Kapitel 4

Pam zerrte Brunos Leiche von mir herunter und rollte sie den Rest der Böschung hinab in den Entwässerungsgraben. Dann half sie mir auf.

»Wo warst du denn?«, krächzte ich.

»Ich habe Corinna ausgeschaltet«, sagte Pam ganz aufs Praktische gerichtet und zeigte auf die Leiche, die neben dem weißen Lexus lag. Zum Glück lag sie auf der Seite des Wagens, die den gelegentlich Vorbeifahrenden verborgen war. In dem schwachen Licht war es schwer auszumachen, aber ich meinte zu sehen, dass Corinna sich bereits zu Asche auflöste. Ich hatte noch nie einen toten Vampir im Regen gesehen.

»Ich dachte, Bruno sei so ein großartiger Kämpfer. Wieso hast du dich nicht um ihn gekümmert?«

»Ich habe dir doch den Dolch gegeben«, erwiderte Pam und tat sehr überzeugend so, als wüsste sie gar nicht, wovon ich redete. »Er hatte keinen Dolch.«

»Stimmt.« Ich hustete und, Junge, Junge, tat das weh im Hals. »Und was machen wir jetzt?«

»Wir verschwinden von hier«, sagte Pam, »und hoffen einfach, dass niemand mein Auto bemerkt hat. Ich glaube, es sind nur drei Wagen vorbeigekommen, seit wir angehalten haben. Bei dem Regen und den schlechten Sichtverhältnissen stehen die Chancen sehr gut, dass sich niemand an uns erinnert, vor allem wenn Menschen am Steuer saßen.«

Zu dem Zeitpunkt saßen wir schon wieder in PamsAuto. »Wäre es nicht besser, den Lexus hier wegzuschaffen?«, fragte ich mit kratziger Stimme.

»Gute Idee«, sagte Pam und strich mir über den Kopf. »Glaubst du, dass du ihn fahren könntest?«

»Wohin?«

Pam dachte einen Moment nach, was gut war, weil ich mich erst mal erholen musste. Ich war durchnässt und zitterte und fühlte mich einfach furchtbar.

»Wird Victor nicht ahnen, was passiert ist?« Ich konnte einfach nicht aufhören, Fragen zu stellen.

»Vielleicht. Aber wer nicht mutig genug ist, um so etwas selbst zu erledigen, muss auch die Konsequenzen tragen. Er hat seine beiden besten Leute verloren und kann noch nicht mal beweisen, wie.« Darüber schien Pam sich höllisch zu freuen.

»Wir sollten schnellstens verschwinden. Bevor noch mehr von seinen Leuten kommen, um nachzusehen oder so was.« Noch einen weiteren Kampf hätte ich bestimmt nicht überstanden.

»Du bist es doch, die dauernd Fragen stellt. Ich glaube, Eric wird demnächst hier auftauchen; ich rufe ihn besser mal an, damit er wegbleibt.« Pam wirkte leicht beunruhigt.

»Warum?« Mir wäre es, ehrlich gesagt, ganz lieb gewesen, wenn Eric aufgetaucht wäre und die Dinge geregelt hätte.

»Wenn sein Haus überwacht wird und er jetzt in sein Auto springt und in diese Richtung losfährt, um dich zu retten, dürfte es wohl ziemlich klar sein, dass wir beide für das verantwortlich sind, was Bruno und Corinna zugestoßen ist«, sagte Pam, definitiv genervt. »Streng bitte mal dein Hirn an, Sookie!«

»Mein Hirn ist völlig durchweicht«, erwiderte ich, und falls ich etwas gereizt klang, hätte das Pam sicher nicht allzu sehr überraschen dürfen. Doch sie hatte sowieso schon die entsprechende Kurzwahltaste ihres Handys gedrückt. Ich konnte Eric schreien hören, als er ans Telefon ging.

»Halt den Mund«, versetzte Pam, »dann erkläre ich es dir. Natürlich, sie lebt.« Jetzt herrschte Schweigen am anderen Ende.

Pam fasste die Situation mit ein paar prägnanten Sätzen zusammen und schloss mit dem Rat: »Fahr irgendwohin, wo du aus gutem Grund einfach so plötzlich auftauchen kannst. Zurück ins Fangtasia, um dich um irgendein Problem selbst zu kümmern. Zur Nacht-Reinigung, um deine Anzüge abzuholen. Zum Supermarkt, um ein Sixpack TrueBlood zu kaufen. Aber führe sie nicht hierher.«

Nach einigem weiterem Protest sah Eric anscheinend ein, wie vernünftig Pams Vorschlag war. Ich konnte seine Worte nicht richtig verstehen, obwohl er immer noch auf Pam einredete.

»Sie hat ein paar blaue Flecken am Hals«, sagte Pam ungeduldig. »Ja, sie hat Bruno allein umgebracht.« Pam drehte sich zu mir um. »Er ist stolz auf dich«, sagte sie leicht angesäuert.

»Pam hat mir den Dolch gegeben«, krächzte ich, denn ich wusste, dass er mich gut hören konnte.

