Kapitel 12
Judith begann ihre Geschichte mit einer Frage an mich. »Haben Sie Lorena je getroffen?«
»Ja«, sagte ich und beließ es dabei. Denn Judith wusste offenbar nicht, wie ich Lorena getroffen hatte, nämlich mit einem Pfahl mitten ins Herz. Was ihr langes, abscheuliches Leben natürlich beendet hatte.
»Dann wissen Sie, dass sie skrupellos ist.«
Ich nickte.
»Sie sollen wissen, warum ich mich all die Jahre von Bill ferngehalten habe, obwohl ich ihn sehr mag«, sagte Judith. »Lorena hatte ein schweres Leben gehabt. Ich habe nicht unbedingt alles geglaubt, was sie mir erzählte, aber ein paar Dinge wurden mir von anderen bestätigt.« Judith sah mich gar nicht mehr. Sie ließ vermutlich all die vielen Jahre vorüberziehen und blickte in die Vergangenheit zurück.
»Wie alt war sie?«, fragte ich, damit sie den Faden wieder aufnahm.
»Zu der Zeit, als Lorena auf Bill traf, war sie schon seit Jahrzehnten eine Vampirin. Sie war 1788 von einem Mann namens Solomon Brunswick gewandelt worden, der sie in einem Bordell in New Orleans kennengelernt hatte.«
»Sie meinen, auf die naheliegende Weise kennengelernt?«
»Nicht direkt. Er war dort, um von einer anderen Hure Blut zu trinken, die sich auf Männer mit absonderlichen Gelüsten spezialisiert hatte. Verglichen mit den Wünschen einiger ihrer anderen Kunden war so ein kleiner Biss nicht allzu merkwürdig.«
»Und Solomon, war er zu der Zeit schon lange Vampir?« Unwillkürlich hatte mich die Neugier gepackt. Vampire als Geschichte zum Anfassen ... Tja, seit die Vampire sich geoutet hatten, waren so manche Collegekurse sehr viel interessanter geworden. Bring in den Unterricht einen Vampir mit, der seine Geschichte erzählt, und die Aufmerksamkeit aller ist dir gewiss.
»Solomon war schon seit zwanzig Jahren Vampir, aber es war reiner Zufall gewesen, dass es überhaupt dazu kam. Er war so eine Art Kesselflicker, verkaufte Töpfe und Pfannen und reparierte sie, bot aber auch noch anderes an, Waren, die damals in New England schwer zu bekommen waren: Nadeln, Faden, Krimskrams eben. Mit Pferd und Wagen fuhr er von Stadt zu Stadt und von Farm zu Farm, immer allein. Und als er eines Nachts wieder mal im Wald kampierte, traf Solomon auf einen von uns. Er hat mir erzählt, dass er diese erste Begegnung überlebt hat. Doch der Vampir folgte ihm in der Nacht zu seinem nächsten Lager und griff ihn wieder an. Dieser zweite Angriff verlief dramatisch. Der Vampir trank von ihm und ließ ihn dann vermeintlich tot dort liegen, ohne die Wandlung bemerkt zu haben - oder zumindest möchte ich das glauben. So wurde Solomon einer jener Unglücklichen, die zufällig zum Vampir wurden. Er war ganz allein auf sich gestellt und musste sich alles selbst beibringen.«
»Klingt richtig schrecklich«, sagte ich, und das meinte ich ernst.
Sie nickte. »Ja, das war es wohl. Er hat sich nach New Orleans durchgeschlagen, um den Leuten aus dem Weg zu gehen, die sich gewundert hätten, warum er gar nicht alterte. Wo er dann Lorena begegnete. Nach seinem Mahl verließ er das Bordell durch die Hintertür, und dort im dunklen Hof sah er sie. Ein Mann war bei ihr. Der Kunde versuchte zu gehen, ohne zu zahlen, und blitzschnell packte Lorena ihn und schnitt ihm die Kehle durch.«
Das klang ganz nach der Lorena, die ich gekannt hatte.
»Solomon war beeindruckt von ihrer Wildheit und erregt von dem frischen Blut. Er griff nach dem sterbenden Mann und saugte ihm das Blut aus, und als er die Leiche in den nächsten Hof warf, war Lorena beeindruckt und fasziniert. Sie wollte so sein wie er.«
»Das passte auch zu ihr.«
Judith lächelte leicht. »Sie war Analphabetin, aber hartnäckig und eine enorme Überlebenskünstlerin. Er war sehr viel intelligenter, jedoch nicht richtig geübt im Töten. Einiges hatte er zu der Zeit schon herausgefunden, und so gelang es ihm, sie zum Vampir zu machen. Manchmal tranken sie gegenseitig Blut voneinander, und das machte ihnen Mut, nach anderen von uns zu suchen und zu lernen, wie man gut leben konnte, statt bloß zu überleben. Die beiden übten, erfolgreiche Vampire zu sein, testeten die Grenzen ihres neuen Wesens aus und gaben ein hervorragendes Team ab.«
»Dann ist Solomon also Ihr Großvater, da er Lorena erschuf«, sagte ich neunmalklug. »Was geschah danach?«
»Irgendwann verblühte die Rose«, fuhr Judith fort. »Schöpfer und ihre Kinder bleiben länger zusammen als ein Paar mit rein sexueller Beziehung, aber nicht für immer. Lorena betrog Solomon. Sie wurde mit der halb ausgesaugten Leiche eines toten Kindes erwischt, doch es gelang ihr, ziemlich überzeugend eine Menschenfrau zu spielen. Den Männern, die sie aufgegriffen hatten, erzählte sie, dass Solomon es getötet und sie gezwungen habe, das Kind im Arm zu tragen. Deshalb sei sie so voller Blut. Solomon schaffte es gerade noch lebend aus der Stadt heraus - sie waren in Natchez, Mississippi gewesen. Lorena sah er nie wieder. Und Bill hat er auch nicht kennengelernt. Lorena traf erst nach dem Krieg zwischen den Bundesstaaten auf Bill.
Bill erzählte mir später, dass Lorena eines Nachts durch diese Gegend hier streifte. Damals war es viel schwieriger, sich zu verbergen, vor allem auf dem Land. Stimmt, es gab weniger Menschen, die einen aufstöbern konnten, und auch wenige oder gar keine Kommunikationsmöglichkeiten. Aber Fremde waren immer verdächtig, und aufgrund der dünneren Besiedlung gab es weniger Beute. Ein Toter fiel mehr auf, und die Leiche musste sehr gut versteckt oder der Tod sorgfältig inszeniert werden. Aber es gab ja zum Glück auch weniger Polizeikräfte.«
Ich ermahnte mich, keine Abscheu zu zeigen. Diese Dinge waren mir nicht neu. So hatten Vampire bis vor ein paar Jahren eben gelebt.
