Kapitel 14

Ich ging an Alcides Arm die Treppe hinunter, denn ich fühlte mich bereits ein wenig schwummerig im Kopf. Kein Wunder, schließlich hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine illegale Droge genommen.

Ich war eine Idiotin.

Egal, immerhin war ich eine sich wohlig und warm fühlende Idiotin. Ein wunderbarer Nebeneffekt dieses Schamanentranks war übrigens, dass ich Eric, Alexej und Appius Livius nicht mehr annähernd so direkt wahrnehmen konnte. Meine Erleichterung darüber war unbeschreiblich.

Ein weniger erfreulicher Nebeneffekt war, dass ich meine Beine nicht mehr allzu deutlich unter mir spürte. Vielleicht hielt Alcide mich deshalb so fest am Arm. Ich musste daran denken, dass er über seine frühere Hoffnung, wir beide könnten ein Paar werden, gesprochen hatte, und ich dachte, es wäre vielleicht schön, ihn zu küssen und mich noch einmal daran zu erinnern, wie sich das anfühlte. Dann fiel mir wieder ein, dass ich all diese wohligen und warmen Gefühle besser einsetzen sollte, um Antworten auf Alcides Fragen zu finden. Also richtete ich all meine Gefühle darauf aus, und was war das für eine hervorragende Entscheidung! Ich war so stolz auf meine Leistung, dass ich am liebsten in meinem Stolz gebadet hätte.

Der Schamane hatte vielleicht ein paar Tricks gekannt, um sich mit diesen wohlig warmen Gefühlen auf das vorliegende Problem zu konzentrieren. Ich unternahm eine große Anstrengung, um mich zusammenzureißen. Während meiner Abwesenheit war die Menge im Salon noch größer geworden, mittlerweile war das ganze Rudel da. Ich konnte diese Vollzähligkeit geradezu spüren, als etwas Allumfassendes.

Blicke folgten uns, als wir die Treppe hinabstiegen. Jason wirkte alarmiert, und ich setzte ein beruhigendes Lächeln auf. Aber irgendetwas damit schien nicht zu stimmen, denn seine Miene glättete sich nicht.

Alcides Stellvertreterin Jannalynn ging zu der knienden Annabelle, warf den Kopf zurück und stieß eine ganze Reihe heulender Laute aus. Jetzt stand ich neben meinem Bruder, und er hielt mich fest. Irgendwie hatte Alcide mich Jasons Obhut übergeben.

»Herrje«, murmelte Jason. »Was ist so falsch daran, mit der Hand zu wedeln oder auf einen Gong zu schlagen?« Ich nehme an, Geheul als Zeichen zur Eröffnung einer Versammlung war unter der Würde von Panthern. Aber das war schon okay. Ich lächelte Jason an. Irgendwie fühlte ich mich wie Alice im Wunderland, nachdem sie von dem Pilz gegessen hatte.

Ich stand am Rand des Kreises, der sich um Annabelle gebildet hatte, Alcide auf der mir gegenüberliegenden Seite. Er sah in die versammelte Runde, um die Aufmerksamkeit des Rudels auf sich zu lenken. »Wir haben uns heute Abend zusammen mit zwei Besuchern hier versammelt, um zu entscheiden, was mit Annabelle geschieht«, sagt er ohne Vorrede. »Wir wollen ein Urteil darüber fällen, ob sie mit dem Tod von Basim etwas zu tun hat oder ob dieser Mord jemand anderem angelastet werden muss.«

»Warum sind Besucher da?«, fragte eine Frau. Ich suchte nach ihrem Gesicht, aber sie stand so weit hinten, dass ich sie nicht sehen konnte. Ich schätzte, es waren etwa vierzig Leute im Salon, im Alter zwischen sechzehn (die Verwandlung begann nach der Pubertät) und siebzig. Ham und Patricia standen ein Stück links von mir. Jannalynn war bei Annabelle stehen geblieben. Die wenigen anderen Rudelmitglieder, die ich mit Namen kannte, waren überall in der Menge verstreut.

»Hör gut zu«, sagte Alcide und sah mich direkt an. Okay, Alcide, Nachricht angekommen. Ich schloss die Augen und hörte zu. Wow, das war ja absolut fantastomatisch! Alcides Blick schweifte über die versammelten Rudelmitglieder, und ich bekam nicht nur das mit, sondern auch noch die folgende Welle der Angst. Ich konnte die Angst sehen. Sie war dunkelgelb. »Basims Leiche wurde auf Sookies Land gefunden«, sagte Alcide. »Und sie wurde dort abgelegt, um Sookie die Schuld an seinem Tod anzulasten. Die Polizei kam sie dort suchen, kurz nachdem wir sie ausgegraben hatten.«

Ein allgemeines Raunen gingen durch die Menge ... fast jeder war überrascht.

»Ihr habt die Leiche ausgegraben?«, sagte Patricia. Meine Augenlider flogen auf. Warum hatte Alcide das denn geheim gehalten? Es war ein totaler Schock für Patricia und einige andere, dass Basims Leiche sich nicht mehr auf der Lichtung befand. Jason trat hinter mich und stellte sein Bier ab. Er wusste, dass er die Hände freihaben musste. Mein Bruder mochte zwar kein Intelligenzbolzen sein, aber er hatte gute Instinkte.

Ich staunte nicht schlecht, wie clever Alcide alles inszeniert hatte. Ich konnte die Gedanken der Werwölfe zwar immer noch nicht allzu deutlich lesen, aber dafür all ihre Gefühle... und genau darauf hatte er es abgesehen. Als ich mich erneut konzentrierte und meine Aufmerksamkeit auf die einzelnen Personen im Salon lenkte, war die Erfahrung so intensiv, dass mein Geist beinahe den Körper verließ. Alcide sah ich als einen Ball feuerroter Energie, pulsierend und anziehend, und all die anderen Werwölfe umkreisten ihn auf verschiedenen Bahnen. Zum ersten Mal verstand ich, dass der Leitwolf der Planet war, um den im Werwolf-Universum alle anderen kreisten. Die Rudelmitglieder leuchteten in verschiedensten Abstufungen von Rot, Violett und Pink, den Farben der Hingabe an ihren Leitwolf. Jannalynn leuchtete in einem flammenden Rot, ihre Bewunderung verlieh ihr fast den gleichen Farbton wie Alcide selbst. Sogar Annabelle glomm in einem, wenn auch etwas zu hellen, Kirschrot, trotz ihrer Untreue.

Doch es gab auch ein paar grüne Flecken. Ich streckte den Arm aus und hob die Hand, als wollte ich dem Rest der Welt Einhalt gebieten, solange ich darüber nachdachte, was diese neue Wahrnehmung bedeutete.

»Heute Abend ist Sookie unser Schamane.« Alcides Stimme erreichte mich nur noch wie ein dumpfes Dröhnen aus einiger Entfernung. Doch das konnte ich getrost ignorieren. Ich folgte den Farben, denn sie verrieten die Person.

Grün, such nach Grün. Obwohl ich meinen Kopf stillhielt und die Augen geschlossen, bewegte ich beides irgendwie, um mir die grünen Leute anzusehen. Ham war grün. Patricia war grün. Ich sah in eine andere Richtung. Dort war noch ein Grün, aber es changierte zwischen Blassgrün und Hellgelb. Ha! Ambivalent, sagte ich mir weise. Noch kein Verräter, aber im Zweifel über Alcide als Leitwolf. Das flackernde Grün gehörte zu einem jungen Mann, doch er war unwichtig. Ich sah Annabelle noch einmal an. Immer noch Kirschrot, aber jetzt durchsetzt von orangefarbenem Flackern, weil große Furcht in ihre Loyalität eingebrochen war.

Ich schlug die Augen auf. Was sollte ich sagen, etwa: »Sie sind grün, schnappt sie euch!«? Doch plötzlich bewegte ich mich ganz unwillkürlich durch das Rudel, wie ein Ballon durch einen Wald voller Bäume. Direkt vor Harn und Patricia blieb ich schließlich stehen. Jetzt wäre ein wenig Praxis praktisch gewesen für die Schamanenpraktikantin. Ha! War das nicht komisch? Ich kicherte ein wenig vor mich hin.

»Sookie?«, sagte Ham. Patricia ließ ihn los und wich zurück.