»Aber es war Sookies Idee, den Lexus hier wegzuschaffen«, fügte Pam mit der Attitüde einer Person hinzu, die um jeden Preis fair sein wollte, und wenn es sie das Leben kostete. »Ich denke ja schon darüber nach, wo wir ihn hinfahren könnten. Die Fernfahrerraststätten haben sicher alle Überwachungskameras. Ich glaube, wir lassen ihn am besten ein gutes Stück hinter der Ausfahrt nach Bon Temps auf dem Standstreifen stehen.«

Und das taten wir. Pam hatte ein paar Handtücher in ihrem Kofferraum, die ich über den Fahrersitz des Lexus breitete, während Pam in Corinnas Asche herumstocherte und tatsächlich den Autoschlüssel auftrieb. Ich ließ den Motor an und sah mir das Armaturenbrett mit all den modernen Instrumenten an. Den werde ich schon fahren können, sagte ich mir, und dann folgte ich vierzig Minuten lang Pam. Ich warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Wegweiser mit der Aufschrift »Bon Temps«, als wir daran vorbeibrausten, doch es half nichts. Ich hielt erst auf dem Standstreifen an, als auch Pam es tat, und befolgte all ihre Anweisungen: ließ den Zündschlüssel im Lexus stecken, wischte das Lenkrad mit den Handtüchern ab (die ganz feucht waren von meinen nassen Kleidern) und stieg wieder zu Pam ins Auto. Der Regen hatte keinen Moment lang nachgelassen.

Jetzt mussten wir nur noch zurück zu mir nach Hause. Auf dem Weg dorthin tat mir bereits jedes einzelne Gelenk weh, und mir war auch ein wenig übel. Dann, endlich, endlich, hielten wir vor meiner Hintertür an. Zu meinem Erstaunen beugte Pam sich zu mir herüber und umarmte mich. »Du hast dich wacker geschlagen«, sagte sie, »und getan, was getan werden musste.« Ausnahmsweise wirkte sie sogar mal so, als würde sie sich nicht insgeheim über mich lustig machen.

»Ich hoffe, das alles war auch der Mühe wert«, erwiderte ich und klang genauso bedrückt und erschöpft, wie ich mich fühlte.

»Wir sind noch am Leben, also hat es sich doch schon gelohnt«, meinte Pam.

Das konnte ich nicht bestreiten, auch wenn irgendetwas in mir es wollte.

Ich stieg aus dem Auto und trottete quer über den patschnassen Hof. Immerhin, es hatte schließlich doch noch aufgehört zu regnen.

Claude machte die Hintertür auf, als ich eben nach dem Knauf griff. Er hatte den Mund schon geöffnet, um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder, als er sah, in welchem Zustand ich war. Er machte die Tür hinter mir zu und verriegelte sie.

»Ich muss unter die Dusche«, sagte ich nur, »und dann gleich ins Bett. Gute Nacht, Claude.«

»Gute Nacht, Sookie«, erwiderte er sehr leise, und dann schwieg er. Was ich ihm höher anrechnete, als ich sagen kann.

Als ich am nächsten Tag um elf zur Arbeit kam, staubte Sam gerade alle Flaschen an der Wand hinter der Bar ab.

»Guten Morgen«, sagte er und starrte mich an. »Du siehst ja aus wie geradewegs der Hölle entsprungen.«

»Danke, Sam. Gut zu wissen, dass ich so prima aussehe.«

Sam wurde rot. »Tut mir leid, Sookie. Du siehst immer gut aus. Ich dachte nur...«

»An die tiefen Ringe unter meinen Augen?« Ich zerrte an meinen Wangen und schnitt eine hässliche Grimasse. »Es ist gestern Nacht sehr spät geworden bei mir.« Ich musste jemanden töten und sein Auto wegschaffen. »Ich musste nach Shreveport fahren, zu Eric.«

»Geschäftlich oder zum Vergnügen?« Er zog den Kopf ein. Offenbar konnte er selbst nicht glauben, dass er das eben gefragt hatte. »Tut mir leid, Sookie. Meine Mom würde sagen, dass bei mir heute wohl mal wieder Nationalfeiertag der Taktlosigkeit ist.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich und drückte ihn kurz. »Das Gefühl kenne ich nur zu gut. Außerdem muss ich mich bei dir entschuldigen. Es tut mir so leid, dass ich mich überhaupt nicht für die rechtlichen Probleme interessiert habe, die den Werwölfen und Gestaltwandlern zurzeit drohen.« Es wurde definitiv Zeit, dass ich mal die großen Zusammenhänge ins Auge fasste.

»Du hattest gute Gründe, dich in den letzten Wochen auf dich selbst zu konzentrieren«, sagte Sam. »Ich weiß nicht, ob ich mich von all dem so schnell erholt hätte wie du. Ich bin wirklich stolz auf dich.«

Mir fehlten die Worte. Ich senkte den Blick und griff nach einem Lappen, um einen Wasserrand vom Tresen zu reiben. »Wenn du mich brauchst, um eine Petition zu starten, oder wenn ich meinen Kongressabgeordneten anrufen soll, musst du es mir nur sagen«, ermunterte ich ihn. »Niemand sollte gezwungen werden, sich registrieren zu lassen. Du bist Amerikaner. Hier geboren und aufgewachsen.«

»So sehe ich das auch. Ich habe mich im Vergleich zu früher ja nicht plötzlich verändert. Geändert hat sich nur, dass jetzt die Leute Bescheid wissen. Wie ist denn die Vollmondnacht des Rudels gelaufen?«

Die hatte ich schon fast vergessen. »Soweit ich weiß, hatten sie viel Spaß«, erwiderte ich vorsichtig. »Ich habe Annabelle kennengelernt und den anderen Neuen, Basim. Warum vergrößert Alcide eigentlich seine Reihen? Weißt du irgendetwas darüber, was im Reißzahn-Rudel los ist?«

»Nun, ich habe dir ja erzählt, dass ich mit einer von ihnen schon öfter ausgegangen bin«, sagte er und musterte angelegentlich die Flaschen an der Wand hinter der Bar, so als suchte er nach einer, die noch staubig war. Wenn dieses Gespräch weiter so lief, wäre das ganze Merlotte's danach blitzblank.