»Lorena sah Bill und seine Familie durch die Fenster ihres Hauses.« Judith wandte den Blick ab. »Und Lorena verliebte sich in ihn. Einige Nächte lang belauschte sie die Familie. Sie hatte sich im Wald ein Loch gegraben, in dem sie sich tagsüber begrub. Jede Nacht beobachtete sie die Familie, bis sie schließlich beschloss zu handeln. Sie begriff - sogar Lorena begriff das -, dass Bill es ihr nie verzeihen würde, wenn sie seine Kinder umbrachte. Deshalb wartete sie, bis er eines Nachts herauskam, um nachzusehen, warum der Hund nicht zu bellen aufhörte. Als Bill mit dem Gewehr aus dem Haus trat, schlich sie sich von hinten an ihn heran und schnappte sich ihn.«
Ich dachte daran, wie nahe Lorena meiner eigenen Familie gewesen war, gerade mal auf der anderen Seite des Waldes... Sie hätte genauso gut auch zu meinen Urururgroßeltern kommen können, und die ganze Geschichte meiner Familie wäre anders verlaufen.
»Sie machte ihn in dieser Nacht zum Vampir, begrub ihn und half ihm, sich drei Nächte später wieder zu erheben.«
Herrje, wie musste Bill sich gefühlt haben. Alles weg im Bruchteil einer Sekunde: sein Leben verloren und gewandelt und ihm in einer schrecklichen Form zurückgegeben.
»Sie hat ihn vermutlich von hier weggebracht«, sagte ich.
»Ja, das war wichtig. Und sie hatte auch einen Tod für ihn inszeniert. Sie schmierte sein Blut auf eine Lichtung und ließ sein Gewehr und Fetzen seiner Kleidung dort zurück. Bill erzählte mir, es habe ausgesehen, als hätte ihn ein Panther erwischt. So reisten sie zusammen umher, und obwohl er an sie gebunden war, hasste er sie. Er war todunglücklich bei ihr, doch sie blieb völlig vernarrt in ihn. Nach dreißig Jahren wollte sie ihn damit glücklich machen, dass sie eine Frau tötete, die seiner Ehefrau sehr ähnlich sah.«
»Oh Gott«, stieß ich hervor und versuchte, die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. »Sie, oder?« Deshalb also kam mir ihr Gesicht irgendwie bekannt vor. Ich kannte Bills alte Familienbilder.
Judith nickte. »Offenbar sah Bill mich mit meiner Familie zu einer Feier in das Haus eines Nachbarn gehen. Er folgte mir nach Hause und beobachtete mich, weil die Ähnlichkeit so frappierend war. Als Lorena das mitbekam, dachte sie, Bill würde bei ihr bleiben, wenn sie ihm eine Freundin schuf.«
»Wie furchtbar«, sagte ich. »Das tut mir schrecklich leid.«
Judith zuckte die Achseln. »Es war nicht Bills Fehler. Aber jetzt werden Sie verstehen, warum ich erst darüber nachdenken musste, ehe ich hierher zu Ihnen kam. Solomon ist zurzeit in Europa, sonst hätte ich ihn gebeten, mich zu begleiten. Ich fürchte mich davor, Lorena wiederzusehen, und ich hatte Angst... Angst, sie wäre hier, und Angst, Sie hätten sie ebenfalls um Hilfe für Bill gebeten. Oder dass sie sich diese Geschichte ausgedacht hätte, um mich hierher zu locken. Ist sie... Ist sie in der Gegend?«
»Sie ist tot. Wussten Sie das denn nicht?«
Judith riss ihre runden blauen Augen auf. Viel bleicher konnte sie nicht mehr werden, aber sie schloss einen Augenblick lang die Augen. »Ich spürte einen seltsamen Stich vor etwa anderthalb Jahren... Zu dem Zeitpunkt ist Lorena gestorben?«
Ich nickte.
»Deshalb hat sie mich nicht herbeigerufen. Oh, das ist ja wunderbar, ganz wunderbar!«
Judith wirkte wie eine andere Frau.
»Ich staune schon etwas, dass Bill keinen Kontakt zu Ihnen aufgenommen und es Ihnen erzählt hat.«
»Vielleicht dachte er, ich wüsste es. Kinder und Schöpfer sind verbunden. Aber ich war mir nicht sicher. Es wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein.« Judith lächelte, und sie sah plötzlich recht hübsch aus, trotz der Fangzähne. »Wo ist Bill?«
»Auf der anderen Seite des Waldes.« Ich zeigte ihr die Richtung. »In seinem alten Haus.«
»Ich werde seine Fährte schon finden, wenn ich draußen bin«, rief sie fröhlich. »Oh, bei ihm zu sein ganz ohne Lorena!«
Ah. Was?
Eben noch hatte Judith auf meinem Sofa gesessen und mir ein Ohr abgekaut, und plötzlich schien sie jeden Augenblick aufspringen zu wollen wie eine verbrühte Katze. Ich sah sie mit schmalen Augen an und fragte mich, was ich getan hatte.
»Ich werde ihn heilen, und er wird Ihnen gewiss sehr dankbar sein«, sagte sie, und ich fühlte mich, als wäre ich damit entlassen. »War Bill dabei, als Lorena starb?«
»Ja«, erwiderte ich.
»Wurde er schwer bestraft für den Mord?«
»Er hat sie nicht ermordet«, erklärte ich. »Ich war's.«
Sie erstarrte und sah mich an, als hätte ich plötzlich behauptet, ich sei King Kong. »Ich verdanke Ihnen meine Freiheit. Bill muss eine sehr hohe Meinung von Ihnen haben.«
»Das hoffe ich doch«, sagte ich und war peinlich berührt, als sie sich zu mir herüberbeugte und meine Hand küsste. Ihre Lippen fühlten sich kalt an.
»Jetzt können Bill und ich zusammen sein«, sagte sie. »Endlich! Ich werde mich in einer der nächsten Nächte noch einmal richtig bei Ihnen bedanken, aber jetzt muss ich zu ihm.« Und in null Komma nichts war sie aus dem Haus und Richtung Süden durch den Wald gesaust.
Irgendwie fühlte ich mich, als hätte mir jemand mit einer sehr großen Faust auf den Kopf geschlagen.
Doch es wäre mehr als schäbig, wenn ich mich nicht für Bill freuen würde. Jetzt konnte er jahrhundertelang mit Judith zusammenbleiben, wenn er wollte. Mit der nie alternden Doppelgängerin seiner Ehefrau. Ich zwang mich, ein frohes Lächeln aufzusetzen.
Weil mein glücklich aussehendes Gesicht mich auch nicht glücklicher machte, hüpfte ich zwanzigmal auf und ab wie ein Hampelmann und hängte gleich noch zwanzig Liegestützen dran. Okay, das ist schon besser, dachte ich, als ich auf dem Wohnzimmerboden auf dem Bauch lag. Jetzt schämte ich mich, dass meine Armmuskeln so zitterten. Ich dachte an das Training, durch das die Softballtrainerin der Lady Falcons uns gejagt hatte, und wusste, dass Trainerin Peterson mir in den Hintern getreten hätte, wenn sie mich so hätte sehen können. Andererseits war ich auch nicht mehr siebzehn.
Ich rollte mich auf den Rücken und dachte über diese Tatsache mal ganz nüchtern nach. Nicht zum ersten Mal nahm ich wahr, wie die Zeit verging; aber zum ersten Mal merkte ich, dass mein Körper nicht mehr so fit war wie früher. Ich verglich das mit den Vampiren, die ich kannte. Mindestens 99 Prozent von ihnen waren in der Blüte ihres Lebens zum Vampir geworden. Es gab nur wenige jüngere, wie Alexej, und nur wenige ältere, wie die Antike Pythia; die meisten waren zwischen sechzehn und fünfunddreißig Jahre alt gewesen bei ihrem ersten Tod. Sie würden sich nie um eine Sozial- oder Krankenversicherung bemühen müssen, da sie nie eine neue Hüfte brauchten oder Lungenkrebs bekamen oder Arthritis.
