15. Kapitel

Kessel dampften über den Feuerstellen, und der appetitliche Duft von gebratenen Fischen hatte alle Welt um die Glut versammelt, über der die Fische an langen Weidenästen gedreht wurden. Da Oliviane nach wie vor kaum das Nötigste zu sich nehmen konnte, mied sie auch jetzt die wartenden Menschen und wollte zwischen den Karren hindurchschlüpfen, als ihr plötzlich eine kleine Rothaarige den Weg verstellte.

»Du da, Odile! Auf ein Wort ...«

Oliviane runzelte die Stirn. »Was willst du?«

»Morgen erreichen wir Rennes!«

»Um mir das zu sagen, lauerst du mir im Dunkeln auf?«

»Ich hab’s nicht gern, wenn Fremde in meinem Revier wildern!«, zischte die Rothaarige böse. »Denkst du, ich seh’s nicht, wie du vor ihm mit den Hüften wackelst und ihn mit deinen Kuhaugen anschmachtest? Ich warne dich! Juan gehört mir!«

Olivianes erster Schrecken wich purer Erleichterung. »Ich will nichts von deinem Juan, ich schwör’s dir! Du kannst ihn behalten!«

»Ich glaube dir kein Wort«, erklärte die andere kalt. »Du verdrehst ihm mit deinen feinen Kleidern und deinem hochnäsigen Gehabe den Kopf. Er schaut keine von uns mehr an, seitdem du da bist!«

»Ich hab’ keine anderen Kleider!«, rief Oliviane ungeduldig. Dann kam ihr eine Idee. »Es sei denn, du willst die deinen mit mir tauschen?«

Damit hatte die Rote nicht gerechnet. Sie legte die hohe Stirn über den grünlichen Fuchsaugen in Falten. »Das würdest du tun?«

»Warum nicht?« Oliviane fand immer mehr Gefallen an dem spontanen Einfall. Mit dem Gewand wurde sie vielleicht auch die Erinnerung an jene Tage los, an denen sie es getragen hatte.

»Dann komm mit!«

»Nein! Den Beutel nicht!«

Oliviane beugte sich so schnell vor, dass die rote Fanny, mit der sie die Kleider getauscht hatte, das Nachsehen hatte. Das Mädchen schob schmollend die Unterlippe vor.

»Ich denke, die Tasche gehört zu dieser Art von feinem Kleid!«

Oliviane hatte keine Lust, noch einmal mit ihr zu streiten. Sie nahm das Spitzenrestchen, die Haarspange, den Kamm und das Salbendöschen heraus. »Die Dinge haben meiner Mutter gehört, ich will sie behalten!«

Fanny betrachtete gierig die leicht ramponierten Besitztümer. »Die Spange ist schon kaputt und dem Kamm fehlen zwei Zinken, meinetwegen. Was ist in der Dose?«

Einmal mehr öffnete Oliviane das cremefarbene, runde Döschen und hielt den Balsam unter Fannys gerümpfte Nase.

»Iiiih, der stinkt ja schon! Das Zeug kannst du behalten!« Angeekelt wandte sich die Rothaarige ab. »Gib mir dafür die Spitze!«

Es war weniger eine Bitte als ein Befehl. Oliviane gab nach und verstaute das Salbendöschen und die anderen Sachen in der Tasche des ausgefransten Flanellrockes, den sie jetzt trug. Er reichte ihr nur bis eine Handbreit über die Knöchel und gab ihre schmalen Fesseln und die blassen Füße frei, die in Holzpantinen steckten. Ein schmuddeliges Hemd mit Bänderzug und ein Fransentuch aus roter Wolle vervollständigten ihre neue Garderobe. Sie zog das Tuch fröstelnd um Kopf und Schultern und unterdrückte einen neuerlichen Hustenanfall.

»Du sollst bei mir im Wagen reisen, hat Juan gesagt«, berichtete Fanny und strich mit den Händen über die neue Pracht ihrer Kleider. Sie betrachtete den Tausch als ersten Sieg über die Rivalin und schwor sich im Geheimen, dass es nicht der letzte sein würde.

Oliviane nickte stumm. Ihr war es egal, ob sie mit Fanny oder mit Juans Mutter unterwegs sein musste. Sie verfiel immer mehr in Lethargie. In ihrem Kopf herrschte völlige Leere, und sie gab es auf, über Dinge nachzudenken, die ohnehin nicht mehr zu ändern waren. Oliviane verbrachte den folgenden Tag als Fannys stummer Schatten, der stundenlang unter der Plane des Karrens kauerte, ohne die Umgebung zur Kenntnis zu nehmen.