»Gehen Sie doch nicht, Patricia«, bat ich und lächelte ihr zu. Sie war drauf und dran, wegzurennen, doch ein Dutzend Hände griffen nach ihr und hielten sie fest. Ich sah Ham an und fuhr ihm mit der gespreizten Hand über die Brust. Hätte ich Fingerfarben gehabt, hätte Ham wie ein Hollywood-Indianer auf dem Kriegspfad ausgesehen. »So eifersüchtig«, sagte ich. »Ham, Sie haben Alcide erzählt, dass beim Fluss Männer zelten, deshalb musste das Rudel in der Vollmondnacht meinen Wald benutzen. Sie haben diese Männer eingeladen, nicht wahr?«

»Sie - nein.«

»Oh, verstehe«, sagte ich und berührte seine Nasenspitze. »Verstehe.« Ich konnte seine Gedanken jetzt so deutlich hören, als wäre ich in seinem Kopf. »Sie waren also wirklich von der Regierung. Sie versuchten, Informationen über die Werwolfrudel in Louisiana zu sammeln und auch über Untaten, die die Rudel begangen haben könnten. Sie baten Sie, einen Stellvertreter zu bestechen, der ihnen all die Untaten beschreiben würde, die er begangen hatte. Damit sie dieses Gesetz durchpeitschen können, das euch alle zwingen wird, euch registrieren zu lassen wie Fremde. Hamilton Bond - Schande über Sie! Sie haben diesen Männern geraten, Basim unter Druck zu setzen, damit er ihnen Dinge erzählt... die Dinge, die zu seinem Rauswurf aus dem Rudel in Houston geführt haben.«

»Nichts davon ist wahr, Alcide«, sagte Ham. Er versuchte, ganz wie Mr Ehrenwert zu klingen, doch für mich klang er wie eine quietschende kleine Maus. »Alcide, ich kenne dich schon mein ganzes Leben lang.«

»Sie dachten, Alcide würde Sie zu seinem Stellvertreter machen«, fuhr ich fort. »Doch stattdessen entschied er sich für Basim, der schon Erfahrung mit dem Posten hatte.«

»Er ist in Houston rausgeflogen«, entgegnete Ham. »Das beschreibt genau, was für ein mieser Kerl er war.« Seine Wut brach sich Bahn, in pulsierendem Gold und Schwarz.

»Ich würde Basim ja fragen«, sagte ich, »und so die Wahrheit herausfinden. Aber das kann ich jetzt nicht mehr. Weil Sie ihn ermordet und in die kalte, kalte Erde gelegt haben.« Eigentlich war es gar nicht so kalt gewesen, aber ich fand, so eine kleine künstlerische Freiheit könnte ich mir schon erlauben. Mein Geist sirrte und schwirrte, weit oben über allem. Ich konnte so viel sehen! Ich fühlte mich wie ein Gott. Es war einfach herrlich.

»Ich habe Basim nicht ermordet ... verdammt, vielleicht doch, ja. Aber nur, weil er die Freundin unseres Leitwolfs gevögelt hat! Eine solche Illoyalität konnte ich einfach nicht ertragen!«

»Piep! Versuchen Sie's noch mal!« Mit gespreizten Fingern fuhr ich ihm über die Wangen. Schließlich mussten wir noch mehr wissen, nicht wahr? Einige andere Fragen waren noch nicht beantwortet.

»Basim traf sich in der Vollmondnacht mit einem Wesen in Ihrem Wald«, stieß Ham hervor. »Er ... ich weiß nicht, worüber sie geredet haben.«

»Mit was für einem Wesen?«

»Ich weiß es nicht. Irgendein Mann. Ein... so jemanden habe ich noch nie gesehen. Er sah extrem gut aus, wie ein Filmstar oder so was, mit langem Haar, sehr hellem langem Haar. Im einen Augenblick war er noch da, und im nächsten schon verschwunden. Er sprach mit Basim, als der in seiner Wolfsgestalt war. Basim war allein. Wir hatten das erlegte Rotwild gefressen, und ich bin hinter einem Lorbeergebüsch eingeschlafen. Als ich wieder aufwachte, hörte ich die beiden reden. Der Mann versuchte, Ihnen etwas anzuhängen, weil Sie ihm etwas angetan hätten. Ich weiß aber nicht was. Basim sollte jemanden töten, auf Ihrem Land begraben und dann die Polizei rufen. Damit wären Sie erledigt, und dann hat der El...« Hams Stimme erstarb.

»Sie wussten, dass es ein Elf war.« Ich lächelte Ham an. »Sie wussten es. Deshalb haben Sie beschlossen, den Job selbst zu erledigen.«

»Alcide hätte nicht gewollt, dass Basim so etwas tut, nicht wahr, Alcide?«

Alcide antwortete nicht, aber er leuchtete wie eine Feuerwerksrakete am Rande meines Blickfelds.

»Und Sie erzählten Patricia davon. Und sie half Ihnen«, sagte ich und strich ihm übers Gesicht. Er wollte, dass ich damit aufhörte, doch er wagte es nicht, irgendetwas zu unternehmen.

»Patricias Schwester ist in dem Krieg gestorben! Sie kann ihr neues Rudel nicht akzeptieren. Ich bin der Einzige, der nett zu ihr ist, sagt sie.«

»Oh, es ist so gütig, dass Sie nett zu einer schönen Werwölfin sind«, sagte ich spöttisch. »Guter Ham! Statt darauf zu warten, dass Basim jemanden ermordet und begräbt, ermordeten Sie Basim und begruben ihn. Statt zuzusehen, wie Basim eine Belohnung von dem Elfen bekommt, wollten Sie die Belohnung von dem Elfen einkassieren. Denn Elfen sind reich, nicht?« Ich grub ihm meine Fingernägel in die Wange. »Basim wollte das Geld, um sich von den Regierungstypen loszukaufen. Sie wollten das Geld um des Geldes willen.«

»Nein, Basim hatte genauso eigennützige Gründe, er wollte eine Blutschuld in Houston begleichen«, verteidigte sich Harn. »Er hätte nie mit diesen Anti-Werwolf-Typen geredet, auf keinen Fall. Er wollte seine Schuld begleichen, denn er hatte einen Menschen getötet, einen Freund des Rudels. Es war ein Unfall gewesen, während Basim in Wolfsgestalt war. Der Mensch schlug mit einer Hacke auf ihn ein, und Basim tötete ihn.«

»Ich weiß davon«, sagte Alcide, der bis jetzt kein Wort gesprochen hatte. »Ich habe Basim gesagt, dass ich ihm das Geld leihe.«

»Er wollte es sich wohl selbst verdienen«, entgegnete Ham niedergeschlagen. (Unglück, lernte ich, war purpurrot.) »Er wollte sich noch mal mit dem Elfen treffen, herausfinden, was genau er für ihn tun sollte, und sich dann eine Leiche aus der Leichenhalle holen oder irgendeinen toten Trinker aus dem Rinnstein lesen und auf Sookies Land begraben. Das hätte den Wunsch des Elfen erfüllt, ohne dass jemandem etwas geschehen wäre. Aber stattdessen beschloss ich ...« Er begann zu schluchzen, und seine Farbe veränderte sich zu einem verwaschenen Grau, die Farbe schwindenden Vertrauens.

»Wo wollten Sie den Elfen denn treffen?«, fragte ich. »Um Ihr Geld zu bekommen, meine ich. Das Sie sich verdient haben, das will ich nicht bestreiten.« Ich war stolz auf mich. Wie fair ich doch war! Fairness war natürlich blau.

»An demselben Ort wie Basim, in Ihrem Wald«, sagte Ham. »Südlich vom alten Friedhof. Heute spät in der Nacht.«

»Sehr gut«, murmelte ich. »Fühlen Sie sich jetzt nicht besser?«

»Ja«, gab er zu, ohne eine Spur von Ironie in der Stimme. »Und ich bin bereit, das Urteil des Rudels zu akzeptieren.«

»Ich nicht«, schrie Patricia. »Ich bin im Rudelkrieg dem Tod durch Unterwerfung entronnen. Ich unterwerfe mich noch einmal!« Sie fiel auf die Knie, wie Annabelle. »Ich flehe um Vergebung. Meine Schuld besteht allein darin, den falschen Mann zu lieben.« Wie Annabelle. Patricia neigte den Kopf. Ihr dunkler Zopf fiel ihr über die Schulter, und sie hielt die gefalteten Hände vors Gesicht. Schön wie ein Bild. Bildschön.

»Du hast mich doch nicht geliebt«, sagte Ham, ehrlich entsetzt. »Wir haben gevögelt, weil wir beide unglücklich waren: du, weil Alcide dich nicht in sein Bett geholt hat, und ich, weil Alcide mich nicht zu seinem Stellvertreter gemacht hat. Darin bestand unsere ganze Gemeinsamkeit!«

»Ihre Farben werden jetzt eindeutig heller«, beobachtete ich. Die Leidenschaft ihrer gegenseitigen Beschuldigungen heizte ihre Auren zu etwas Flammendem an.