Im mittleren Alter (sollte ich das Glück haben, überhaupt so alt zu werden, denn mein Leben war wohl das, was man »risikoreich« nennt) wäre ich sicher noch deutlich unfitter. Und danach würden die Falten nur noch zunehmen und tiefer werden, die Haut erschlaffen und erste Flecke bekommen und das Haar dünner werden. Auch das Kinn würde leicht absacken, vom Busen ganz zu schweigen. Die Gelenke würden schmerzen, wenn ich zu lange in derselben Position dasaß. Und ich bräuchte eine Lesebrille.
Vielleicht bekäme ich Bluthochdruck oder meine Arterien würden verkalken. Mein Herz könnte unregelmäßig schlagen. Wenn ich eine Grippe hätte, wäre ich gleich richtig krank. Und ich hätte Angst vor Parkinson, Alzheimer, Herzinfarkt, Lungenentzündung... den Schreckgespenstern des Alters.
Und was, wenn ich Eric sagte, dass ich für immer mit ihm zusammen sein wollte? Ich ging mal davon aus, dass er nicht aufschreien und davonrennen würde, und versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, eine Vampirin zu sein. Ich würde all meine Freunde altern und sterben sehen und müsste selbst in dem Versteck im Wandschrank meines Gästezimmers schlafen. Falls Jason Michele heiraten würde, wäre es ihr vielleicht nicht recht, dass ich ihre Babys auf den Arm nahm. Und ich würde den Drang verspüren, Menschen anzugreifen und zu beißen, denn sie wären alle wandelnde McBlutburger für mich. Ich würde Menschen als Nahrung betrachten. Einen Augenblick lang starrte ich den Deckenventilator an und versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, Andy Bellefleur oder Holly beißen zu wollen. Igitt.
Andererseits wäre ich nie wieder krank, solange mich niemand anschoss oder mit Silber fesselte oder mich pfählte oder der Sonne aussetzte. Ich könnte die schwachen Menschen vor Gefahren schützen. Und für immer mit Eric zusammen sein ... wenn man mal davon absah, dass Vampirpaare normalerweise nicht allzu lange beieinanderblieben.
Okay, ich könnte zumindest einige Jahre lang mit Eric zusammen sein.
Wovon würde ich leben? Im Merlotte's könnte ich nur noch die Spätschicht übernehmen, und auch die erst, wenn es dunkel war, falls Sam mir nicht kündigte. Und auch Sam würde alt werden und sterben. Ein neuer Besitzer hätte vielleicht nicht so gern eine festangestellte Kellnerin, die nur in einer einzigen Schicht arbeiten konnte. Dafür könnte ich auf die Abendschule gehen und Computerkurse besuchen, bis ich irgendeinen Abschluss hatte. Aber worin?
Die Grenzen meiner Vorstellungskraft waren erreicht. Ich rollte mich auf die Knie und stand vom Boden auf. Oh, oh, spürte ich da etwa schon eine leichte Steifheit in den Gelenken?
Es dauerte lange, bis ich an diesem Abend einschlief, trotz meines sehr langen und sehr gruseligen Tages. Die Stille des Hauses legte sich drückend auf mich. In den frühen Morgenstunden kam Claude pfeifend nach Hause.
Als ich am Sonntagmorgen aufwachte, weder fröhlich noch ausgeschlafen, war ich lustlos und niedergeschlagen. Als ich mit meinem Kaffee auf die vordere Veranda ging, fand ich zwei Briefe, die unter meiner Haustür durchgeschoben worden waren. Der eine stammte von Mr Cataliades und war von seiner Nichte Diantha um drei Uhr früh persönlich überbracht worden, wie sie auf dem Umschlag vermerkt hatte. Schade, dass ich Diantha verpasst hatte, ich hätte mich gern mit ihr unterhalten, war aber dennoch dankbar, dass sie mich nicht geweckt hatte. Diesen Brief öffnete ich aus reiner Neugier zuerst. »Liebe Miss Stackhouse«, schrieb Mr Cataliades. »Beiliegend ein Scheck über den Betrag, der sich auf Claudine Cranes Bankkonto befand, als sie starb. Sie wollte, dass Sie ihn bekommen.«
Kurz und pointiert, wozu die wenigsten Leute fähig waren, mit denen ich in letzter Zeit gesprochen hatte. Ich drehte den Scheck herum und sah, dass er auf einhundertfünfzigtausend Dollar ausgestellt war.
»Oh mein Gott!«, rief ich laut. »Oh mein Gott!« Der Scheck schwebte zu Boden, weil plötzlich alle Kraft aus meinen Fingern entwich, und landete auf der Veranda. Ich bückte mich sofort danach, um mir den Betrag noch einmal anzusehen und sicherzugehen, dass ich mich nicht getäuscht hatte.
»Oh.« Tja, ich blieb bei meinem klassischen Ausruf, denn alles andere sprengte gerade meinen Horizont. Ich hatte nicht mal eine Vorstellung davon, was ich mit so viel Geld anstellen sollte. Auch das sprengte gerade meinen Horizont. Ich würde einige Zeit brauchen, bis ich vernünftig über dieses unerwartete Erbe nachdenken könnte.
Ich trug den unglaublichen Scheck ins Haus und legte ihn in eine Schublade, voller Angst, dass er irgendwie abhandenkommen könnte, bevor ich ihn zur Bank brachte. Erst als ich ihn sicher verstaut hatte, dachte ich daran, dass ich ja auch noch einen zweiten Brief bekommen hatte. Er war von Bill.
Ich ging wieder auf die Veranda hinaus, setzte mich in den Schaukelstuhl und trank einen Schluck von meinem Kaffee, der langsam kalt wurde. Dann riss ich den Umschlag auf.
»Liebste Sookie - ich wollte Dich nicht erschrecken und um zwei Uhr nachts an Deine Tür klopfen, deshalb lasse ich Dir diese Zeilen hier, damit Du sie bei Tagesanbruch lesen kannst. Ich hatte mich schon gewundert, warum Du letzte Woche in meinem Haus warst. Denn ich wusste, dass Du da warst, und ich wusste auch, dass ich den Grund früher oder später erfahren würde. Und nun hat mir Deine Großherzigkeit genau die Heilung verschafft, die ich brauchte.
Ich hätte nie gedacht, dass ich Judith noch einmal sehen würde, nachdem unsere Wege sich getrennt hatten. Von ihr weiß ich, dass sie Dir erzählt hat, warum Lorena sie zur Vampirin machte. Lorena hat mich nicht gefragt, ehe sie Judith angriff. Bitte glaube mir das. Ich würde niemals jemanden zu unserem Leben verurteilen, der es nicht selbst will und mich darum bittet.«
Okay, Bill dankte mir also, dass ich mir wirklich einige Mühe gemacht hatte. Allerdings wäre ich im Traum nicht auf die Idee gekommen, dass Bill Lorena gebeten haben könnte, ihm eine Freundin zu suchen, die seiner verstorbenen Frau ähnlich sieht.