»Wer ist es denn?« Da Sam es jetzt schon zum zweiten Mal erwähnte, fand ich, dass ich auch mal nachfragen durfte.

Sein Interesse, das bis eben noch den Flaschen galt, verlagerte sich auf die Kasse. »Äh, Jannalynn. Jannalynn Hopper.«

»Oh«, gab ich relativ sachlich von mir, um etwas Zeit zu gewinnen und eine ausdruckslose, aber nicht abweisende Miene aufzusetzen.

»Sie war in der Nacht dabei, als wir das Rudel besiegten, das einen Übernahmeangriff gestartet hatte. Sie, äh... hat sich um die verwundeten Feinde gekümmert.«

Na, das war ja mal eine Schönfärberei. Sie hatte ihnen mit ihren krallenbewehrten Händen die Schädel aufgebrochen. Aber weil ich beweisen wollte, dass bei mir heute nicht der Nationalfeiertag der Taktlosigkeit war, sagte ich nur: »Oh, ja. Die, äh, sehr schlanke Frau. Oder besser gesagt, das junge Mädchen.«

»Sie ist gar nicht so jung, wie sie aussieht«, erwiderte Sam und überging dabei geflissentlich die Tatsache, dass ihr Alter nicht der einzige Vorbehalt war, den man gegen Jannalynn haben konnte.

»Okay. Wie alt ist sie denn?«

»Einundzwanzig.«

»Oh. Na, da ist sie doch fast noch ein Mädchen«, sagte ich sehr ernst und zwang mich zu einem Lächeln. »Ehrlich, Sam, ich verurteile deine Wahl nicht.« Nicht sehr. »Jannalynn ist wirklich, wirklich ... Nun ja, sie ist dynamisch.«

»Danke.« Sams Miene hellte sich auf. »Sie hat mich nach dem Werwolfkrieg angerufen, weil sie eine Schwäche für Löwen hat.« Sam hatte sich in jener Nacht in einen Löwen verwandelt, um besser kämpfen zu können. Er hatte einen prächtigen König der Tiere abgegeben.

»Wie lange trefft ihr euch denn schon?«

»Wir sind schon seit einiger Zeit lose in Kontakt, aber vor drei Wochen ungefähr sind wir zum ersten Mal miteinander ausgegangen.«

»Na, ist doch großartig«, sagte ich und versuchte, mich zu entspannen und etwas natürlicher zu lächeln. »Und du bist dir sicher, dass du keine Erlaubnis von ihrer Mutter brauchst?«

Sam warf mit dem Staubtuch nach mir. Ich fing es auf und warf es zurück.

»Könnt ihr beiden mal aufhören zu spielen? Ich muss mit Sam reden«, sagte da plötzlich jemand. Tanya Grissom war hereingekommen, ohne dass ich sie gehört hatte.

Tanya wird nie meine beste Freundin werden, aber sie ist eine gute Arbeitskraft und bereit, zwei Abende in der Woche ins Merlotte's zu kommen, und das nach ihrem regulären Job tagsüber bei Norcross. »Soll ich euch allein lassen?«, fragte ich.

»Nein, ist schon okay.«

»Entschuldige, Tanya. Worum geht's denn?«, fragte Sam lächelnd.

»Ich möchte, dass du auf den Gehaltsschecks meinen Namen änderst«, sagte Tanya.

»Du hast deinen Namen geändert?« Ich muss an dem Tag wohl besonders langsam gewesen sein. Aber wenn ich die Frage nicht gestellt hätte, dann hätte Sam es getan, denn er sah genauso verständnislos drein.

»Ja, Calvin und ich sind über die Grenze nach Arkansas gefahren und haben dort geheiratet«, erwiderte sie. »Ich heiße jetzt Tanya Norris.«

Sam und ich starrten Tanya einen Augenblick lang einfach nur schweigend und staunend an.

»Herzlichen Glückwunsch!«, rief ich schließlich. »Du wirst bestimmt richtig glücklich werden.« Bei Calvin war ich mir da zwar nicht so sicher, aber immerhin war es mir gelungen, etwas Nettes zu sagen.

Sam stimmte in die Gratulation mit ein und fand all die richtigen Worte. Tanya zeigte uns ihren Ehering, ein breites goldenes Exemplar, und nachdem sie ihn in der Küche auch Antoine und D'Eriq noch gezeigt hatte, verschwand sie so unvermittelt wieder, wie sie gekommen war, um zurück in die Arbeit zu Norcross zu fahren. Tanya hatte erwähnt, dass Calvin und sie bei Target und Wal-Mart eine Liste mit ein paar Dingen hinterlegt hatten, die sie brauchen konnten. Und so rannte Sam in sein Büro und suchte im Internet eine Wanduhr aus, als gemeinsames Geschenk aller Angestellten des Merlotte's. Er stellte ein Glas auf den Tresen, in das jeder seinen Obolus hineintun konnte, und ich beteiligte mich mit einem Zehner.