Ich versuchte, mich an all das zu erinnern, was ich über Farben und ihre Bedeutungen gelernt hatte, doch es war ein einziges Wirrwarr. Dieses Schamanenzeug raubte einem auf Dauer wirklich alle Kräfte, geistig und körperlich. Ich spürte, dass ich bald völlig erschöpft zusammensacken würde. »Zeit für das Urteil«, sagte ich und sah Alcide an, dessen leuchtend rotes Glühen unvermindert anhielt.

»Annabelle sollte bestraft, aber nicht aus dem Rudel ausgestoßen werden«, schlug Alcide vor.

Lautes Protestgeschrei erhob sich.

»Tötet sie!«, schrie Jannalynn mit grimmig-entschlossener Miene. Sie war nur allzu bereit, Annabelle selbst zu töten. Wusste Sam wirklich, fragte ich mich, was für ein grausam-wildes Ding er sich da als Freundin zugelegt hatte. Er schien so weit weg im Augenblick.

»Hört meine Begründung«, sagte Alcide ruhig. Die Unruhe im Salon klang langsam wieder ab. »Diesen beiden zufolge«, er zeigte auf Ham und Patricia, »besteht Annabelles Schuld allein in einem moralischen Vergehen:

Sie hat mit zwei Männern zur gleichen Zeit geschlafen, während sie einem erzählte, sie sei treu. Was sie Basim erzählt hat, wissen wir nicht.«

Alcide sagte die Wahrheit... zumindest die Wahrheit, so wie er sie sah. Ich betrachtete Annabelle und erfasste die ganze Person: die disziplinierte Frau, die bei der Luftwaffe war; die praktisch veranlagte Frau, die ihr Rudelleben und ihr restliches Leben unter einen Hut zu bringen versuchte; die Frau, die all ihre Vernunft verlor, wenn es um Sex ging. Im Augenblick war Annabelle regenbogenfarben, doch nirgends schien Glück durch, nur Erleichterung (im Weiß des Regenbogens) darüber, dass Alcide sie nicht töten wollte.

»Nun zu Ham und Patricia«, fuhr Alcide fort. »Ham ist der Mörder eines Rudelmitglieds und hat statt der offenen Herausforderung den Weg der Hinterhältigkeit gewählt. Das erfordert normalerweise eine harte Bestrafung, vielleicht sogar mit dem Tod. Wir sollten aber bedenken, dass Basim ein Verräter war - und das nicht nur als einfaches Rudelmitglied, sondern als Stellvertreter. Er war bereit, mit jemandem außerhalb des Rudels zu paktieren, gegen unsere Interessen zu handeln und den guten Namen einer Freundin des Rudels zu beschädigen.«

»Oh, das bin ich«, murmelte ich Jason zu.

»Und Patricia, die unserem Rudel Treue geschworen hat, hat diesen Schwur gebrochen«, sagte Alcide. »Deshalb sollte sie für immer ausgestoßen werden.«

»Leitwolf, das ist zu gnädig«, rief Jannalynn vehement. »Ham verdient eindeutig den Tod für seine Illoyalität. Ham auf jeden Fall.«

Eine Zeit lang herrschte Schweigen, dann setzten immer lauter werdende Diskussionen ein. Ich sah mich in dem großen Salon um: Überall die Farbe der Nachdenklichkeit (Braun natürlich), die sich in alle möglichen Schattierungen auffächerte, als die Atmosphäre sich aufheizte. Jason legte von hinten seine Arme um mich. »Du musst hier raus«, flüsterte er, und ich sah, dass seine Worte rosarot und geringelt waren. Er liebte mich. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, damit ich nicht laut loslachte. Wir zogen uns zurück, erst einen Schritt, dann zwei, drei, vier, fünf ... bis wir schließlich in der Eingangshalle standen.

»Wir müssen hier raus«, wiederholte Jason. »Wenn sie zwei gut aussehende Mädels wie Annabelle und Patricia umbringen, will ich nicht daneben stehen und mir das ansehen müssen. Und wenn wir nichts sehen, müssen wir auch nicht als Zeugen vor Gericht erscheinen, im Fall der Fälle.«

»Sie werden nicht lange diskutieren. Annabelle wird es überleben, glaube ich. Aber Alcide wird sich von Jannalynn überreden lassen, Ham und Patricia zu töten«, erzählte ich ihm. »Das sagen mir seine Farben.«

Jason starrte mich an. »Ich weiß ja nicht, was du da oben getrunken oder geraucht oder inhaliert hast, aber du musst hier jetzt schnellstens raus.«

»Okay.« Erst jetzt merkte ich, dass mir schon seit einiger Zeit nicht mehr gut war. War es vorhin nur Erschöpfung gewesen, so wurde mir jetzt plötzlich übel. Ich schaffte es zum Glück gerade noch bis in Alcides Vorgarten, bevor ich mich übergab. Und ich wartete auch gleich noch die zweite Welle ab, ehe ich zu Jason in den Pick-up stieg.

»Was würde Gran dazu sagen, dass ich einfach gehe, ohne die Folgen dessen abzuwarten, was ich getan habe?«, fragte ich ihn traurig. »Als Alcide nach dem Werwolfkrieg seinen Sieg feierte, bin ich auch gegangen. Ich weiß ja nicht, wie ihr Panther feiert. Aber glaube mir, ich wollte garantiert nicht dabei sein, wenn er eine Werwölfin vögelt. Es war schon schlimm genug zu sehen, wie Jannalynn die Verwundeten hingerichtet hat. Andererseits ...« Ich verlor den Faden in einer weiteren Welle aufkommender Übelkeit, die aber diesmal nicht so stark war.

»Gran hätte gesagt, dass du nicht verpflichtet bist, zuzusehen, wie andere sich gegenseitig umbringen, und dass nicht du es verursacht hast, sondern sie«, erwiderte Jason forsch. Mein Bruder hatte zwar Mitleid mit mir, das wusste ich, doch die Aussicht, mich mit einem so nervösen Magen den ganzen Weg bis nach Hause zu fahren, begeisterte ihn nicht sonderlich.

»Hör mal, kann ich dich nicht einfach zu Eric bringen?«, fragte er. »Der wird doch sicher das ein oder andere Badezimmer haben, und dann bleibt mein Pick-up sauber.«

Unter allen anderen Umständen hätte ich mich geweigert, da Eric in einer so schwierigen Situation steckte. Aber ich war ziemlich wackelig auf den Beinen, und ich sah immer noch Farben. Ich nahm zwei der Magentabletten, die zufällig im Handschuhfach lagen, und spülte meinen Mund wiederholt mit Sprite, das Jason im Pick-up hatte. Ich musste zugeben, dass es wirklich besser wäre, wenn ich die Nacht in Shreveport verbrachte.

»Ich kann dich morgen früh abholen«, bot Jason an. »Oder vielleicht fährt dich ja auch sein Tagestyp zurück nach Bon Temps.«

Bobby Burnham würde eher einen Haufen gackernder Hühner transportieren.

Während ich noch zögerte, spürte ich, nun, da ich nicht mehr von Werwölfen umgeben war, wie großer Kummer durch meine Blutbahnen strömte. Es war das stärkste, aktivste Gefühl, das ich seit Tagen von Eric wahrgenommen hatte. Und der Kummer wurde noch größer, als Unglück und körperlicher Schmerz ihn zu umspülen begannen.

Jason wollte mich gerade fragen, was ich denn nun eigentlich vor der Rudelversammlung geschluckt hatte.

Doch ich schnitt ihm das Wort ab. »Bring mich zu Eric. Schnell, Jason, irgendwas stimmt da nicht.«

»Da auch?«, jammerte er, brauste aber sofort von Alcides Auffahrt herunter.

Ich zitterte vor Angst, als wir am Zugangstor der bewachten Wohnanlage anhielten, damit Dan, der Wachmann, einen Blick auf uns werfen konnte. Jasons Pick-up kannte er nicht.

»Ich bin hier, um Eric zu besuchen, und das ist mein Bruder«, sagte ich und versuchte, so normal wie möglich zu klingen.

»Fahren Sie rein«, erwiderte Dan lächelnd. »Ist 'ne Weile her.«

Als wir in Erics Auffahrt einbogen, sah ich, dass das Garagentor offen stand, obwohl das Garagenlicht aus war. Das ganze Haus lag im Dunkeln. Vielleicht waren sie alle im Fangtasia. Nein. Ich wusste, dass Eric hier war. Ich wusste es einfach.