»Ich hätte nie den Mut aufgebracht, mich selbst an Judith zu wenden, aus Angst, dass sie mich hasst. Ich freue mich so sehr, sie wiederzusehen. Und ihr Blut, das sie mir so freigebig gibt, hat mir bereits sehr gutgetan.«
Na also! Genau darum ging's doch!
»Judith ist bereit, eine Woche zu bleiben, damit wir uns gegenseitig >auf den neuesten Stand< bringen können. Und vielleicht kommst Du uns einmal an einem der nächsten Abende besuchen? Judith war äußerst beeindruckt von Deiner Freundlichkeit. Alles Liebe, Bill.«
Ich zwang mich, dem gefalzten Briefbogen ein Lächeln zu schenken. Ich würde ihm einfach zurückschreiben, wie sehr es mich freute, dass es ihm besser ging und er seine alte Beziehung zu Judith auffrischte. Natürlich hatte es mich gar nicht gefreut, als Bill damals mit Selah Pumphrey, einer Menschenfrau und Immobilienmaklerin, zusammen war. Aber damals waren wir erst kurze Zeit getrennt gewesen, und ich wusste, dass er sich im Grunde nicht viel aus ihr machte. Doch jetzt war ich entschlossen, mich für Bill zu freuen. Ich würde keine dieser Schreckschrauben werden, die völlig die Fassung verloren, wenn der Ex eine würdige Nachfolgerin fand. Das war extrem scheinheilig und egoistisch, und ich hoffte, ein besserer Mensch zu sein. Zumindest war ich entschlossen, eine gute Imitation eines solchen Menschen abzugeben.
»Okay«, sagte ich zu meinem Kaffeebecher. »Hat doch großartig geklappt.«
»Möchtest du dich vielleicht lieber mit mir als mit deinem Kaffee unterhalten?«, fragte Claude.
Ich hatte durch das offene Fenster Schritte auf der knarrenden Treppe gehört und bemerkt, dass noch ein Hirn in Betrieb war. Doch dass er zu mir auf die Veranda kommen würde, hatte ich nicht vorausgesehen.
»Du bist spät nach Hause gekommen«, sagte ich. »Soll ich dir einen Becher Kaffee holen? Es ist noch genug da.«
»Nein, danke. Ich trinke gleich ein Glas Ananassaft. Was für ein herrlicher Tag.« Claude trug kein Oberteil, aber immerhin eine Pyjamahose. Bedruckt mit dem Footballteam der Dallas Cowboys. Ha! Träum weiter!
»Ja«, sagte ich ohne große Begeisterung. Claude hob eine seiner perfekt geschwungenen schwarzen Augenbrauen.
»Deprimiert?«, fragte er.
»Nein, ich bin überglücklich«
»Ja, die Freude springt dir geradezu aus dem Gesicht. Was ist los, Cousine?«
»Ich habe den Scheck aus Claudines Nachlass bekommen. Gott segne sie. Das war wirklich sehr großzügig.« Ich sah zu Claude auf und blickte ihn so aufrichtig wie möglich an. »Claude, ich hoffe, du bist nicht sauer auf mich. Es ist einfach ... so viel Geld. Ich habe keine Ahnung, was ich damit machen soll.«
Claude zuckte die Achseln. »Es war eben das, was Claudine wollte. Jetzt erzähl mir, was los ist.«
»Tut mir ja leid, das sagen zu müssen, Claude, aber es überrascht mich wirklich sehr, dass dich das interessiert. Ich hätte immer schwören können, dass es dir völlig egal ist, wie es mir geht. Und auf einmal bist du so nett zu Hunter, ja, du bietest mir sogar an, mit mir den Dachboden auszumisten.«
»Könnte es nicht sein, dass ich ein verwandtschaftliches Gefühl für dich entwickle?« Fragend hob er eine Augenbraue.
»Können Schweine fliegen?«
Er lachte. »Ich versuche, mich mehr wie ein Mensch zu verhalten«, gab er zu. »Da ich mein langes Leben nun ganz unter den Menschen verbringen werde, versuche ich...«
»... sympathischer zu werden?«, half ich ihm.
»Autsch«, sagte er, doch er war nicht wirklich verletzt. Das hätte ja vorausgesetzt, dass er sich um meine Meinung scherte. Und das war etwas, das man nicht lernen konnte, oder?
»Wo ist dein Freund?«, fragte er. »Ich liebe den Geruch von Vampiren im Haus.«
»Gestern Abend habe ich ihn zum ersten Mal seit einer Woche gesehen. Und wir hatten kaum Zeit für uns.«
»Habt ihr Streit?« Claude ließ sich mit einer Hüfte auf dem Verandageländer nieder. Er wollte mir anscheinend tatsächlich beweisen, dass er sich für das Leben eines anderen interessieren konnte.
Aber mir wurde das alles langsam irgendwie zu viel. »Claude, ich trinke hier gerade meinen ersten Becher Kaffee, hab nicht besonders viel geschlafen und ein paar miserable Tage hinter mir. Könntest du nicht gehen und erst mal duschen oder so was?«
Er seufzte, als hätte ich ihm das Herz gebrochen. »Okay, ich verstehe den Wink.«
»Das war eigentlich kein Wink, sondern eine ziemlich deutliche Aufforderung.«
»Oh, bin ja schon weg.«
Doch als er den ersten Schritt auf die Tür zu machte, fiel mir ein, dass ich etwas vergessen hatte. »Ich nehm's zurück, bleib bitte. Es gibt etwas, worüber wir sprechen müssen. Ich hatte ja noch gar keine Gelegenheit, dir zu sagen, dass Dermot hier war.«
Claude richtete sich auf, fast so als wollte er jeden Augenblick türmen. »Was hat er gesagt? Was wollte er?«
»Ich weiß nicht genau, was er wollte. Wie du wollte er wohl bloß jemandem nahe sein, der etwas Elfenblut hat. Und er wollte mir sagen, dass er verhext wurde.«
Claude wurde bleich. »Von wem? Wer hat Magie angewendet? Ist Großvater zurückgekommen durch eins der Tore?«
»Nein«, erwiderte ich. »Aber hätte ihn nicht auch ein Elf verhexen können, ehe die Tore geschlossen wurden?« So wie ich die Moral der Elfen verstanden hatte, war es Claude nicht möglich, mir mit einer direkten Lüge zu antworten. »Außerdem solltest du wissen, dass noch ein vollblütiger Elf auf dieser Seite der Tore ist, oder Portale oder wie immer ihr die auch nennt.«
»Dermot ist verrückt«, erwiderte Claude. »Ich habe keine Ahnung, was er als Nächstes tun wird. Wenn er sich direkt an dich wendet, muss er unter extremem Druck stehen. Du weißt, wie zwiespältig seine Haltung gegenüber Menschen ist.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Stimmt«, bemerkte Claude, »habe ich nicht. Und das hat auch einen Grund.« Er drehte sich um und sah zum Wald hinüber. »Ich will nicht einen Kopf kürzer gemacht werden.«
»Dann gibt es also noch jemanden, und du weißt, wer es ist. Oder weißt du selbst mehr über das Verhexen, als du zugibst?«
»Darüber werde ich nicht reden.« Und damit ging Claude zurück ins Haus. Nur Minuten später hörte ich ihn an der Hintertür, und dann fuhr sein Auto an mir vorbei die Auffahrt entlang zur Hummingbird Road.