Sie rührte sich nicht einmal, als die Wagen unter den hallenden Torbögen von Rennes hindurchratterten. Sie schafften es gerade noch vor dem abendlichen Schließen der Tore, und die Wache schickte sie mürrisch zur Burg des Herzogs.

Im Schatten der Vorwerke hatte sich bereits allerlei Gesindel eingenistet, das der Herzog gnädig duldete, solange es die Gesetze achtete und keinen Arger machte.

Oliviane hatte sich beim ersten Anblick von Waffenröcken und Hellebarden noch tiefer in Fannys Karren zurückgezogen. Was, wenn den Wachen der Stadt eine Beschreibung der flüchtigen Oliviane de Rospordon vorlag?

Gelähmt von Furcht, Selbstvorwürfen und einem Kummer, der ihr fast den Atem nahm, vergrub sie das Gesicht in den Händen.

»Komm schon!«

Fanny zog Oliviane rücksichtslos durch das Gewühl der Menschen in der Rue Saint Guillaume. Das unebene Kopfsteinpflaster war glitschig, und sie rutschte in ihren Holzpantinen immer wieder aus. Juans Geliebte kümmerte sich nicht darum. Über ihnen quietschten die Zunftschilder in den eisernen Halterungen im Wind, und die Straßenhändler boten lautstark ihre Waren feil.

Fanny hatte Oliviane dazu gezwungen, ihre Zöpfe zu lösen, und der Wind trieb ihr die seidigen Strähnen immer wieder in die Augen. Er pfiff durch das brüchige Leinen ihres Hemdes und legte sich eisig auf ihre bloßen Schultern. Das wärmende rote Tuch hatte ihr Fanny herausfordernd um die Hüften gebunden. Aber Oliviane fror längst nicht mehr – sie war bereits vollkommen erstarrt.

Sie ahnte nicht, wie reizvoll sie mit ihrem blassen, makellosen Gesicht, den offenen flachsfarbenen Haaren und der höchst spärlichen Bekleidung wirkte. Das Gesicht eines Engels über dem Körper einer verführerischen Dirne, dieser Gedanke kam jedem, der Oliviane so sah. Fanny hatte gewusst, was sie tat, als sie ihre Begleiterin so wirkungsvoll aufgeputzt hatte. Es konnte nicht allzu lange dauern, bis sie einen lüsternen Kerl fand, der genügend dafür bezahlte, dass er ein solches Prachtstück in seine Kammer zerren durfte.

Im Gewühl des Marktes gab es eine ganze Reihe von käuflichen Mädchen, die hier ihrer Profession nachgingen. Die eine oder andere verirrte sich auch in die Gassen der wohlhabenderen Bürger, wie zum Beispiel in die Rue Saint Guillaume. Vielleicht fand sich ja ein lüsterner Handwerksmeister, der eine Magd für vielfältige Dienste in seinem Hause suchte? Fanny ließ die Blicke suchend über die Gesichter gleiten.

»Einen Moment, meine Schöne!«

Oliviane kehrte abrupt in die Wirklichkeit zurück, als sie am Arm gepackt wurde und plötzlich in das faltige, hochrote Gesicht eines dicken Mannes starrte, der unter seinem Samtbarett zu ihr aufsehen musste. Er hatte buschige graue Brauen, die wie Staubbalken über gelben, gefühllosen Augen saßen – Augen, die sie dermaßen an die des Herzogs von St. Cado erinnerten, dass sie einen schrillen Schrei ausstieß und sich so heftig von ihm losriss, dass der Stoff ihres Hemdes gefährlich knirschte.

»Lasst mich!«, schrie sie panisch und rannte einfach davon.

Dummerweise übersah sie dabei einen Prellstein, der den Eingang eines prächtigen, mehrstöckigen Fachwerkhauses markierte. Sie stolperte darüber und prallte, von ihrem eigenen Schwung getragen, mit der Stirn voll gegen die geschnitzte hölzerne Rundung des Einganges. Sie spürte einen Schlag, dann explodierten grelle Funken vor ihren Augen, und es wurde dunkel um sie herum.