»Das gefällt mir gar nicht«, sagte ich und setzte mich auf. Ich kämpfte noch mit den Nachwirkungen der Droge. Seit ich mich übergeben hatte, ging es mir zwar ein wenig besser. Aber es war noch immer, als würde ich die Welt durch einen Dunstschleier wahrnehmen.

»Lässt er es sonst nicht offen?« Jason spähte über sein Lenkrad hinweg.

»Nein, das tut er nie. Und sieh mal! Die Tür zur Küche steht auch offen.« Ich stieg aus dem Pick-up und hörte, dass Jason auf der anderen Seite auch ausstieg. Die Scheinwerfer seines Wagens leuchteten automatisch noch einige Sekunden lang weiter, sodass ich ziemlich leicht zur Tür gelangte. Ich klopfte sonst immer an bei Eric, wenn er mich nicht erwartete, weil ich nie wusste, wer da sein würde oder worüber sie sprachen. Doch dieses Mal stieß ich die Tür einfach weiter auf. Dank der Scheinwerfer konnte ich ein Stück weit in den Raum hineinsehen. Unbehagen breitete sich um mich wie Nebel aus. Ein Gefühl, das ich meinem angeborenen Talent verdankte, aber auch den zusätzlichen Sinneseindrücken durch die Droge. Ich war froh, dass Jason direkt hinter mir stand. Sein Atem ging viel zu schnell und viel zu laut.

»Eric«, flüsterte ich sehr, sehr leise.

Keine Antwort. Es war rein gar nichts zu hören.

Ich betrat die Küche, gerade als die Scheinwerfer von Jasons Pick-up ausgingen. Von den Straßenlaternen fiel ein trübes Glimmen herein. »Eric«, rief ich. »Wo bist du?« Ich krächzte vor Anspannung. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

»Hier drin«, sagte er von weiter hinten im Haus, und mein Herz krampfte sich zusammen.

»Danke, lieber Gott«, murmelte ich und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus. Schon lag der Raum in hellem Licht da. Ich sah mich um. Die Küche war blitzblank, wie immer.

Die schrecklichen Dinge waren also nicht hier geschehen.

Ich schlich von der Küche in Erics großes Wohnzimmer und wusste sofort, dass hier jemand gestorben war. Blutspuren überall. Einige waren sogar noch feucht. Und tropften. Ich hörte, wie Jason der Atem stockte.

Eric saß auf dem Sofa, den Kopf in Händen. Außer ihm war in dem Raum niemand mehr am Leben.

Der Blutgeruch nahm mir fast den Atem, doch ich eilte sofort zu ihm. »Schatz?«, sagte ich. »Sieh mich an.«

Als er den Kopf hob, sah ich eine furchtbare klaffende Wunde an seiner Stirn. Die Kopfwunde musste enorm geblutet haben, denn sein ganzes Gesicht war voll getrocknetem Blut. Als er sich aufrichtete, sah ich auch, wie blutdurchtränkt sein zerfetztes weißes Hemd war. Die Wunde am Kopf begann bereits zu verheilen, aber diese andere... »Was ist das, was da durch dein Hemd sticht?«, fragte ich.

»Meine Rippen sind gebrochen, die Knochen stehen hervor«, sagte er. »Das wird wieder heilen, braucht aber seine Zeit. Du wirst sie wieder an ihren Platz schieben müssen.«

»Was ist denn passiert?«, fragte ich und bemühte mich sehr, ruhig zu klingen. Er wusste natürlich, dass ich es nicht war.

»Ein Toter hier drüben«, rief Jason. »Ein Mensch.«

»Wer ist es, Eric?« Ich hob seine nackten Füße aufs Sofa, damit er sich hinlegen konnte.

»Bobby«, erwiderte er. »Ich wollte ihn hier rechtzeitig herausschaffen, aber er war sich so sicher, dass er mir irgendwie helfen könnte.« Eric klang unglaublich erschöpft.

»Wer hat ihn ermordet?« Nach weiteren Lebewesen hatte ich mich noch gar nicht umgesehen, und ich erschrak über meine Achtlosigkeit.

»Alexej ist wieder ausgerastet«, sagte Eric. »Er hat heute Nacht sein Zimmer verlassen, als Ocella sich gerade mit mir unterhielt. Ich wusste, dass Bobby noch im Haus war. Aber ich habe einfach nicht daran gedacht, dass er in Gefahr sein könnte. Felicia war auch hier, und Pam.«

»Warum war Felicia hier?«, fragte ich. In der Regel lud Eric seine Angestellten nicht zu sich nach Hause ein. Und Felicia, die Barkeeperin des Fangtasia, stand auf der Rangleiter der Vampirhierarchie ganz unten.

»Sie war mit Bobby zusammen. Er hatte noch ein paar Papiere, die ich unterzeichnen sollte, und da ist sie mit ihm zusammen hergekommen.«

»Also ist Felicia...?«

»Vampirreste hier drüben«, rief Jason. »Das meiste ist schon Asche.«

»Sie hat den endgültigen Tod gefunden«, sagte Eric.

»Oh, das tut mir so leid!« Ich nahm ihn in die Arme, und bald darauf entspannten sich seine Schultern. Ich hatte Eric noch nie so besiegt gesehen. Selbst in der furchtbaren Nacht, als die Vampire aus Las Vegas uns umzingelt hatten und wir gezwungen waren, uns Victor zu unterwerfen, in der Nacht, als er gedacht hatte, wir würden alle sterben, hatte er immer noch den entscheidenden Funken Entschlossenheit und Energie gehabt. Doch im Augenblick wurde er buchstäblich überschwemmt von Niedergeschlagenheit, Wut und Hilflosigkeit. Dank seines verdammten Schöpfers, dessen Ego ihn dazu getrieben hatte, einen schwer traumatisierten Jungen zum Vampir zu machen.

»Wo ist Alexej denn jetzt?«, fragte ich so forsch, wie ich konnte. »Und wo ist Appius? Lebt er noch?« Zum Teufel mit diesem Doppelgemoppel von Namen. Wäre doch großartig, dachte ich, wenn Alexejs erneuter Wahnanfall wenigstens dazu gut gewesen wäre, den uralten Vampir zu töten. Hätte mir jede Menge Ärger erspart.

»Ich weiß nicht.« Eric klang auch vollkommen besiegt.

»Was?« Ich war ehrlich entsetzt. »Er ist dein Schöpfer, Schatz! Du spürst es, wenn er tot ist. Wenn sogar ich euch drei schon seit einer Woche spüre, musst du ihn doch noch viel stärker wahrnehmen.« Judith hatte gesagt, sie habe am Tag von Lorenas Tod einen Stich gespürt, auch wenn sie nicht verstand, was er bedeutete. Eric war schon so lange Vampir, dass es ihm vielleicht sogar körperlich schaden würde, wenn Appius starb. Im Bruchteil einer Sekunde änderte ich meine Meinung vollkommen. Appius sollte leben, bis Eric sich von seinen Wunden erholt hatte. »Du musst dich auf die Suche nach ihm machen!«

»Er bat mich, ihm nicht zu folgen, als er sich auf die Suche nach Alexej machte. Er will nicht, dass wir alle sterben.«

»Du willst also einfach nur zu Hause herumsitzen, weil er es gesagt hat? Obwohl du nicht weißt, wo sie sind, was sie tun oder wem sie etwas antun?« Ich wusste selbst nicht, was Eric hätte tun sollen. Die Droge schwappte noch immer durch meine Blutbahnen, auch wenn die Wirkung langsam nachließ - ich sah nur noch manchmal auch dort Farben, wo keine hingehörten. Aber ich hatte meine Gedanken und meine Worte nicht ganz unter Kontrolle. Ich wollte Eric einfach dazu bringen, sich wie Eric zu verhalten. Ich wollte, dass er aufhörte zu bluten. Und ich wollte, dass Jason Erics Rippen wieder an ihren Platz schob, denn ich konnte kaum hinsehen, wie die Knochen durch das blutige Hemd stachen.

»Ocella hat mich darum gebeten.« Eric sah mich mit finsterem Blick an.

»So, er hat dich gebeten? Klingt nicht wie ein direkter Befehl für mich. Eher wie eine Bitte. Aber korrigiere mich, wenn ich mich irre«, erwiderte ich so schnippisch, wie ich konnte.