Na prima, jetzt hatte ich also eine wertvolle Information erhalten und trotzdem nichts Brauchbares erfahren. Ich konnte den Elfen ja schlecht herbeizaubern und fragen, warum er (oder sie?) immer noch auf dieser Seite war und welche Absichten er hatte. Aber ich ging einfach mal davon aus, dass Claude mit ziemlicher Sicherheit vor einem netten Elfen, der nur Güte und Licht verbreiten wollte, nicht eine solche Angst gehabt hätte. Und ein richtig netter Elf hätte auch den armen Dermot nicht so verhext, dass er ganz verwirrt war.
Ich sprach ein paar Gebete in der Hoffnung, so meine übliche gute Laune wiederherstellen zu können, doch heute half auch das nicht. Vielleicht war ich nicht in der richtigen seelischen Verfassung für ein Gebet. Ein Gespräch mit Gott ist eben etwas anderes als eine Glückspille, die man einfach schluckt - etwas ganz anderes.
Ich zog ein Kleid und Sandalen an und ging zum Grab meiner Großmutter. Meine Zwiegespräche mit ihr erinnerten mich immer daran, wie besonnen und weise sie gewesen war. Heute konnte ich an nichts anderes denken als an ihre für sie enorm untypische Affäre mit einem Halbelfen, deren Ergebnis mein Vater und seine Schwester Linda gewesen waren. Meine Großmutter hatte (vielleicht) nur deshalb Sex mit einem Halbelfen gehabt, weil mein Großvater keine Kinder zeugen konnte. Es war eben ihr Weg, schwanger zu werden und Kinder zu kriegen, zwei Kinder, die sie mit Liebe aufgezogen hatte.
Und sie hatte beide zu Grabe getragen.
Als ich bei ihrem Grabstein kauerte und das Gras auf dem Grab betrachtete, das immer dichter wurde, fragte ich mich, ob das irgendetwas zu bedeuten hatte. Man könnte behaupten, dass meine Großmutter etwas getan hatte, das sie nicht hätte tun sollen ... um etwas zu bekommen, das sie nicht bekommen sollte... und nachdem sie es bekommen hatte, verlor sie es auf die schmerzlichste Weise, die sich nur vorstellen lässt. Was konnte schlimmer sein, als ein Kind zu verlieren? Zwei Kinder zu verlieren.
Oder man könnte sagen, dass alles, was geschah, reiner Zufall gewesen war. Dass meine Großmutter in dem Moment, als sie sich entscheiden musste, das Beste getan hatte, was sie tun konnte, und dass ihre Entscheidung aus Gründen, die ihrer Kontrolle gänzlich entzogen waren, einfach schreckliche Folgen zeitigte. Ewige Schuld, oder ewige Schuldlosigkeit.
Man musste doch bessere Entscheidungen treffen können.
Ich tat das Beste, was ich tun konnte. Ich legte ein Paar Ohrringe an und ging zum Gottesdienst in die Kirche. Ostern war vorüber, aber die Blumen auf dem methodistischen Altar waren immer noch schön. Die Fenster waren geöffnet, weil es angenehm warm war. Im Westen sammelten sich einige Wolken, doch darum musste man sich in den nächsten Stunden keine Sorgen machen. Aufmerksam hörte ich der Predigt zu und sang die Lieder mit, wenn auch nur im Flüsterton, denn ich habe eine fürchterliche Singstimme. Und es tat mir gut. Es erinnerte mich an Großmutter, an meine Kindheit, an den Glauben, an saubere Kleider und Sonntagsessen, gewöhnlich ein Braten mit Kartoffeln und Karotten, den Großmutter in den Ofen schob, bevor wir das Haus verließen. Und einen Kuchen hatte sie auch stets gebacken.
Es ist nicht immer leicht, in der Kirche zu sitzen, wenn man Gedanken lesen kann, und ich bemühte mich sehr, die der anderen abzublocken und meine eigenen Gedanken zu denken. Ich wollte mich an den Teil meiner Kindheit, an den Teil meiner selbst erinnern, der gut war und freundlich und gewillt, ein besserer Mensch zu werden.
Nach dem Gottesdienst sprach ich mit Maxine Fortenberry, die wegen Hoyts und Hollys Heiratsplänen im siebten Himmel schwebte, und ich sah Charlsie Tooten mit ihrem Enkel auf dem Arm, und ich redete mit meinem Versicherungsvertreter Greg Aubert, der seine ganze Familie dabeihatte. Seine Tochter wurde rot, als ich sie ansah, weil ich ein paar Dinge über sie wusste, die ihr peinlich waren. Aber ich verurteilte das Mädchen nicht. Wir benehmen uns alle von Zeit zu Zeit daneben. Manche von uns werden erwischt, manche nicht.
Sam war überraschenderweise auch in der Kirche gewesen. Ich hatte ihn vorher noch nie hier gesehen. Und soweit ich wusste, war er auch nie in irgendeine andere Kirche von Bon Temps gegangen.
»Freut mich, dich zu sehen«, sagte ich und versuchte, nicht zu verblüfft zu klingen. »Gehst du sonst woandershin oder ist das ein neues Projekt?«
»Ich dachte, es wäre mal an der Zeit«, meinte er. »Zum einen mag ich die Kirche. Zum anderen kommen schwierige Zeiten auf uns Wergeschöpfe zu. Ich möchte, dass jeder in Bon Temps weiß, dass ich einer von den Guten bin.«
»Wenn sie das nicht schon wissen, sind sie Dummköpfe«, flüsterte ich und fügte dann lauter hinzu: »Schön, dass wir uns getroffen haben, Sam«, und ging weiter, weil noch zwei andere Leute darauf warteten, mit meinem Boss zu reden. Und so wie ich es verstanden hatte, wollte Sam seine Position in der Gemeinde festigen.
Den restlichen Tag lang versuchte ich, mir keine Sorgen um Eric oder sonst irgendetwas zu machen. Ich war per SMS von Tara und JB zum Lunch eingeladen worden und froh, nicht allein zu sein. Tara hatte Dr. Dinwiddie noch mal ganz genau hinhören lassen, und tatsächlich, jetzt hatte er den zweiten Herzschlag vernommen. Die beiden staunten nicht schlecht, freuten sich aber sehr. Tara hatte Hähnchen in Rahmsoße gemacht, dazu Spinat und noch einen Fruchtsalat. Es war schön bei ihnen. JB schaute sich meine Handgelenke an und sagte, sie seien fast wieder normal beweglich. Tara freute sich schon sehr auf die Baby-Party, die JBs Tante für sie in Clarice geben wollte, und versicherte mir, ich würde auch eine Einladung bekommen. Und wir legten auch gleich noch einen Termin für ihre Baby-Party in Bon Temps fest.
Als ich wieder zu Hause war, lud ich erst mal meine Waschmaschine voll, das war nötig. Und meine Badematte wusch ich auch gleich und hängte sie zum Trocknen nach draußen auf die Leine. Solange ich im Garten war, hatte ich zur Sicherheit die mit Zitronensaft gefüllte Wasserpistole in der Tasche. Ich wollte nicht noch einmal überrascht werden. Womit hatte ich es bloß verdient, fragte ich mich, dass auf meinem Land ein (nach Claudes Reaktion zu urteilen) feindseliger Elf herumstiefelte?