Die Flüssigkeit rann heiß und schmerzlindernd durch ihre Kehle, aber sie schmeckte geradezu abscheulich. Oliviane schluckte dennoch – gezwungenermaßen, denn die Hand die den Becher führte, war so unnachgiebig wie jene, die ihren Nacken hielt.

»Heilige Anna, was ist das?«, keuchte sie und schnappte nach Luft, sobald sie, von allem Zwang befreit, wieder in die weichen, duftenden Kissen sank.

»Heißer Zwiebelsaft! Er wirkt Wunder bei einem so hässlichen Husten, wie Ihr ihn habt«, hörte sie eine sachliche Frauenstimme. »Haltet Euch ruhig, Kind! Ihr habt eine Beule von der Größe eines stattlichen Hühnereis an Eurer Stirn. Ich nehme an, dass Euer armer Kopf höllisch schmerzt, sobald Ihr auch nur eine Bewegung tut.«

Oliviane öffnete mit größter Anstrengung die Lider. Sie blickte direkt in ein breites Frauengesicht mit ruhigen grauen Augen. Das feine Netz von Fältchen in den Augenwinkeln, die tief gefurchte Stirn und der gelbliche Pergament-Teint verrieten, dass die Frau die Mitte des Lebens längst hinter sich gelassen hatte.

Die gestärkte Kegelhaube aus feinster Spitze über den grauen Haaren und das Kleid aus dunkelblauem flandrischem Tuch verrieten, dass ihre Besitzerin in besten, wenn nicht gar luxuriösen Verhältnissen lebte.

»Wo bin ich?«, flüsterte Oliviane und versuchte, den süßlich widerlichen Zwiebelgeschmack in ihrem Mund durch Schlucken zu vertreiben. »Da war ein Stein, über den ich gestolpert bin, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, ob es mir Leid tun soll, dass Ihr es getan habt!«, entgegnete die Frau offen. »Ich denke, Ihr seid bei mir sogar mit dieser prächtigen Beule besser aufgehoben als bei Maître Crépin!«

»War das dieser grässliche Kerl mit den gelben Wolfsaugen?«

»In der Tat. Und ich bin Dame Magali de Silvestre. Der Prellstein, der Euch aufgehalten hat, gehört zu meiner Haustür.«

»Es tut mir Leid, ich ...« Oliviane wollte sich aufrichten, sank aber mit einem heiseren Schmerzenslaut wieder zurück. Ihr Kopf drohte zu zerplatzen.

»Sagte ich nicht, dass Ihr liegen bleiben solltet?« Dame Magali wrang inzwischen ein sauberes Leinentuch in einer Zinnschüssel aus und legte Oliviane das ordentlich zusammengefaltete, kühle Tuch auf die schmerzende Stirn.

»Ich danke Euch sehr. Aber ich kann nicht bleiben, ich ...«

»Ihr werdet es wohl müssen, Kind. Das Mädchen, das Euch in diese Zwickmühle manövriert hat, ist längst davongelaufen!«

Dame Magali besaß die scharfen Augen eines Adlers, und sie war, in Begleitung ihrer Köchin, eben mit vollen Körben vom Markt gekommen, als sich das Drama auf den Stufen ihres Hauses abgespielt hatte.

Und sie hatte lange genug in dieser Stadt gelebt, um sich ein Urteil darüber erlauben zu können. Alles an dieser bezaubernden Fremden deutete auf eine Herkunft hin, die weit über der eines Straßenmädchens lag. Weshalb also trug diese prachtvolle junge Frau die zerschlissenen Kleider einer Dirne und setzte sich den Händen eines Scheusals wie Crépin aus?

Dame Magalis Interesse war in höchstem Maße geweckt.

Trotzdem zähmte sie für den Augenblick ihre Wissbegierde. Sie hatte den Eindruck, dass es ihrem schönen Gast im Moment mehr helfen würde, wenn man ihn ein wenig in Ruhe ließ. Wenn die Erschöpfung, die Erkältung und die Kopfverletzung keinen Schaden anrichten sollten, dann musste das Kind erst einmal wieder gesund werden.