»Ja«, sagte Eric mit zusammengebissenen Zähnen. Ich konnte spüren, wie seine Wut wuchs. »Es war kein direkter Befehl.«

»Jason!«, rief ich. Mein Bruder kam mit düsterer Miene zu uns. »Schieb bitte Erics Rippen wieder an ihren Platz«, bat ich ihn und dachte: Wieder so ein Satz, von dem ich im Traum nicht gedacht hätte, dass er mir je über die Lippen kommen würde. Wortlos und mit einem harten Zug um den Mund legte Jason seine Hände auf beide Seiten der klaffenden Wunde. Dann sah er Eric an, sagte: »Fertig?«, und übte, ohne auf Antwort zu warten, einen starken Druck aus.

Eric gab ein schreckliches Geräusch von sich, aber ich sah, dass er sofort aufhörte zu bluten und die Heilung einsetzte. Jason starrte einen Augenblick lang seine blutverschmierten Hände an und machte sich dann auf die Suche nach einem Badezimmer.

»Also. Und jetzt?«, sagte ich und reichte Eric eine offene Flasche TrueBlood, die auf dem Wohnzimmertisch gestanden hatte. Er verzog das Gesicht, trank sie aber aus. »Was willst du tun?«

»Über das alles hier reden wir später.« Eric warf mir einen Blick zu.

»Kein Problem!« Ich erwiderte den Blick genauso finster und ließ meine Gedanken einen Augenblick lang in eher abwegige Gefilde wandern: »Und während du die Dinge auflistest, die du tun solltest, wo bleibt eigentlich die Putztruppe?«

»Bobby...«, begann er und hielt sofort inne.

Bobby Burnham hätte für Eric die Putztruppe bestellt.

»Okay, wie wär's, wenn ich mich darum kümmere«, schlug ich vor, obwohl ich keine Ahnung hatte, woher ich ein Telefonbuch kriegen sollte.

»Er hat eine Liste mit wichtigen Nummern in der rechten Schublade meines Schreibtischs im Büro aufbewahrt«, sagte Eric sehr, sehr leise.

Auf der Liste fand ich eine Vampir-Reinigungsfirma namens Fangster Clean-up, die auf halbem Weg zwischen Shreveport und Baton Rouge angesiedelt war. Und da sie von Vampiren geführt wurde, würde sie auch geöffnet sein. Ein Mann nahm den Anruf entgegen, und ich schilderte ihm das Problem. »Wir können in drei Stunden bei Ihnen sein, wenn der Hausbesitzer uns einen sicheren Ruheplatz für den Tag anbieten kann, falls es länger dauert«, sagte er.

»Kein Problem.« Es war schwer zu sagen, wo die anderen beiden Bewohner des Hauses waren und ob sie lebend vor Tagesanbruch zurückkommen würden. Wenn ja, dann könnten sie alle in Erics breitem Bett oder in dem anderen fensterlosen Schlafzimmer ruhen, falls die Särge belegt waren. Außerdem standen auch in der Waschküche noch ein paar Kunststoffsärge, soweit ich wusste.

Die Teppiche und Möbel würden also schon mal gereinigt. Jetzt mussten wir nur noch sicherstellen, dass heute Nacht keiner mehr starb. Als ich aufgelegt hatte, fühlte ich mich supereffizient, aber irgendwie auch seltsam leer, was wohl daher kam, dass ich überhaupt nichts mehr im Magen hatte. Ich fühlte mich so federleicht, dass ich geradezu über den Boden schwebte. Ups, ich hatte anscheinend immer noch mehr von der Droge im Blut als ich dachte.

Dann erschrak ich - hatte Eric nicht gesagt, dass auch Pam im Haus gewesen sei? Wo war sie? »Jason«, rief ich, »such bitte nach Pam - bitte!«

Ich ging in das übelriechende Wohnzimmer zurück und öffnete erst mal die Fenster. Dann drehte ich mich zu meinem Freund herum, der vor dieser Nacht alles Mögliche gewesen war: arrogant, clever, dickköpfig, verschwiegen, gerissen, und das war nur die Shortlist. Aber er war nie unentschlossen gewesen, und schon gar nicht hoffnungslos.

»Wie sieht dein Plan aus?«, fragte ich ihn.

Er sah schon etwas besser aus, seit Jason ihm die Rippen wieder hineingedrückt hatte. Ich konnte keine Knochen mehr sehen. »Ich habe keinen«, sagte Eric, wirkte aber zumindest schuldbewusst dabei.

»Wie sieht dein Plan aus?«, fragte ich noch einmal.

»Hab ich doch schon gesagt. Ich habe keinen Plan. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ocella könnte inzwischen tot sein, wenn Alexej schlau genug war, ihm aufzulauern.« Blutige Tränen rannen Eric über die Wangen.

»Piiiep! Aufwachen!« Ich machte das Geräusch eines Weckers nach. »Du hättest es mitgekriegt, wenn Appius Livius tot wäre. Er ist dein Schöpfer. Wie sieht dein Plan aus?«

Eric sprang auf und zuckte nur einmal leicht zusammen. Gut. So weit hatte ich ihn schon mal angetrieben.

»Ich habe keinen!«, brüllte er. »Was auch immer ich tue, es wird jemand sterben!«

»Ohne Plan wird auch jemand sterben. Und das weißt du. Wahrscheinlich stirbt gerade in diesem Augenblick jemand! Alexej ist verrückt! Lass uns einen Plan machen.« Ich warf die Arme in die Luft.

»Warum riechst du so seltsam?« Plötzlich fiel ihm sogar mein PEACE-Shirt auf. »Du riechst nach Werwölfen und Drogen. Und du hast dich übergeben.«

»Ich bin heute Nacht bereits durch die Hölle gegangen«, sagte ich, womit ich vielleicht ein bisschen übertrieb. »Und jetzt werde ich da noch ein zweites Mal durch müssen, weil irgendjemand dir in deinen Wikingerarsch treten muss, damit du endlich in die Gänge kommst.«

»Was soll ich tun?«, fragte er in einem seltsam vernünftigen Ton.

»Ist es denn okay für dich, wenn Alexej Appius Livius umbringt? Ich meine, ich habe sicher nichts dagegen. Aber ich hätte doch gedacht, dass du die Sache etwas anders siehst. Da habe ich mich wohl geirrt.«

Jason wankte herein. »Ich hab Pam gefunden«, sagte er und sackte sehr plötzlich in einen Sessel. »Sie brauchte Blut.«

»Aber sie bewegt sich noch?«

»Kaum. Lauter Schnittwunden und eingedrückte Rippen, und der linke Arm und das rechte Bein sind gebrochen.«

»Oh Gott!«, rief ich und rannte los, um sie zu suchen. Meine Gedanken waren definitiv von dieser Droge benebelt, sonst hätte Pam höchste Priorität gehabt, gleich nachdem ich Eric lebend angetroffen hatte. Sie hatte noch versucht, aus dem Badezimmer zurück ins Wohnzimmer zu kriechen, in das Alexej sie anscheinend gelockt hatte. Die Schnittwunden waren die sichtbarsten Verletzungen, doch Jason hatte recht. Wo man hinsah kaputte Rippen, gebrochene Knochen, immer noch, dabei hatte sie doch schon Blut von Jason gehabt.

»Sag nichts«, stöhnte sie. »Er hat mich überrascht. Ich bin... so... dumm. Wie geht's Eric?«

»Der wird wieder. Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Nein«, sagte sie bitter. »Ich krieche hier lieber ganz allein übers Parkett.«

»Zimtziege«, murmelte ich und bückte mich, um ihr aufzuhelfen. Es war ziemlich schwierig. Aber Jason hatte Pam schon so viel Blut gegeben, dass ich ihn nicht um Hilfe bitten wollte. Gemeinsam wankten wir ins Wohnzimmer.

»Wer hätte gedacht, dass Alexej so viel Schaden anrichten kann? Er ist so mickrig, und du bist so eine großartige Kämpferin.«

»Schmeichelei«, sagte sie mit krächzender Stimme, »nützt an diesem Punkt gar nichts mehr. Es war mein Fehler. Der kleine Scheißkerl ist dauernd Bobby gefolgt, und ich hatte gesehen, wie er sich in der Küche ein Messer nahm. Ich wollte ihn im Badezimmer einschließen, als Bobby kurz mal aus dem Haus war. Damit Ocella Gelegenheit hat, den Jungen zu beruhigen. Aber er hat sich auf mich gestürzt. Er ist schnell wie eine Schlange.«

Ich bezweifelte so langsam, dass ich es mit Pam bis zum Sofa schaffen würde.

Eric stand zögernd auf, fasste Pam an der anderen Seite unter, und gemeinsam manövrierten wir sie zum Sofa hinüber, das er gerade freigemacht hatte.