Mein Handy klingelte, als ich gerade voll düsterer Gedanken zum Haus zurückkehrte. »Hey, Schwesterherz«, sagte Jason, der anscheinend grillte. Ich konnte es zischen hören. »Michele und ich machen grade was zum Essen. Willst du kommen? Ich hab jede Menge Steaks.«
»Danke, ich war zum Lunch schon bei JB und Tara. Aber jetzt habe ich ein Essen gut bei dir.«
»Na klar. Ich hab deine Nachricht gekriegt. Morgen um acht, richtig?«
»Ja. Lass uns zusammen nach Shreveport fahren.«
»Klar. Ich hol dich um sieben zu Hause ab.«
»Okay, bis dann.«
»Muss jetzt Schluss machen!«
Jason mochte keine langen Telefonate. Er hatte schon mit Mädchen Schluss gemacht, nur weil sie mit ihm telefonieren wollten, während sie sich die Beine rasierten oder die Nägel lackierten.
Es war nicht gerade ein gutes Zeichen, dass die Aussicht auf ein Treffen mit einem Haufen unglücklicher Werwölfe das Beste - oder zumindest Interessanteste - zu sein schien, was mein Leben derzeit zu bieten hatte.
Kennedy stand hinterm Tresen, als ich am nächsten Tag zur Arbeit kam. Sie erzählte mir, dass Sam zu einem letzten, äußerst dringlichen Termin bei seinem Steuerberater war, der ihm einen Aufschub verschafft hatte, da Sam so spät dran gewesen war mit all seinen Unterlagen.
Kennedy sah so hübsch aus wie immer. Sie weigerte sich, zu ihrem Merlotte's-Shirt die Shorts zu tragen, die fast alle anderen von uns bei warmem Wetter anzogen, und hatte sich stattdessen für eng geschnittene Hosen mit einem ausgefallenen Gürtel entschieden. Kennedys Make-up und ihre Frisur hätten jeden Schönheitswettbewerb bestanden. Automatisch sah ich zu Danny Prideaux' Barhocker. Leer.
»Wo ist Danny?«, fragte ich, als ich an den Tresen kam, um ein Bier für Catfish Hennessy zu holen. Er war Jasons Boss, und ich ging fast davon aus, dass auch mein Bruder kam und sich dazugesellte. Doch bislang saßen nur Hoyt und zwei andere Typen aus der Straßenbautruppe bei Catfish am Tisch.
»Der muss heute in seinem anderen Job arbeiten«, sagte Kennedy und versuchte, es ganz beiläufig klingen zu lassen. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sam mich beim Arbeiten beschützen lässt. Aber ehrlich, Sookie, ich glaub nicht, dass es irgendwelchen Ärger gibt.«
In diesem Moment fiel knallend die Eingangstür ins Schloss. »Ich bin hier, um zu demonstrieren!«, schrie eine Frau, die aussah wie eine ganz normale Großmutter. Sie hielt ein Schild hoch. KEIN KOPULIEREN MIT TIEREN stand darauf, und man konnte erkennen, dass sie das Wort »kopulieren« aus dem Wörterbuch abgeschrieben hatte, so sorgfältig war jeder einzelne Buchstabe gemalt.
»Ruf zuerst die Polizei an«, sagte ich zu Kennedy. »Und dann Sam. Sag ihm, er soll herkommen, egal, was er gerade zu besprechen hat.« Kennedy nickte und ging zum Telefon an der Wand.
Unsere Demonstrantin trug eine blau-weiße Bluse und rote Hosen, die sie wahrscheinlich bei Bealls oder Stage gekauft hatte. Sie hatte kurze dauergewellte Haare, die in einem annehmbaren Braun gefärbt waren, auf der Nase eine Brille mit Metallgestell und an der arthritischen Hand einen sittsamen Ehering. Trotz dieser völlig durchschnittlichen Erscheinung spürte ich, dass in ihren Gedanken der Eifer eines Fanatikers brannte.
»Ma'am, Sie müssen wieder gehen. Dieses Gebäude ist Privateigentum«, sagte ich, hatte aber keine Ahnung, ob das eine wirksame Aufforderung war. Demonstranten hatten wir noch nie gehabt.
»Aber es ist eine öffentliche Gaststätte. Die darf jeder betreten«, erwiderte die Frau, als hätte sie hier etwas zu sagen.
Doch das hatte sie genauso wenig wie ich. »Nicht, wenn Sam Merlotte sie nicht hier drin haben will. Und als seine Stellvertreterin fordere ich Sie auf zu gehen.«
»Sie sind nicht Sam Merlotte und auch nicht seine Ehefrau. Sie sind diese junge Frau, die mit einem Vampir zusammen ist«, sagte sie giftig.
»Ich bin Sams rechte Hand in dieser Bar«, log ich, »und ich fordere Sie auf zu gehen. Sonst werfe ich Sie hinaus.«
»Wenn Sie es wagen, mich anzufassen, zeige ich Sie an«, erwiderte sie und warf den Kopf zurück.
Wut flammte in mir auf. Wenn ich eins ganz und gar nicht leiden kann, dann Drohungen.
»Kennedy«, sagte ich, und umgehend stand sie neben mir. »Unter uns, ich würde sagen, wir beide sind stark genug, um diese Lady da aus der Bar zu befördern. Was meinst du?«
»Seh ich genauso.« Kennedy starrte die Frau an, als würde sie nur auf den Startschuss warten.
»Und Sie sind die junge Frau, die ihren Freund erschossen hat«, stellte die Frau fest. Jetzt bekam sie es langsam mit der Angst zu tun.
»Die bin ich. Auf den war ich echt sauer, und im Moment bin ich ziemlich sauer auf Sie«, sagte Kennedy. »Sie bewegen jetzt Ihren Hintern hier raus, und Ihr Schildchen da nehmen Sie gleich mit, und zwar sofort.«
Die alte Frau verlor den Mut und trippelte hinaus, nicht ohne sich im letzten Moment noch mit hocherhobenem Kopf kerzengerade aufzurichten, denn schließlich war sie ein Soldat Gottes. Das hatte ich direkt aus ihren Gedanken.
Catfish fing an zu klatschen, und ein paar andere klatschten mit, doch die meisten Gäste saßen in verblüfftem Schweigen da. Dann hörten wir vom Parkplatz her Gesang, und alle liefen an die Fenster.
»Jesus Christus, Hirte von Judäa«, flüsterte ich. Auf dem Parkplatz standen mindestens dreißig Demonstranten. Die meisten waren mittleren Alters, aber ich entdeckte auch einige Teenager, die eigentlich in der Schule sein sollten, und ein paar junge Männer, die erst Anfang zwanzig waren. Die meisten der Demonstranten hatte ich irgendwo schon mal gesehen. Sie gehörten der Charismatischen Kirche in Clarice an, deren Mitgliederzahl anscheinend sprunghaft stieg (falls sich das an der Zahl ihrer Gebäude ablesen ließ). Als ich das letzte Mal auf dem Weg zur Physiotherapie bei JB dort vorbeigekommen war, hatte ich den Rohbau einer neuen Versammlungshalle gesehen.