Mittlerweile kamen schon die ersten Gäste zum Lunch, und ich musste mich um die Bestellungen kümmern. »Jetzt habe ich's immer noch nicht geschafft, mich mal mit dir zu unterhalten«, sagte ich zu Sam. »Vielleicht, wenn ich mit der Arbeit fertig bin?«

»Sicher, Sook«, erwiderte er und begann, Eistee in Gläser zu füllen. Es war ein warmer Tag.

Als ich eine Stunde lang Drinks und Essen serviert hatte, sah ich zu meiner Überraschung Claude zur Tür hereinkommen. Selbst in verknitterten Klamotten, die er offenbar vom Boden aufgeklaubt hatte, sah er atemberaubend und hinreißend aus. Sein Haar war zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden... doch auch das tat seiner Erscheinung keinen Abbruch.

Es war schon fast so viel, dass man ihn dafür hasste, ehrlich.

Claude schlenderte auf mich zu, als käme er jeden Tag ins Merlotte's ... und als hätte es sein freundliches und taktvolles Verhalten von gestern Nacht nie gegeben. »Der Heißwasserboiler ist kaputt«, war alles, was er sagte.

»Hi, Claude. Schön, dich zu sehen«, erwiderte ich. »Hast du gut geschlafen? Das freut mich. Danke, ich habe auch gut geschlafen. Tja, dann kümmerst du dich wohl besser mal um den Heißwasserboiler, wie? Das heißt, falls du duschen und deine Kleider waschen willst. Du erinnerst dich sicher noch, dass ich dich gebeten habe, mir mit einigen Dingen zu helfen, die ich selbst nicht erledigen kann? Du könntest übrigens Hank Clearwater anrufen. Er war schon mal bei mir draußen.«

»Ich kann's mir auch mal ansehen«, sagte da jemand. Als ich mich umdrehte, stand Terry Bellefleur hinter mir.

Terry ist Vietnamveteran und hat einige schreckliche Narben davongetragen - solche, die man sehen, wie auch solche, die man nicht sehen kann. Er war als sehr junger Mann in den Krieg gezogen und als sehr alter Mann zurückgekehrt. Sein rotbraunes Haar wurde langsam grau, aber es war noch voll und auch lang genug, um es zum Zopf zu flechten. Ich war immer prima zurechtgekommen mit Terry, der alles rund um Haus und Garten erledigen konnte, wenn es um Reparaturen ging.

»Das ist wirklich nett«, erwiderte ich. »Aber ich will deine Hilfsbereitschaft nicht ausnutzen, Terry.« Er war immer freundlich zu mir gewesen und hatte zum Beispiel auch den Schutt meiner abgebrannten Küche weggeschafft, sodass die Bauarbeiter anfangen konnten, eine neue an mein Haus anzubauen. Aber ich hatte mit Nachdruck darauf bestehen müssen, dass er eine faire Bezahlung dafür annahm.

»Kein Problem«, murmelte er, den Blick auf seine alten Arbeitsstiefel gesenkt. Terry lebte von einem monatlichen Scheck der Regierung und von verschiedenen Jobs, die ihn über Wasser hielten. So kam er beispielsweise spätnachts oder frühmorgens ins Merlotte's, um die Tische zu säubern, die Toiletten zu reinigen und die Böden zu wischen. Terry sagte immer, die viele Arbeit würde ihn fit halten, und das stimmte auch, Terry war noch gut in Form.

»Ich bin Claude Crane, Sookies Cousin.« Claude streckte Terry die Hand entgegen.

Terry murmelte seinen eigenen Namen und ergriff Claudes Hand. Dann hob er den Blick und sah Claude an. Terrys Augen waren unerwartet schön, von einem satten Goldbraun und von dichten Wimpern umrahmt. Das war mir noch nie aufgefallen. Weil ich in Terry noch nie den Mann gesehen hatte, wie mir klar wurde.

Nach dem Händedruck wirkte Terry verdutzt. Wenn er auf etwas traf, das nicht zu seiner normalen Alltagsroutine gehörte, reagierte Terry meist ungut, und die Frage war dann nur, in welchem Maße. Doch im Augenblick schien Terry eher verwirrt zu sein als erschrocken oder wütend.

»Äh, soll ich gleich mal rausfahren und 'nen Blick draufwerfen?«, fragte Terry. »Ich hab nämlich 'n paar freie Stunden.«

»Das wäre ganz wundervoll«, sagte Claude. »Ich brauche nämlich meine Dusche, und zwar eine richtig heiße.« Er schenkte Terry ein Lächeln.

»Kumpel, ich bin nicht schwul«, erwiderte Terry, und der Ausdruck in Claudes Gesicht war unbezahlbar. Ich hatte meinen Cousin noch nie zuvor verlegen gesehen.

»Danke, Terry, das ist wirklich nett«, sagte ich forsch. »Claude hat einen Schlüssel, er lässt dich rein. Und wenn du Ersatzteile kaufen musst, gib mir einfach die Rechnungen. Du weißt, dass ich mir das leisten kann.« Ich müsste wohl mal etwas Geld von meinem Sparkonto auf das Girokonto überweisen, aber ich hatte das, was ich mein »Vampir-Geld« nannte, immer noch sicher bei der Bank gebunkert. Und Mr Cataliades würde mir auch noch das Geld der armen Claudine schicken. Irgendetwas in mir entspannte sich immer, wenn ich an diese Beträge dachte. Ich war so oft an der Grenze zur Armut entlanggeschrappt, dass ich daran zwar gewöhnt war, aber es war doch eine große Erleichterung für mich, zu wissen, dass ich einiges Erspartes auf der Bank hatte.