»Ruht Euch aus, meine Liebe! Ich biete Euch die Gastfreundschaft dieses Hauses an, bis Ihr es wieder verlassen wollt. Ihr werdet sehen, es hat einigen Komfort. Seine Gnaden, der Herzog, hat es mir für meine Dienste überschrieben. Ich war seine Amme, und manchmal erweist er mir die Ehre, sich dieser Tatsache auch heute noch zu erinnern. Er ist ein gütiger und gerechter Herzog, und wir können dem Herrn dankbar sein, dass er am Ende den großen Sieg über seine Feinde davongetragen hat.«

Oliviane runzelte die Stirn. Dame Magali strömte eine mütterliche Wärme aus, die einen in Versuchung führte, sich in ihre Arme zu begeben und ihr alles Weitere zu überlassen.

Olivianes Augen fielen wie von selbst zu.

Sie zweifelte nicht daran, dass Fanny, Juan und die anderen Rennes inzwischen verlassen hatten. Natürlich mit dem Geld, das sie für ihr Pferd bekommen hatten, mit ihrem Mantelsack und allem, was sie besessen hatte. Ihr gehörte nichts mehr. Sogar das züchtige Nachthemd mit den langen Ärmeln, das sie trug, stammte vermutlich aus Dame Magalis umfangreichem Besitz. Alles war fort. Auch der Stern von Armor.

Sie empfand weder Empörung noch Trauer darüber. Die wenigen Tage, die sie in der Gesellschaft der Gaukler verbracht hatte, hatten ihr unbarmherzig klargemacht, dass es eine Armut gab, von der sie bisher trotz allem keine Ahnung gehabt hatte. Ein Mantelsack voller Kleider, ein Pferd und ein Frauengewand bildeten für diese armen Teufel bereits den Gipfel allen Reichtums. Man konnte sie verkaufen, um den Winter zu überleben, bis mit dem Frühling die Feste und Märkte zurückkamen.

Ihre Gedanken kehrten immer mehr ins Dunkel zurück. Das erste Entsetzen und der Schock über die eigene Tat wichen der tragischen Erkenntnis, dass sie einen entsetzlichen Fehler begangen hatte. Das Holzscheit, der schlafende Landry, der Hieb – es war Blut geflossen, viel zu viel Blut ... und es war Ihre Schuld.

Sie hatte in dem panischen Versuch, den Teufelskreis aus Anziehungskraft und Magie zu brechen, ein Leben zerstört, ein Leben, von dem sie jetzt erst wusste, dass es ihr unendlich teuer gewesen war. Der Mensch, den sie getötet hatte, hatte ihr die einzigen Momente der Zärtlichkeit und Liebe geschenkt, die sie jemals erleben würde.

»Du träumst!«, verhöhnte sie sich bitter. »Ein Söldner und eine davongelaufene, ehrlose Braut – wo sollte da Liebe entstehen? Er hat dich verführt, um dich besser beherrschen zu können. Um dir am Ende das Geheimnis des Sterns von Armor zu entreißen!«

Oliviane erbebte sogar jetzt noch unter der sicheren Gewissheit, dass es ihm letztendlich keine sonderlichen Schwierigkeiten bereitet hätte. Nicht nach jenen zauberhaften Stunden, in denen sie sich geliebt hatten! Von ihrem eigenen Körper, ihrem eigenen Herzen verraten, hätte sie ihm am Ende alles gegeben. Auch den Stern von Armor!

Und allein aus diesem Wissen heraus hatte sie zu dem mörderischen Schlag ausgeholt! Sie hatte gehofft, sich auf diese schreckliche Weise für immer von dem Mann befreien zu können, der so viel Macht über sie besaß. Ein verhängnisvoller Irrtum. Gemeinsam mit Landry war auch Oliviane de Rospordon gestorben.

O nein, es gab keine Oliviane de Rospordon mehr! Sie hatte das Recht verwirkt, unter diesem Namen Gerechtigkeit zu erbitten. Es war ein Name, der für Eidbruch, Verrat, Mord und Raub stand.

Blieb nur ›Odile‹, die dumme, verwirrte Dirne, die mit einem Trupp Gaukler durch die Lande zog und nicht wusste, woher sie kam und wohin sie ging. Würde Dame Magali diese Geschichte glauben? Vermutlich nicht. Kein Mensch war so töricht, das zu tun.

Trotzdem musste sie weiter ›Odile‹ sein. Deren ärmliches Leben bot die Möglichkeit, die große Schuld zu sühnen – so lange, bis der Himmel endlich ein Einsehen mit ihr hatte und ihr ärmliches Dasein beendete.