Hätten sie sich bloß dort versammelt, denn dort gehörten sie hin, nicht hierher. Ich war schon drauf und dran, eine Dummheit zu begehen (hinaus auf den Parkplatz zu gehen, zum Beispiel), da tauchten zwei Wagen der Polizei von Bon Temps mit Blaulicht auf. Kevin und Kenya stiegen aus. Kevin war dünn und weiß, Kenya rund und schwarz. Beide waren gute Polizisten, und sie liebten einander von Herzen ... aber inoffiziell.
Kevin ging mit großem Selbstvertrauen auf die singende Menge zu. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte, aber alle sahen ihn an und begannen, durcheinanderzureden. Er hob die Hand und machte ein Zeichen, das nur bedeuten konnte: »Einen Schritt zurück und Ruhe bitte.« Kenya ging um die Menge herum und stellte sich hinter ihnen auf.
»Vielleicht sollten wir besser auch da rausgehen?«, meinte Kennedy.
Sie konnte sich schlecht zurücklehnen und den Dingen ihren Lauf lassen, fiel mir auf. Initiative ist ja nichts Schlechtes, aber dies war nicht der rechte Zeitpunkt, um die Situation auf dem Parkplatz eskalieren zu lassen. Und genau das würde passieren, wenn wir dort auftauchten.
»Nein, ich finde, wir sollten drinbleiben«, sagte ich. »Es hat keinen Sinn, Öl ins Feuer zu gießen.« Ich sah mich um. Keiner der Gäste aß oder trank. Alle sahen aus dem Fenster. Kurz dachte ich daran, sie zu bitten, sich wieder an ihre Tische zu setzen. Aber es war sinnlos, sie zu etwas aufzufordern, was sie sowieso nicht tun würden, solange sich draußen so ein Schauspiel bot.
Antoine kam aus der Küche und stellte sich neben mich. Er sah sich die Szene einen Augenblick lang an. »Ich hab damit nichts zu tun«, erklärte er.
»Das hätte ich auch nie geglaubt«, sagte ich überrascht. Antoine entspannte sich, sogar in seinen Gedanken. »Das ist die Aktion irgendeiner Spinner-Kirche«, fuhr ich fort. »Sie demonstrieren vor dem Merlotte's, weil Sam Gestaltwandler ist. Die Frau, die hier drin war, wusste aber auch ziemlich gut über mich und Kennedy Bescheid. Ich hoffe, das ist ein einmaliger Vorfall. Es wäre schrecklich, wenn wir dauernd mit Demonstranten zu tun hätten.«
»Sam wird Pleite machen, wenn das so weitergeht«, flüsterte Kennedy. »Vielleicht sollte ich einfach kündigen. Ist für Sam nicht gerade hilfreich, wenn ich hier arbeite.«
»Kennedy, mach dich nicht selbst zur Märtyrerin«, sagte ich. »Mich mögen sie auch nicht. Jeder, der mich nicht für verrückt hält, glaubt, es wäre irgendetwas Übernatürliches an mir. Dann müssten wir ja alle kündigen, sogar Sam.«
Sie sah mich scharf an, um sicherzugehen, dass ich das wirklich ernst meinte, und nickte einmal. Dann sah sie wieder aus dem Fenster und sagte: »Oh, oh.« Danny Prideaux war in seinem Chrysler LeBaron Baujahr 1991 vorgefahren, ein Vehikel, das er fast genauso faszinierend fand wie Kennedy Keyes.
Danny hatte direkt neben der Menge geparkt, war einfach aus dem Auto gesprungen und ging jetzt auf die Bar zu. Ich wusste, dass er nur kam, um nach Kennedy zu sehen. Entweder hatten sie im Baumarkt den Polizeifunk laufen, oder Danny hatte die Neuigkeit von einem Kunden erfahren. In Bon Temps sind die Buschtrommeln schnell und laut. Danny trug ein graues ärmelloses T-Shirt, Jeans und Stiefel, und seine breiten olivenfarbenen Schultern glänzten leicht.
Den Anblick bot er nicht jeden Tag, deshalb sagte ich: »Na, wenn einem da nicht das Wasser im Mund zusammenläuft ...« Kennedy hielt sich den Mund zu und unterdrückte ein Kichern.
»Ja, er sieht verdammt gut aus«, sagte sie und versuchte, beiläufig zu klingen. Wir mussten beide lachen.
Doch dann kam es zur Katastrophe. Einer der Demonstranten war so wütend darüber, vom Merlotte's vertrieben zu werden, dass er sein Schild auf die Motorhaube des Chrysler LeBaron donnerte. Danny fuhr sofort herum bei dem Geräusch. Einen Moment lang stand er wie erstarrt da, und dann rannte er mit Höchstgeschwindigkeit auf den Sünder zu, der den Lack seines Wagens ruiniert hatte.
»Oh nein!«, rief Kennedy und flitzte wie von der Tarantel gestochen aus der Bar. »Danny!«, rief sie. »Danny! Hör auf!«
Danny zögerte und wandte kurz den Kopf, um zu sehen, wer da nach ihm rief. Mit einem Sprung, der jedem Känguru zur Ehre gereicht hätte, war Kennedy neben ihm und schlang die Arme um ihn. Unwillig schüttelte er sich, als wollte er sie loswerden. Doch dann schien ihm zu dämmern, dass es Kennedy war, die ihn umarmte, die Frau, die er stundenlang angeschmachtet hatte. Plötzlich stand er ganz steif da, die Arme an den Körper gepresst, und hatte offenbar Angst, sich zu bewegen.
Ich wusste nicht, was Kennedy zu ihm sagte, aber Danny sah ihr völlig fasziniert ins Gesicht. Eine der Demonstrantinnen vergaß sich selbst so weit, dass ein Ausdruck der Rührung über diese kleine Szene auf ihr Gesicht trat.
Doch sie hatte sich ziemlich schnell wieder unter Kontrolle und hob ihr Schild noch höher.
»Tiere raus! Menschen rein! Der Kongress soll unser Leitstern sein!«, skandierte einer der Demonstranten, ein älterer Mann mit weißer Mähne, als ich die Tür aufmachte und vors Merlotte's trat.
»Kevin, schaffen Sie sie hier weg!«, rief ich.
Kevin verzog unglücklich das schmale blasse Gesicht. Er versuchte längst, die kleine Menge von Sams Parkplatz zu drängen. »Mr Barlowe«, sagte er jetzt zu dem weißhaarigen Mann, »was Sie hier tun, ist illegal, und ich könnte Sie alle deshalb verhaften. Was ich aber gern vermeiden würde.«
»Wir sind bereit, für unsere Überzeugung ins Gefängnis zu gehen«, erwiderte der Mann. »Ist es nicht so, Leute?«
Einige der Kirchenmitglieder sahen nicht sonderlich begeistert aus.
»Vielleicht sind Sie das«, schaltete sich Kenya ein. »Aber wir haben Jane Bodehouse in einer unserer Zellen. Sie schläft gerade ihren Rausch aus und übergibt sich alle fünf Minuten. Keiner von Ihnen allen hier will da rein zu Jane, glauben Sie mir.«
Die Frau, die zuvor ins Merlotte's hineingekommen war, wurde etwas grün um die Nase.
»Dies ist Privateigentum«, sagte Kevin. »Hier dürfen Sie nicht demonstrieren. Wenn Sie diesen Parkplatz nicht in drei Minuten geräumt haben, verhafte ich Sie alle.«
Es dauerte zwar eher fünf Minuten, aber es waren keine Demonstranten mehr auf dem Parkplatz, als Sam eintraf und sich bei Kevin und Kenya bedankte. Da ich seinen Pick-up nicht hatte kommen sehen, war sein Erscheinen eine ziemliche Überraschung.