Terry nickte und ging durch den Hinterausgang zu seinem Pick-up. Ich durchbohrte Claude mit einem finsteren Blick. »Dieser Mann ist sehr sensibel«, schärfte ich ihm ein. »Er hat einen schlimmen Krieg hinter sich. Vergiss das nie.«

Claude war leicht errötet. »Ich vergesse es nicht«, sagte er. »Ich bin selbst in Kriegen gewesen.« Er setzte mir noch einen kratzigen Kuss auf die Wange, um mir zu zeigen, dass er sich von der Verletzung seines Stolzes erholt hatte. Ich spürte, wie der Neid aller Frauen im Merlotte's auf mich niederging. »Ich werde vermutlich in Monroe sein, wenn du nach Hause kommst. Danke, Cousine.«

Sam kam zu mir, als Claude zur Tür hinausging. »Elvis hat das Gebäude verlassen«, bemerkte er trocken.

»Nein, den habe ich schon eine Weile nicht gesehen«, entgegnete ich, eindeutig auf Autopilot. Dann schüttelte ich mich. »Tut mir leid, Sam. Claude ist eine Marke für sich, was?«

»Ich habe Claudine eine Weile nicht gesehen. Die ist wirklich amüsant«, sagte Sam. »Claude scheint mir ... mehr der typische Elf an sich zu sein.« Es lag eine Frage in seinem Tonfall.

»Claudine werden wir nicht mehr sehen«, erwiderte ich. »Und soweit ich weiß, werden wir auch keine Elfen außer Claude mehr sehen. Die Portale sind geschlossen. Wie immer das auch funktioniert. Abgesehen davon, dass noch ein oder zwei Elfen um mein Haus herumschleichen.«

»Ich scheine ja eine ganze Menge nicht mitbekommen zu haben«, sagte Sam.

»Ja, das muss ich dir alles mal erzählen.«

»Dann sehen wir uns nachher, wie abgemacht? Wenn du frei hast? Terry kommt später noch mal her und wird ein paar Reparaturen machen, die sich hier so angesammelt haben. Aber heute ist Kennedy für den Tresendienst eingeteilt.« Sam wirkte etwas besorgt. »Ich hoffe, Claude macht sich nicht noch einmal an Terry heran. Claudes Ego ist groß wie eine Scheune, und Terry ist so ... Man weiß nie genau, wie er mit so etwas klarkommt.«

»Terry ist ein erwachsener Mann«, erinnerte ich Sam. Aber ich versuchte natürlich nur, mich selbst zu beruhigen. »Das sind sie beide.«

»Claude ist nicht im Geringsten ein Mann«, sagte Sam. »Auch wenn er männlich ist.«

Es war eine große Erleichterung, als Terry nach einer Stunde zurückkam und völlig normal wirkte, weder aufgebracht noch wütend oder sonst etwas.

Ich hatte immer versucht, Terrys Gedanken nicht zu lesen, weil sie ziemlich furchterregend sein konnten. Terry kam gut zurecht, solange er sich nur auf eine Sache gleichzeitig konzentrierte. Er dachte viel an seine Hunde. Einen der Welpen aus dem letzten Wurf seiner Hündin hatte er selbst behalten, und den trainierte er jetzt. (Sollte es übrigens je gelingen, einem Hund das Lesen beizubringen, dann wäre Terry der Mann, der das geschafft hätte.)

Nachdem er einen losen Türknauf in Sams Büro wieder angeschraubt hatte, saß Terry an einem meiner Tische und bestellte einen Salat und einen süßen Eistee. Erst als ich alles auf meinen Block geschrieben hatte, reichte Terry mir schweigend noch eine Rechnung. Er hatte ein neues Teil für den Heißwasserboiler kaufen müssen. »Jetzt ist er wieder in Ordnung«, sagte er. »Und dein Cousin hat seine heiße Dusche gekriegt.«

»Danke, Terry«, erwiderte ich. »Ich werde dir auch noch etwas für deinen Zeit- und Arbeitsaufwand geben.«

»Kein Problem«, sagte Terry. »Darum hat sich dein Cousin schon gekümmert.« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seiner Zeitschrift zu. Er hatte sich eine Ausgabe von >Jagen und Angeln in Louisiana< gekauft, in der er las, während er auf sein Essen wartete.

Ich schrieb Terry einen Scheck für das Reparaturteil aus und gab ihn ihm, als ich ihm sein Essen brachte. Er nickte nur und steckte ihn in die Hosentasche. Da Terry wegen seiner verschiedenen Jobs nicht immer Zeit hatte einzuspringen, hatte Sam noch eine andere Vertretung angestellt, damit er regelmäßig einige Abende frei hatte. Die neue Barkeeperin, die seit zwei Wochen für ihn arbeitete, war wirklich hübsch, aber in jeder Hinsicht etwas überdimensioniert. Kennedy Keyes war 1,75 Meter groß, mindestens, auf jeden Fall größer als Sam, und auf eine Art gut aussehend, die an traditionelle Schönheitsköniginnen erinnerte: schulterlange kastanienbraune Haare mit dezenten blonden Strähnen, große braune Augen und ein Lächeln mit so weißen, regelmäßigen Zähnen, wie sie der feuchte Traum eines jeden Zahnarztes waren. Ihre Haut war makellos, ihre Haltung kerzengerade, und sie besaß einen Abschluss der Universität von South Arkansas in Psychologie.