»Brauchst du Blut von mir?«, fragte er sie. »Ich danke dir. Du hast dein Bestes getan, um ihn aufzuhalten.«

»Er ist auch mein Verwandter.« Pam sank erleichtert in die Kissen. »Durch dich bin ich mit diesem kleinen Mörder verwandt.« Eric hielt ihr sein Handgelenk hin. »Nein, du brauchst dein Blut selbst, wenn du dich auf die Suche nach ihm machst. Meine Verletzungen heilen bereits.«

»Weil du 'n paar Halbe von mir hattest«, sagte Jason mit matter Stimme, aber mit einem Abglanz seiner üblichen Prahlerei.

»Das hat gutgetan. Vielen Dank, Panther«, erwiderte sie, und mein Bruder grinste etwas selbstgefällig vor sich hin. Doch in dem Moment klingelte sein Handy. Ein unverkennbarer Klingelton, es war Jasons Lieblingslied: »We Are the Champions« von Queen. Er zog das Telefon aus der Hosentasche und klappte es auf. »Hey«, sagte er, und dann hörte er zu.

»Bist du okay?«, fragte er.

Wieder hörte er zu.

»Okay. Danke, Schatz. Bleib drin, schließ alle Türen ab und mach keinem auf, bis du meine Stimme hörst! Okay?«

Jason klappte das Handy wieder zu. »Das war Michele«, sagte er. »Alexej war gerade bei mir zu Hause und wollte mich besuchen. Sie hat aufgemacht, ihm aber nicht erlaubt, reinzukommen, weil er ein Untoter ist. Er hat ihr erzählt, dass er sich an meinem Leben wärmen will, was immer das heißen soll. Und dass er bei dir zu Hause meine Fährte aufgenommen hat und dann meinem Geruch gefolgt ist.« Jason wirkte verunsichert, so als wäre er dabei ertappt worden, dass er kein Deo benutzt hatte.

»War der ältere Vampir ihm auf der Spur?« Ich lehnte mich an eine Wand. Wie praktisch Wände doch waren, dachte ich. Inzwischen war ich total erledigt.

»Ja, der war kaum 'ne Minute später auch da.«

»Was hat Michele zu ihnen gesagt?«

»Sie hat ihnen gesagt, dass sie zu deinem Haus zurückgehen sollen. Da es Vampire waren, hat sie gedacht, das ist dein Problem.« Tja, so war sie, die gute Michele.

Mein Handy lag draußen in Jasons Pick-up, also benutzte ich seins, um bei mir zu Hause anzurufen. Claude ging ran. »Was machst du denn zu Hause?«, fragte ich.

»Wir haben montags geschlossen«, sagte er. »Warum rufst du an, wenn du nicht willst, dass ich rangehe?«

»Claude, ein ziemlich gefährlicher Vampir ist auf dem Weg zu meinem Haus. Und er kann hereinkommen, weil er schon mal da war«, erklärte ich ihm. »Du musst da raus. Steig ins Auto und hau ab.«

Alexejs Wahnanfälle und Claudes für Vampire unglaublich anziehender Geruch: Das war eine tödliche Kombination. Die Nacht war anscheinend noch lange nicht vorbei. Ich fragte mich, ob sie wohl je zu Ende gehen würde. Und einen schrecklichen Augenblick lang blickte ich in einen endlosen Albtraum hinein, in dem ich von Krise zu Krise stolperte, immer knapp im Hintertreffen.

»Gib mir deinen Autoschlüssel, Jason«, bat ich. »Du bist nach deiner Blutspende nicht in der Lage zu fahren, und Eric muss noch heilen. Mit seinem Auto will ich nicht fahren.« Mein Bruder fischte seinen Schlüssel aus der Tasche und warf ihn mir zu. Mein Gott, war ich dankbar, dass endlich mal einer keine Diskussion begann.

»Ich komme mit«, sagte Eric und stand auf. Pam hatte die Augen geschlossen, riss sie aber auf, als sie merkte, dass wir gehen wollten.

»Okay.« Ich war über jede Hilfe froh, die ich kriegen konnte. Sogar ein geschwächter Eric war stärker als fast jeder andere. Ich erzählte Jason noch von der Putztruppe, und dann waren wir auch schon zur Tür hinaus und saßen im Pick-up, Pams Protestgeschrei noch im Ohr, dass wir sie nur auf die Ladefläche legen müssten, sie würde auf dem Weg schon heilen.

Ich fuhr, und ich fuhr schnell. Es war sinnlos, Eric zu fragen, ob er hinfliegen wollte, damit er schneller dort wäre. Ich wusste, dass er es nicht konnte. Eric und ich sprachen auf der Fahrt kein Wort. Wir hätten entweder viel zu viel zu sagen gehabt oder nicht genug. Wir waren noch etwa fünf Minuten von meinem Haus entfernt, als Eric sich plötzlich vor Schmerz krümmte. Es war nicht sein Schmerz, das wusste ich, denn ich bekam über unsere Blutsbande eine abgeschwächte Version zu spüren. Etwas sehr Schlimmes war passiert. Kaum eine Dreiviertelstunde nach unserer Abfahrt aus Shreveport rasten wir die Auffahrt zu meinem Haus entlang, was übrigens eine verdammt gute Zeit war.

Im Schein der Außenbeleuchtung vor meinem Haus bot sich uns ein seltsamer Anblick. Ein hellblonder Elf, den ich noch nie gesehen hatte, stand Rücken an Rücken mit Claude da. Der unbekannte Elf schwang ein langes dünnes Schwert, und Claude hatte in jeder Hand eins meiner längsten Küchenmesser. Alexej, der unbewaffnet zu sein schien, umkreiste sie wie eine bleiche kleine Tötungsmaschine. Er war nackt und am ganzen Körper mit Flecken übersät, in allen Schattierungen von Rot. Ocella lag lang hingestreckt im Kies, sein Kopf in einer dunkelroten Blutlache. Farben schienen wirklich das Thema dieser Nacht zu sein.

Ich bremste so abrupt, dass die Reifen des Pick-up durchdrehten, und wir kletterten eilig aus dem Wagen.

Alexej lächelte. Er bekam also mit, was um ihn herum geschah und dass wir gekommen waren. Aber er hörte nicht auf, die beiden Elfen zu umkreisen. »Ihr habt Jason gar nicht mitgebracht«, rief er. »Ich wollte ihn sehen.«

»Er musste Pam eine Menge Blut geben, damit sie nicht stirbt«, erwiderte ich. »Er war zu schwach.«

»Er hätte sie sterben lassen sollen«, rief Alexej. Dann flitzte er unter dem Schwert hindurch und versetzte dem unbekannten Elfen einen Fausthieb in die Magengrube. Obwohl Alexej kein Messer hatte, schien er die anderen necken zu wollen. Der Elf schwang das Schwert so blitzschnell, dass ich den Bewegungen mit den Augen nicht folgen konnte. Es ritzte Alexejs Haut ein und fügte den blutigen Rinnsalen, die ihm bereits die Brust hinabliefen, noch ein weiteres hinzu.

»Würdest du damit bitte aufhören?«, bat ich und taumelte leicht, denn meine Kräfte ließen rapide nach. Eric legte mir einen Arm um die Schultern.

»Nein«, sagte Alexej in seiner hohen Jungenstimme. »Erics Liebe für dich strömt durch unsere Blutsbande, Sookie, wie kann ich da aufhören. So gut habe ich mich seit Jahrzehnten nicht gefühlt.« Er fühlte sich wunderbar, das spürte auch ich über unsere Verbindung. Die Droge hatte die Blutsbande zeitweise zwar betäubt, doch jetzt nahm ich wieder Nuancen wahr. Es war allerdings ein Bündel so widersprüchlicher Gefühle, dass ich meinte, in einem Wind zu stehen, der beständig die Richtung wechselte.

Eric versuchte, uns dorthin zu lenken, wo sein Schöpfer lag. »Ocella«, sagte er, »lebst du noch?«

Ocellas Gesicht war blutüberströmt, doch er öffnete eins seiner dunklen Augen. »Zum ersten Mal seit Jahrhunderten wünschte ich, ich täte es nicht.«

Das wünschte ich auch, dachte ich und spürte, dass er mir einen Blick zuwarf.

»Sie würde mich ohne Hemmungen töten«, sagte der Römer und klang fast amüsiert. In demselben Ton fuhr er fort: »Alexej hat mein Rückgrat verletzt, und solange es nicht geheilt ist, kann ich mich nicht bewegen.«

»Alexej, bring die Elfen bitte nicht um«, bat ich. »Das da ist mein Cousin Claude, und ich habe nicht mehr viele Angehörige.«

»Wer ist der andere?«, fragte der Junge und machte einen unglaublichen Satz, um Claude an den Haaren zu ziehen und über den anderen Elfen hinwegzuspringen, der diesmal nicht schnell genug war mit seinem Schwert.

