsächlich ihre Launen an ihm aus, weil er sie aus unerklärlichen Gründen dazu reizte. Wann würde sie endlich gescheit werden?

Sie strich sich mit einer müden Bewegung über die Stirn und machte in der unverwechselbar spöttischen Art, die ihr eigen war, einen Rückzug. »Entschuldigt meine Gemütslage. Aber ich begleite Euch natürlich, wenn Ihr solchen Wert auf meine Gesellschaft legt!«

Sie hörte, dass er leise fluchte, aber er trat einen Schritt näher und hielt ihr den ausgestreckten Arm entgegen. Oliviane erhob sich, um ihre Hand auf diesen Arm zu legen. Sie wusste, wie sich eine Dame zu benehmen hatte, auch wenn ihre praktischen Erfahrungen auf diesem Gebiet gleich Null waren. Doch in dem Moment, in dem ihre Finger den Stoff seines Gewandes berührten, schien ein Funke zwischen ihnen hin- und her zu springen.

Ihre Hand zuckte zurück, und im flackernden rötlichen Schein der Flammen sah sie zum ersten Mal aus unmittelbarer Nähe in das markant geschnittene Männergesicht, aus dem sie unter buschigen dunklen Brauen tiefschwarze Augen ansahen. Gütiger Himmel, jetzt verlor sie vollends den Verstand! Wie gelähmt stand sie unter seinem Blick da, der auf eine so kühle, distanzierte Weise verächtlich wirkte, dass sie um ihre Fassung rang.

Er hatte auch die Augen des Schwarzen Landry! Aber jene hatten sie spöttisch, ungeduldig, liebevoll, verärgert, leidenschaftlich, wütend oder fassungslos angesehen. Nie jedoch auf diese abwertende, geringschätzig-arrogante Weise, die ihr den Atem nahm.

»Ich beiße Euch nicht«, sagte er eher beiläufig und griff nach ihrer Hand, um sie wieder auf seine geballte Faust zu legen. Oliviane wusste, dass er das Zittern spürte, das sie nicht unterdrücken konnte.

Es war ihr Gewissen, das ihr diesen bösen Streich spielte, das ihr etwas vorgaukelte, was sie für immer verloren hatte. Vermutlich würde sie künftig an jedem Mann Eigenschaften entdecken, die sie an Landry geliebt hatte. Vielleicht war das die schmerzlichste Strafe, die der Himmel über sie verhängte. Sie stieß bebend den Atem aus und schlug die Augen nieder, während sie mit der anderen Hand ihre Röcke raffte. Ein unmerklicher Ruck ging durch ihre Gestalt.

Einmal mehr sah sich der Seigneur gezwungen, ihre unverwechselbare Haltung zu bewundern. Er konnte fühlen, dass sie litt, aber ihr unbeugsamer Stolz hielt sie sogar in diesem Moment aufrecht. Mit blassem Gesicht und so kerzengerade, als ginge es in eine Schlacht, schritt sie schweigend an seiner Seite durch die festlich geschmückte Halle, in der der Herzog mit den Damen und Herren seines Hofes tafelte.

Beide teilten einen großen Teller, wie es bei Hofe üblich war. Oliviane nahm mechanisch die Bissen, die ihr Hervé de Sainte Croix mit einem silbernen Tafeldolch abschnitt und reichte. Sie schmeckte keinen Unterschied zwischen Braten, köstlichen Pasteten und raffiniert gewürzten Beilagen. Auf ihrer Zunge wurde alles zu Stroh, und nur ein reichliches Quantum Wein trug dazu bei, dass sie die geschmacklose Masse schlucken konnte.

Dafür war sie sich seiner nervenaufreibenden Gegenwart ständig bewusst. Er wich ihr auch nicht von der Seite, als die Tafel aufgehoben wurde und die Gaukler von den Musikanten abgelöst wurden.

»Es hieße, Eure Besorgnis um mein Wohlergehen zu übertreiben«, lehnte sie es schroff ab, mit ihm zu tanzen.

»Noch seid Ihr keine Nonne«, erinnerte er sie sarkastisch. »Es ist nicht nötig, dass Ihr bereits nach Klosterregeln lebt!«

»Aber ich beabsichtige auch nicht, nach Euren Regeln zu leben«, fauchte sie mit mühsam gezügeltem Zorn zurück. »Warum fordert Ihr nicht die Edeldame auf, die neben mir am Tisch saß. Sie schien mir krank vor Sehnsucht nach einem hübschen Ritter zu sein ...«

»Danke für das Kompliment, aber schmachtende Frauen sind schrecklich langweilig«, entgegnete er ruhig.

»Ich hatte nicht die Absicht, Euch zu schmeicheln«, zischte Oliviane. »Ich gab lediglich die Ansicht dieser Dame wieder. Wenn Ihr es genau wissen wollt: Ich persönlich finde wenig Schmeichelhaftes an Eurer Person!«

Sein nobel gezeichneter Mund verzog sich zu einem belustigten Lächeln, das zwei Reihen prächtig weißer Zähne freigab und Olivianes Herzschlag endgültig aus dem Takt brachte.

»Mir scheint, Ihr habt eher die Absicht, Euch den nächstbesten harten Gegenstand zu suchen, um ihn mir über den Kopf zu ziehen, damit ich Euch nicht länger im Wege bin«, sagte er so gelassen, als handelte es sich um das Angebot, am nächsten Morgen mit ihm auf die Jagd zu reiten.

Oliviane wankte unter dem unerwarteten Hieb. Sie schloss gequält die Augen. Er mochte einen seiner bitteren Scherze gemacht haben, aber er hatte sie mitten ins Herz getroffen.

»Ihr wisst nicht, was Ihr sagt«, murmelte sie und hob den Blick.

Hervé de Sainte Croix bemühte sich, in den samtigen braunen Tiefen ihrer Augen zu lesen. Er suchte den unbeugsamen Stolz, aber er fand etwas anderes – etwas Unbekanntes, das eine Saite seines Herzens anschlug, von deren Existenz er bisher keine Ahnung gehabt hatte. Es waren rätselhafte Augen, die ihn wider Willen in ihren Bann zogen, die seinen Verstand lähmten und ihn Dinge tun ließen, die er besser unterlassen hätte.

Wie von selbst hob sich seine Hand und strich mit prüfenden Fingerkuppen über die seidige Wölbung ihrer kühlen Wange. Wie schön sie war, wie unglaublich weich ihre Haut! In diesem Moment erschien Oliviane ihm wie die pure Verführung. Sie waren sich beide der Blicke nicht bewusst, die sie streiften. Sie hatten vergessen, dass sie sich in der Banketthalle des Herzogs befanden.

Oliviane erholte sich als Erste von der Verzauberung. Vielleicht weil sie sich der Gefahr noch eher bewusst gewesen war. Sie raffte panisch ihre Röcke und lief so flink aus dem Saal, dass sie bereits über die nächste Treppe verschwunden war, als der Seigneur de Sainte Croix ihr nacheilte, als hätte sie ihn bestohlen. Doch er holte sie nicht mehr ein.