Und sie hatte gesessen.

Sam hatte sie gefragt, ob sie einen Job brauche, als sie am Tag, nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen worden war, zum Lunch ins Merlotte's kam. Und sie hatte ja gesagt, noch ehe sie wusste, was sie überhaupt tun sollte. Er hatte ihr ein Handbuch für Barkeeper in die Hand gedrückt, und in dem hatte sie jede freie Minute gelesen, bis sie eine erstaunliche Anzahl an Drinks und Cocktails draufhatte.

»Sookie!«, rief sie, als wären wir seit Kindertagen die besten Freundinnen. Aber so war Kennedy eben. »Wie geht's dir?«

»Gut, danke. Und selbst?«

»Alles bestens.« Sie bückte sich und sah nach, wie viele Softdrinks noch in dem Kühlschrank mit der Glasfront hinter der Bar standen. »Wir brauchen ein paar A&W«, sagte sie.

»Kommt sofort.« Ich schnappte mir den Schlüssel von Sam, ging nach hinten ins Lager und brachte zwei Sixpacks Root Beer mit.

»Ich wollte dich nicht losschicken. Die hätte ich doch auch selbst holen können!« Kennedy lächelte mich an. Ein Lächeln hatte sie allerdings ständig im Gesicht. »Aber vielen Dank.«

»Kein Problem.«

»Sehe ich irgendwie schmaler aus, Sookie?«, fragte sie mit einem hoffnungsvollen Blick über die Schulter, nachdem sie sich umgedreht hatte, um mir ihren Hintern zu zeigen. Kennedys größte Sorge schien es nicht zu sein, dass sie im Gefängnis gesessen, sondern dass sie dort zugenommen hatte. Das Essen sei einfach beschissen gewesen, viel zu viele Kohlenhydrate, hatte sie mir erzählt. »Aber ich bin eine Frustfresserin«, hatte sie hinzugefügt, als wäre das ihr eigentliches Verbrechen. »Und im Gefängnis habe ich eine Menge Frust geschoben.« Seit sie zurück in Bon Temps war, war sie ängstlich darauf bedacht, ihre einstigen Maße einer Schönheitskönigin wieder zu erreichen.

Aber sie war immer noch schön. Jetzt war eben nur sehr viel mehr Schönes an ihr.

»Du siehst wunderbar aus, wie immer«, sagte ich und sah mich nach Danny Prideaux um. Sam hatte Danny gebeten, ins Merlotte's zu kommen, wenn Kennedy abends arbeitete. Dieses Arrangement sollte einen Monat dauern, bis Sam sich sicher war, dass die Leute Kennedy nicht übers Ohr hauen würden.

»Weißt du«, sagte sie, da ihr mein suchender Blick auffiel, »ich komm schon allein zurecht.«

Jeder in Bon Temps wusste, wie gut Kennedy allein zurechtkam, und genau das war das Problem. Ihr Ruf war immer mal wieder eine Herausforderung für gewisse Männer (gewisse Männer, die Arschlöcher waren). »Klar doch«, sagte ich beschwichtigend. Danny Prideaux war so etwas wie eine Versicherung.

Und da kam er auch schon zur Tür herein. Er war noch einige Zentimeter größer als Kennedy und von einem Ethno-Mix, den ich bislang nicht einordnen konnte. Danny hatte dunkle, olivenfarbene Haut, kurzes braunes Haar und ein breites Gesicht. Er war seit einem Monat nicht mehr in der Armee, hatte sich aber noch keinen Beruf gesucht, den er auf Dauer ausüben wollte. Momentan arbeitete er Teilzeit im Baumarkt und war gern bereit, an ein paar Abenden die Woche den Rausschmeißer im Merlotte's zu machen, zumal er Kennedy dann die ganze Zeit ansehen konnte.

Sam kam aus seinem Büro, verabschiedete sich von allen und sagte Kennedy noch, dass der Scheck eines bestimmten Gastes geplatzt war. Dann gingen wir beide Richtung Hinterausgang. »Wie wär's denn mit dem Crawdad Diner«, schlug Sam vor. Das klang gut, fand ich.

Es war ein altes Restaurant gleich an der Ecke vom Platz vor dem Gerichtsgebäude. Wie alle Geschäfte rund um diesen Platz, den ältesten Teil von Bon Temps, hatte das Crawdad Diner eine Geschichte. Ursprünglich hatte es Perdita und Crawdad Jones gehört, die das Restaurant in den 1940er Jahren eröffnet hatten. Als Perdita in Rente ging, hatte sie es an Charlsie Tootens Ehemann Ralph verkauft, der seinen Job auf der Hühnerfarm aufgab, um es übernehmen zu können. Der Deal war, dass Perdita Ralph all ihre Rezepte geben würde, wenn er den Namen Crawdad Diner beibehielt. Und als Ralphs Arthritis ihn zwang, sich zur Ruhe zu setzen, verkaufte er das Crawdad Diner unter derselben Bedingung an Pinkie Arnett. So konnten die Einwohner von Bon Temps also seit Generationen sicher sein, den besten Brotpudding in ganz Louisiana zu bekommen; und die Erben von Perdita und Crawdad Jones verwiesen mit Stolz auf den Namen.

Diesen kleinen historischen Abriss gab ich Sam, nachdem wir beide panierte Steaks mit Brechbohnen und Reis bestellt hatten.