»Keine Ahnung.« Ich wollte schon hinzufügen, dass er kein Freund von mir sei, sondern vermutlich ein Feind, der im Wald gemeinsame Sache mit einem Werwolf gemacht hatte. Aber ich wollte nicht noch jemanden sterben sehen... außer vielleicht Appius Livius.

»Ich bin Colman«, brüllte der Elf, »ein Himmelself, und mein Kind ist tot, Ihretwegen!«

Oh.

Es war der Vater von Claudines Baby.

Als Eric mich losließ, hatte ich Mühe, stehen zu bleiben. Alexej vollführte einen weiteren seiner rasanten Angriffe unter dem Schwert hindurch und schlug Colman aus vollem Lauf heraus so hart gegen das Bein, dass der Elf fast zu Boden ging. Doch Claude gelang es, genau zum richtigen Zeitpunkt mit einem seiner Messer hinter sich zu stechen, und traf Alexej direkt unter der Schulter. Die Wunde hätte den Jungen getötet, wenn er ein Mensch gewesen wäre. Doch so rutschte Alexej nur im Kies aus, rappelte sich wieder auf und machte weiter. Vampir oder nicht, der Junge schien allmählich zu ermüden. Ich wagte nicht, den Blick abzuwenden, um zu sehen, was Eric tat und wo er war.

Dann kam mir eine Idee. Angestachelt davon lief ich ins Haus, auch wenn ich nicht richtig geradeaus laufen konnte und auf den Verandastufen stehen bleiben und erst mal Atem schöpfen musste.

In einer meiner Nachttischschubladen lag die Silberkette, mit der vor langer Zeit ein Ausbluterpärchen Bill gefesselt hatte, um ihm Blut abzuzapfen. Ich verbarg die Kette in der Hand und taumelte mit der Faust hinter dem Rücken wieder aus dem Haus und nahe an die drei Kämpfenden heran - vor allem an den tanzenden, wirbelnden Alexej. In der kurzen Zeit, die ich weg gewesen war, schien er ein wenig langsamer geworden zu sein - Colman war indes auf die Knie gegangen.

Ich verabscheute meinen Plan, aber das alles musste endlich aufhören.

Als der Junge das nächste Mal bei mir vorbeikam, hielt ich die Kette locker in beiden Händen und war bereit. Ich riss die Arme hoch und wieder herunter, und schon hatte ich Alexej die Kette mit einem Ruck um den Hals geschlungen. Mit aller Kraft, die ich noch aufbringen konnte, kreuzte ich die Arme und zog. Alexej ging schreiend zu Boden, und kaum einen Moment später war Eric da, in Händen einen Ast, den er von einem Baum abgebrochen hatte. Er hob beide Arme und ließ sie niedersausen. Und in der nächsten Sekunde hatte der Zarewitsch von Russland seinen endgültigen Tod gefunden.

Ich keuchte, da ich zu erschöpft war, um zu weinen, und sank zu Boden. Die beiden Elfen ließen ihre Klingen sinken. Claude half Colman auf die Beine, und sie legten sich gegenseitig die Hände auf die Schultern.

Eric stand zwischen den Elfen und mir und behielt sie wachsam im Auge. Colman war mein Feind, daran bestand kein Zweifel, und Eric war auf der Hut. Da er mich nicht ansah, nutzte ich die Gelegenheit, zog den Pfahl aus Alexejs Brust und schlich zu dem hilflosen Appius hinüber. Er sah mir lächelnd entgegen.

»Dann töte ich Sie eben selbst«, sagte ich sehr, sehr leise. »Ich will, dass Sie sterben. Unbedingt.«

»Da Sie innehalten, um mit mir zu sprechen, weiß ich, dass Sie es nicht tun werden.« Er sprach mit größter Zuversicht. »Sie würden auch Eric verlieren dadurch.«

Ich wollte ihm beweisen, dass er in beidem unrecht hatte. Doch es hatte schon so viel Blut und Tod gegeben in dieser Nacht. Ich zögerte. Dann hob ich den Ast mit beiden Händen. Und zum ersten Mal wirkte Appius ein wenig beunruhigt - oder vielleicht hatte er auch einfach nur resigniert.

»Nicht«, sagte Eric.

Ich hätte es wohl dennoch getan, wenn nicht ein bittender Ton in seiner Stimme gelegen hätte.

»Wissen Sie, was Sie tun könnten, um sich tatsächlich mal nützlich zu machen, Appius Livius?«, sagte ich. Da stieß Eric einen Schrei aus. Appius Livius sah an mir vorbei, und ich konnte spüren, wie er mir sagte, dass ich aus dem Weg gehen solle. Mit allerletzter Kraft warf ich mich zur Seite. Das Schwert, für mich bestimmt, landete direkt in Appius Livius, und es war ein Elfenschwert. Der Römer zuckte in Krämpfen, während sein Körper um die Wunde herum mit erschreckender Geschwindigkeit schwarz wurde. Colman, der entsetzt sein unbeabsichtigtes Opfer angestarrt hatte, richtete sich auf und riss die Schultern zurück. Langsam kippte er vornüber, und ich sah ein Messer zwischen seinen Schulterblättern stecken. Eric schob den zuckenden Colman zur Seite.

Mit einem Mal lag Appius Livius ganz still da. »Ocella!«, schrie Eric entsetzt.

»Nun ja, okay«, sagte ich erschöpft und wandte den Kopf, um zu sehen, wer das Messer geworfen hatte. Claude sah auf die beiden Messer hinab, die er noch in Händen hielt, als erwartete er, dass jeden Augenblick eins davon verschwinden würde.

Welche Farbe hatte noch mal die Verwirrung?

Eric packte den verwundeten Elfen und biss ihm in den Hals. Elfen wirken unglaublich anziehend auf Vampire - das heißt, ihr Blut -, und Eric hatte einen sehr guten Grund, diesen Elfen zu töten. Er hielt sich in keiner Weise zurück, und es war ziemlich eklig. Das gurgelnde Schlucken, das Blut, das Colmans Nacken hinab lief, der glasige Blick seiner Augen... Beide hatten glasige Augen, fiel mir auf. In Erics stand schierer Blutrausch, und aus Colmans schwand das Leben. Er war durch seine vielen Wunden zu geschwächt gewesen, um sich gegen Eric zur Wehr zu setzen. Eric wirkte mit jeder Sekunde rosiger.

Claude humpelte herüber und setzte sich neben mich ins Gras. Er legte meine Messer vorsichtig neben mich auf den Boden, als hätte ich ihn gedrängt, sie mir zurückzugeben. »Ich habe versucht, ihn zur Heimkehr in die Elfenwelt zu überreden«, sagte mein Cousin. »Ich habe ihn nur ein- oder zweimal gesehen. Er hatte einen cleveren Plan, mit dem er dich ins Gefängnis bringen wollte. Eigentlich hatte er vor, dich zu ermorden, doch dann sah er dich mit Hunter im Park. Er dachte daran, das Kind zu töten, aber das hätte er nicht mal in rasendem Zorn fertiggebracht.«

»Du bist bei mir eingezogen, um mich zu beschützen«, stellte ich fest. Das war erstaunlich bei jemandem, der so egoistisch war wie Claude.

»Meine Schwester hat dich geliebt«, erwiderte Claude. »Colman hat Claudine sehr verehrt und war stolz, dass sie ihn als Vater ihres Kindes ausgewählt hatte.«

»Er war vermutlich einer von Nialls Gefolgsleuten.« Colman hatte gesagt, dass er ein Himmelself sei.

»Ja, Colman bedeutet >Taube<.«

Das änderte jetzt auch nichts mehr. Er tat mir leid. »Er hätte doch wissen müssen, dass Claudine sich durch keines meiner Worte davon abhalten lassen würde, das zu tun, was sie für richtig hielt«, sagte ich.

»Das wusste er«, gab Claude zu. »Deshalb konnte er sich nicht überwinden, dich zu ermorden, auch schon ehe er dich mit Hunter sah. Und deshalb hat er auch mit dem Werwolf geredet und diesen verwickelten Plan ausgeheckt.« Er seufzte. »Wenn Colman wirklich überzeugt gewesen wäre, dass du schuld bist an Claudines Tod, hätte ihn nichts aufgehalten.«

»Ich hätte ihn aufgehalten«, sagte da jemand anderes, und Jason trat aus dem Wald. Nein, es war mein Großonkel Dermot.