»Wann bist du zurückgekommen?«, fragte ich.
»Vor knapp zehn Minuten«, sagte er. »Ich dachte, wenn ich mich zeige, heizt sich die Atmosphäre wieder auf. Daher habe ich in der School Street geparkt und bin zu Fuß von hinten gekommen.«
»Sehr clever«, erwiderte ich. Inzwischen verließen die Lunch-Gäste das Merlotte's, und der Vorfall war bereits auf dem besten Wege, in die Annalen der Stadt einzugehen. Nur ein oder zwei der Gäste schienen besorgt zu sein, die anderen sahen die Demonstration als gute Unterhaltung. Catfish Hennessy klopfte Sam auf die Schulter, als er an ihm vorbeiging, und er war nicht der Einzige, der sich extra bemühte, ihm seine Solidarität zu zeigen. Ich fragte mich, wie lange diese Toleranz wohl anhalten würde. Wenn die Demonstrationen weitergingen, könnten manche Leute zu dem Schluss kommen, dass beim Merlotte's zu viel Unruhe herrsche und es sich deshalb einfach nicht mehr lohne hinzugehen.
Nichts davon musste ich laut aussprechen. Es stand Sam ins Gesicht geschrieben. »Hey«, sagte ich und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Das gibt sich wieder. Weißt du, was du tun solltest? Du solltest den Prediger dieser Kirche anrufen. Sie sind alle vom Tabernakel des Heiligen Wortes in Clarice. Du solltest ihm sagen, dass du in die Kirche kommen willst, um zu den Mitgliedern zu sprechen. Zeig ihnen, dass du ein Mensch wie alle anderen auch bist. Ich wette, das funktioniert.«
Erst jetzt bemerkte ich, wie verspannt seine Schultern waren. Sam war außer sich vor Wut. »Ich sollte es nicht nötig haben, irgendwem irgendwas zu erklären«, erwiderte er. »Ich bin ein Bürger dieses Landes. Mein Vater war in der Armee. Ich war in der Armee. Ich bezahle all meine Steuern. Und ich bin eben nicht ein Mensch wie alle anderen. Ich bin Gestaltwandler. Und das haben sie gefälligst zu schlucken.« Mit einem Ruck fuhr er herum und ging in die Bar hinein.
Ich erschrak, auch wenn ich wusste, dass seine Wut nicht gegen mich gerichtet war. Als ich Sam hinterhersah, dachte ich, dass eigentlich nichts von all dem mit mir zu tun hatte. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die Folgen dieser neuen Entwicklung auch mich betrafen. Ich arbeitete ja nicht nur im Merlotte's, sondern war Teil des Problems, wie die alte Frau, die mit dem Schild hereingekommen war, mir schon erklärt hatte.
Nach wie vor hielt ich es für eine gute Idee, persönlich mit dieser Kirche Kontakt aufzunehmen. Das war vernünftig und höflich.
Doch Sam war weder vernünftiger noch höflicher Stimmung, und das konnte ich verstehen. Ich wusste nur nicht, wogegen er seine Wut richten würde.
Eine Stunde später kam ein Reporter und interviewte uns alle über den »Vorfall«, wie er es nannte. Errol Clayton war ein Mann Mitte vierzig, der ungefähr die Hälfte aller Artikel der Zeitung von Bon Temps schrieb. Sie gehörte ihm nicht, aber er leitete sie mit äußerst knappem Budget. Ich hatte kein Problem mit dem Provinzblatt, aber eine Menge Leute machten sich natürlich darüber lustig. Die Bon Temps Gazette wurde nicht nur manchmal Bon Temps Schmonzette genannt.
»Möchten Sie etwas trinken, Mr Clayton?«, fragte ich, als Errol Clayton darauf wartete, dass Sam sein Telefonat beendete.
»Gegen einen Eistee hätte ich nichts einzuwenden, Sookie«, erwiderte er. »Wie geht's denn Ihrem Bruder?«
»Oh, dem geht's ganz gut.«
»Kommt er über den Tod seiner Frau hinweg?«
»Ich glaube, er hat sein Schicksal akzeptiert«, sagte ich, was alles Mögliche heißen konnte. »Das war wirklich schrecklich.«
»Ja, furchtbar. Und es ist genau hier auf diesem Parkplatz passiert«, stellte Errol Clayton fest, als ob er mich daran erinnern müsste. »Und genau hier, auf diesem Parkplatz, wurde auch die Leiche von Lafayette Reynolds gefunden.«
»Das stimmt. Aber natürlich war nichts davon Sams Schuld, er hatte ja nicht einmal etwas damit zu tun.«
»Es wurde nie jemand festgenommen in Crystals Mordfall, soweit ich weiß.«
Ich trat einen Schritt zurück und warf ihm einen strengen Blick zu. »Mr Clayton, wenn Sie gekommen sind, um Ärger zu machen, können Sie gleich wieder gehen. Wir wollen, dass sich die Situation verbessert, nicht verschlechtert. Sam ist ein guter Mann. Er ist bei den Rotariern, er setzt Anzeigen ins Jahrbuch der Highschool, er sponsert jedes Frühjahr ein Baseballteam des Boys & Girls Club, und er hilft beim Feuerwerk zum 4. Juli. Und außerdem ist er ein großartiger Boss, ehemaliger Soldat und ein steuerzahlender Bürger.«
»Merlotte, Sie haben einen Fanclub«, sagte Errol Clayton zu Sam, der inzwischen direkt hinter mir stand.
»Ich habe eine gute Freundin«, erwiderte Sam ruhig. »Ich hatte das große Glück, eine Menge Freunde zu gewinnen und ein rentables Geschäft aufzubauen. Und ich hoffe sehr, dass das alles nicht zerstört wird.« Ich vernahm einen entschuldigenden Ton in seiner Stimme und spürte, wie er mir auf die Schulter klopfte. Jetzt fühlte ich mich schon wieder viel besser. Erleichtert ging ich zurück an die Arbeit und ließ Sam allein mit dem Zeitungsmann reden.
Ich hatte keine Gelegenheit mehr, mit meinem Boss zu sprechen, ehe ich nach Hause fuhr. Beim Supermarkt hielt ich kurz an, weil ich ein paar Sachen brauchte - Claude schlug wahre Schneisen in meinen Vorrat an Kartoffelchips und Müsli. Ich hatte mir schon gedacht, dass der Laden voller Kunden sein würde, die sich lebhaft über das unterhielten, was mittags beim Merlotte's los gewesen war. Genauso war es. Nur dass in meiner Nähe augenblicklich Schweigen herrschte, in welchen Gang ich meinen Einkaufswagen auch schob. Was für mich aber keinen Unterschied machte, ich wusste schließlich, was die Leute dachten.
Die meisten teilten die Ansichten der Demonstranten nicht. Aber die schiere Tatsache, dass so etwas vorgefallen war, hatte einige vorher gleichgültige Einwohner der Stadt dazu gebracht, über das Problem der Wergeschöpfe und über das Gesetz, das ihre Rechte beschneiden sollte, nachzudenken.
Und einige von ihnen waren ganz dafür.