»Zum Glück hat Pinkie das Rezept für den Brotpudding bekommen, und wenn grüne Tomaten Saison haben, könnte ich jeden Abend herkommen und sie mir grillen lassen«, sagte Sam. »Wie klappt denn das Zusammenwohnen mit deinem Cousin?« Er drückte eine Zitronenscheibe über seinem Tee aus.

»Kann ich noch gar nicht sagen. Er ist ja gerade erst eingezogen, und wir hatten kaum Zeit für Gespräche.«

»Hast du ihm schon mal beim Strippen zugesehen?« Sam lachte. »Beim professionellen Strippen, meine ich natürlich. Also ich könnte so was ja nicht, auf einer Bühne, und dann schauen auch noch Leute zu.«

Was Sams Körper betraf, hätte nichts dagegen gesprochen. Ich hatte ihn schon mal nackt gesehen, nachdem er sich von einer Tiergestalt in einen Menschen zurückverwandelt hatte. Zum Anbeißen. »Nein. Ich hatte immer vor, mit Amelia mal hinzugehen, aber seit sie nach New Orleans zurückgekehrt ist, war ich nicht in Strip-Club-Laune. Frag Claude doch mal, ob er dich an deinen freien Abenden nicht mal ein bisschen üben lässt in seinem Club«, sagte ich grinsend.

»Oh, klar doch«, erwiderte Sam sarkastisch, aber gut gelaunt.

Wir sprachen noch eine Zeit lang über Amelias Abreise, und dann fragte ich Sam nach seiner Familie in Texas. »Die Scheidung meiner Mutter ist jetzt durch«, erzählte er. »Mein Stiefvater sitzt natürlich im Gefängnis, seit er auf sie geschossen hat, und sie hat ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Inzwischen ist ihre größte Sorge vermutlich ihre finanzielle Situation. Sie hat die Militärpension meines Vaters, aber sie weiß nicht, ob ihr Job in der Schule nach den Sommerferien noch auf sie wartet. Als sie nach den Schüssen im Krankenhaus lag, haben sie eine Vertretung für sie eingestellt, und bisher schwafeln sie bloß davon, dass sie Mom zurückhaben wollen.«

Bevor Sams Mutter niedergeschossen wurde, war sie die Empfangsdame und Sekretärin einer Grundschule gewesen. Nicht jeder kam damit zurecht, dass in seinem Büro eine Frau arbeitete, die sich in ein Tier verwandeln konnte, auch wenn Sams Mutter noch dieselbe Frau war wie zuvor. Diese Einstellung machte mich immer wieder sprachlos.

Die Kellnerin brachte unsere Teller und einen Korb mit Brötchen. Ich seufzte vor lauter Vorfreude. Das war doch sehr viel schöner, als für mich allein zu kochen.

»Gibt's irgendwas Neues über Craigs Hochzeit?«, fragte ich, als ich mich mal einen Moment von meinem panierten Steak abwenden konnte.

»Die Paarberatung haben sie abgeschlossen«, erwiderte Sam achselzuckend. »Jetzt wollen ihre Eltern, dass sie eine Gen-Beratung machen, was immer das auch ist.«

»Das ist doch verrückt.«

»Manche Leute glauben eben, dass alles, was irgendwie anders ist, schlecht ist«, sagte Sam, während er sich ein zweites Brötchen mit Butter bestrich. »Und dabei kann Craig sich nicht mal verwandeln.« Nur Sam als der Erstgeborene eines vollblütigen Gestaltwandlerpaares spürte den Ruf des Vollmonds.

»Das tut mir wirklich leid.« Ich schüttelte den Kopf. »Die Situation muss für jeden in deiner Familie ziemlich schwierig sein.«

Er nickte. »Meine Schwester Mindy kommt schon recht gut damit klar. Als ich sie das letzte Mal besucht habe, ließ sie mich sogar mit den Kindern spielen, und ich habe vor, zum Feiertag am 4. Juli wieder nach Texas zu fahren. In ihrer Stadt gibt's immer ein großes Feuerwerk, und die ganze Familie kommt. Sie meinte, das würde mir sicher auch gefallen.«

Ich lächelte. Sie wussten gar nicht, was für ein Glück sie hatten, dachte ich, jemanden wie Sam in der Familie zu haben. »Deine Schwester scheint ja ziemlich klug zu sein«, sagte ich und schob mir ein großes Stück Steak mit Soße in den Mund. Herrlich.

Sam lachte. »Hör mal, da wir gerade von Familie reden«, begann er. »Willst du mir nicht mal erzählen, wie es dir wirklich geht? Du hast mir von deinem Urgroßvater erzählt und was passiert ist. Wie verheilen denn deine Wunden? Es soll nicht so klingen, als wollte ich über jede Einzelheit deines Lebens Bescheid wissen. Aber du weißt ja, dass ich mir Sorgen mache.«

Zuerst zögerte ich ein wenig. Aber es erschien mir völlig richtig, mit Sam darüber zu reden, und so gab ich ihm eine Kurzfassung der letzten Wochen. »Und JB hat mir mit ein paar physiotherapeutischen Übungen geholfen«, fügte ich hinzu.

»Du läufst schon wieder, als wäre nie etwas gewesen, außer wenn du müde bist.« Sam war ein guter Beobachter.