»Aha, du hast also das Messer geworfen«, rief ich. »Danke, Dermot. Geht's dir gut?«

»Ich hoffe...« Dermot sah uns flehend an.

»Colman hat ihn verhext«, sagte Claude. »Wenigstens glaube ich das.«

»Er hat mir, so deutlich er konnte, zu erzählen versucht, dass er unter einem magischen Bann steht«, erwiderte ich. »Und weil er sagte, dass du kaum noch magische Kräfte hast, dachte ich auch, dass der andere Elf, dieser Colman, ihn verhext hätte. Aber müsste der magische Bann jetzt, da Colman tot ist, nicht gebrochen sein?«

Claude runzelte die Stirn. »Dann war es gar nicht Colman, der dich verhext hat, Dermot?«

Dermot sank vor uns zu Boden. »So viel länger«, sagte er rätselhafterweise. Ich dachte einen Augenblick darüber nach.

»Er meint, dass er schon sehr viel länger verhext ist«, erklärte ich und spürte, wie mein Herz doch noch vor Aufregung pochte. »Willst du sagen, dass du schon vor Monaten verhext wurdest?«

Dermot ergriff meine Hand mit seiner Linken und die Claudes mit seiner Rechten.

»Er meint wohl, dass es schon sehr viel länger andauert. Jahrzehntelang«, sagte Claude.

Tränen rannen Dermot über die Wangen.

»Ich könnte wetten, dass es Niall war«, sagte ich. »Niall hatte vermutlich seiner Ansicht nach gute Gründe dafür. Hm, Dermot könnte es verdient haben, weil - ich weiß nicht - er mit seinem Elfenerbe haderte oder so was.«

»Mein Großvater ist sehr liebevoll, aber nicht sehr ... tolerant«, bestätigte Claude.

»Weißt du, wie man einen magischen Bann im Märchen löst?«, fragte ich.

»Ich habe schon gehört, dass Menschen sich Märchen über Elfen erzählen«, erwiderte Claude. »Dann sag du mir mal, wie man einen Bann löst.«

»Im Märchen mit einem Kuss.«

»Kein Problem«, meinte Claude. Und als hätten wir schon wochenlang Synchronküssen geübt, beugten wir uns beide vor und küssten Dermot auf die Wangen.

Und es funktionierte. Erst zitterte er am ganzen Körper, dann sah er uns an, und Vernunft schoss ihm in die Augen, aber auch Tränen. Dermot begann tatsächlich zu weinen. Nach einer Weile kniete Claude sich neben ihn und half ihm auf. »Wir sehen uns später«, sagte er noch zu mir, ehe er Dermot ins Haus führte.

Jetzt waren Eric und ich allein. Eric hatte sich etwas abseits der drei Leichen auf den Boden gehockt.

»Das hat wahrlich Shakespeare'sche Ausmaße«, sagte ich, als ich all die Toten und all das in den Grund sickernde Blut betrachtete. Alexejs Leiche war bereits zu Asche geworden, aber sehr viel langsamer als die seines uralten Schöpfers. Da Alexej nun seinen endgültigen Tod gefunden hatte, würden auch die albernen Vampirknochen aus dem Grab in Russland verschwinden. Die Leiche des Elfen hatte Eric auf den Kies gelegt, wo sie wie alle toten Elfen zu Staub wurde. Dieser Vorgang unterschied sich sehr von der Auflösung der Vampire, war aber genauso praktisch. Leichen würde ich wenigstens keine verstecken müssen, dachte ich. Ich war so erschöpft von diesem wirklich entsetzlichen Tag, dass mir dieser Moment wie der glücklichste der vergangenen Stunden erschien. Eric sah aus wie einem Horrorfilm entstiegen und roch auch so. Unsere Blicke trafen sich. Er sah zuerst weg.

»Ocella hat mir alles über das Vampirleben beigebracht«, sagte Eric sehr leise. »Er brachte mir bei, wie man sich ernährt und versteckt, und wann es ungefährlich ist, sich unter Menschen zu mischen. Er brachte mir bei, wie man Sex mit Männern hat, und dann gab er mich frei, und ich hatte Sex mit Frauen. Er beschützte und liebte mich. Er hat mir Schmerz bereitet, jahrzehntelang. Er hat mir das Leben geschenkt. Mein Schöpfer ist tot.« Er sprach, als könnte er es selbst kaum glauben und wüsste nicht, welche Gefühle er empfinden sollte. Sein Blick verweilte auf den flockigen Ascheresten, die einst Appius Livius Ocella gewesen waren.

»Ja.« Ich versuchte, nicht allzu glücklich zu klingen. »Das ist er. Und ich habe es nicht getan.«

»Aber du hättest es getan«, sagte Eric.

»Ich habe es in Erwägung gezogen«, gab ich zu. Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen.

»Worum wolltest du ihn bitten?«

»Ehe Colman ihn erstach?« Obwohl »erstechen« kaum das richtige Wort dafür war. »Durchbohren« traf es besser. Ja, »durchbohren«. Mein Hirn arbeitete im Schneckentempo.

»Na ja«, begann ich. »Ich wollte ihm sagen, dass ich ihn gern am Leben lassen würde, wenn er Victor Madden für dich umbringt.«

Ich hatte Eric verblüfft, so sehr wie jemand, der so ausgelaugt war wie er, nur verblüfft sein konnte. »Das wäre gut gewesen«, sagte er langsam. »Eine gute Idee, Sookie.«

»Ja. Wird nur jetzt nichts mehr draus.«

»Du hast recht«, sagte Eric, und er sprach noch immer sehr langsam. »Hier sieht es wirklich aus wie am Ende eines Stücks von Shakespeare.«

»Und wir sind die Überlebenden. Juchhu.«

»Ich bin frei«, sagte Eric und schloss die Augen. Dank der letzten Nachwirkungen der Droge konnte ich quasi sehen, wie das Elfenblut durch seine Adern zischte, wie seine Kräfte wuchsen. Alle körperlichen Wunden waren verheilt, und die berauschende Wirkung von Colmans Blut ließ ihn jetzt seine Trauer um seinen Schöpfer und seinen Bruder vergessen und nur noch die große Erleichterung empfinden, frei zu sein. »Ich fühle mich so gut.« Er sog die Nachtluft ein, in der noch der Geruch von Blut und Tod hing. Eric schien diesen Duft zu genießen. »Du bist meine Liebste«, sagte er, und seine Augen blitzten wahnsinnig blau.

»Ich bin froh, das zu hören«, erwiderte ich, völlig unfähig zu lächeln.

»Ich muss nach Shreveport zurück, um mich um Pam zu kümmern und die Dinge zu tun, die ich nach Ocellas Tod tun muss«, sagte Eric. »Aber sobald es geht, werden wir beide uns wieder treffen und die verlorene Zeit wettmachen.«

»Klingt gut«, erwiderte ich. Endlich waren wir wieder allein mit unseren Blutsbanden, auch wenn sie nicht mehr so stark waren wie früher. Wir hatten sie länger nicht erneuert. Und das würde ich Eric auch nicht vorschlagen, heute Nacht jedenfalls nicht. Er sah auf, sog noch einmal den Geruch ein und erhob sich in den Nachthimmel.

Als alle Leichen vollständig verschwunden waren, stand auch ich auf und ging ins Haus. Das Fleisch auf meinen Knochen fühlte sich an, als könnte es jeden Augenblick vor lauter Müdigkeit abfallen. Ich sagte mir, dass ich ein gewisses Triumphgefühl empfinden sollte. Nicht ich war tot, sondern meine Feinde. Aber in der Leere, die die Droge hinterließ, empfand ich nur eine gewisse bittere Genugtuung. Im großen Badezimmer unten lief Wasser, und ich konnte meinen Großonkel und meinen Cousin reden hören, ehe ich meine eigene Badezimmertür hinter mir schloss. Als ich geduscht hatte und bettfertig war, öffnete ich die Tür wieder und sah, dass die beiden in meinem Schlafzimmer auf mich warteten.

»Wir wollen uns mit in dein Bett legen«, sagte Dermot. »Dann werden wir alle besser schlafen.«

Das erschien mir unglaublich seltsam und unheimlich - oder vielleicht dachte ich auch nur, dass es das sollte. Ich war einfach viel zu müde, um mich noch zu streiten, und so krabbelte ich ins Bett. Claude legte sich auf meine eine, Dermot auf die andere Seite. Und gerade als ich dachte, dass ich so nie einschlafen würde, dass diese Situation viel zu seltsam und falsch war, strömte eine wohltuende Entspannung durch meinen Körper, eine Art ungewohntes Behagen. Ich hatte Familie um mich, Blutsverwandte.

Und dann schlief ich ein.