»Einige Stellen tun immer noch weh, am linken Oberschenkel, dort, wo das Fleisch ... ach, lassen wir das lieber.« Ein, zwei Minuten lang sah ich auf meine Serviette hinab. »Es ist wieder nachgewachsen. Fast alles. Nur so eine Art Grübchen sieht man noch. Und ich habe einige Narben, aber die sind nicht schlimm. Eric scheint es jedenfalls nichts auszumachen.« Er hatte schließlich auch die ein oder andere Narbe aus seinem Leben als Mensch, auch wenn man sie auf seiner bleichen Haut fast nicht wahrnahm.

»Kommst du denn auch, äh, psychisch damit zurecht?«

»Manchmal habe ich Albträume«, gab ich zu, »und auch noch so panische Momente. Aber reden wir nicht mehr davon.« Ich warf ihm mein strahlendstes Lächeln zu. »Sieh dir uns beide an, nach all den Jahren, Sam. Ich wohne mit einem Elfen zusammen und habe einen Vampir als Freund, und du triffst dich mit einer Werwölfin, die Schädel aufbricht. Hätten wir je geglaubt, dass wir so etwas mal sagen würden, als ich an meinem ersten Arbeitstag ins Merlotte's spazierte?«

Sam lehnte sich vor und legte kurz seine Hand auf meine, und in genau diesem Augenblick kam Pinkie höchstpersönlich an unseren Tisch und fragte, wie uns das Essen geschmeckt habe. Ich zeigte auf meinen fast leeren Teller und sagte lächelnd zu ihr: »Ich glaube, das kann man sehen.« Pinkie erwiderte mein Lächeln. Sie war eine beleibte Frau, der ihr eigenes Essen offensichtlich auch sehr gut schmeckte. Dann kamen neue Gäste herein, und sie ging zu ihnen, um ihnen ihren Tisch zu zeigen.

Sam zog seine Hand zurück und griff wieder nach seiner Gabel. »Ich wünschte...«, begann er, sprach dann aber nicht weiter, sondern fuhr sich mit der Linken durch sein rotgoldenes Haar. Er hatte es so kurz schneiden lassen, dass es viel gebändigter gewirkt hatte als üblich, bis er es jetzt zerzauste. Ich sah, dass er mit der Gabel nur noch in Resten herumstocherte, weil auch er schon fast alles aufgegessen hatte.

»Was wünschst du dir?«, fragte ich. Bei den meisten Leuten hätte ich mich gefürchtet, sie zu bitten, ihren Satz zu beenden. Doch Sam und ich waren schon seit Jahren Freunde.

»Ich wünschte, du würdest mit jemand anderem glücklich werden«, sagte er. »Ich weiß, ich weiß. Es geht mich nichts an. Und Eric scheint ja auch wirklich etwas für dich zu empfinden, was du auch verdient hast.«

»Das tut er«, erwiderte ich. »Er ist das, was ich habe, und ich wäre sehr undankbar, wenn ich damit nicht glücklich wäre. Wir lieben uns.« Ich zuckte die Achseln, als wäre das alles doch gar nicht so wichtig. Mir behagte nicht, welche Wendung das Gespräch genommen hatte.

Sam nickte, auch wenn mir ein ironischer Zug um seinen Mund verriet, dass er Eric einer solchen Liebe nicht für wert hielt. Ich war nur froh, dass ich Sams Gedanken nicht klar und deutlich lesen konnte. Und Jannalynn war dann ja wohl ähnlich unpassend für Sam. Er brauchte kein wildes Werwolf-Groupie, das alles für den Leitwolf tat, sondern eine Frau, die ihn für den großartigsten Mann auf Erden hielt.

Aber ich sagte kein Wort.

Taktlosigkeit konnte er mir nicht vorwerfen.

Ich hätte Sam noch schrecklich gern erzählt, was letzte Nacht geschehen war. Doch das brachte ich einfach nicht fertig. Ich wollte ihn nicht noch weiter in all den Vampir-Mist hineinziehen, auch wenn er bislang gar nicht allzu tief drinsteckte. So etwas konnte niemand gebrauchen. Ich hatte mir natürlich schon den ganzen Tag lang Sorgen über die Auswirkungen dieser Ereignisse gemacht.

Mein Handy klingelte, als Sam gerade seine Hälfte der Rechnung zahlte. Ich warf einen Blick darauf. Es war Pam. Augenblicklich hatte ich einen Kloß im Hals. Ich ging zum Telefonieren nach draußen vors Restaurant.

»Was ist los?«, fragte ich genau so ängstlich, wie ich tatsächlich war.

»Hallo erst mal.«

»Pam, was ist passiert?« Nach Spielereien war mir ganz und gar nicht zumute.

»Bruno und Corinna sind heute in New Orleans nicht zur Arbeit erschienen«, sagte Pam ernst. »Victor hat aber bei uns nicht angerufen, weil die beiden natürlich gar keinen Grund hatten, hier heraufzukommen.«

»Haben sie den Lexus gefunden?«

»Noch nicht. Die Autobahnpolizei hat heute aber sicher einen Sticker daraufgeklebt, mit dem sie den Besitzer auffordern, den Wagen wegzufahren. Das machen sie so, ist mir aufgefallen.«

»Ja. Das machen sie.«

»Leichen werden sie nicht finden. Schon gar nicht nach den sintflutartigen Regenfällen von letzter Nacht, da sind alle Spuren weggewaschen.« Pam klang sehr selbstzufrieden. »Sie können uns nichts anhängen.«

Da stand ich, das Handy am Ohr, auf einem leeren Gehsteig in meiner kleinen Stadt, die Straßenlaterne nur ein paar Schritte entfernt. Selten hatte ich mich einsamer gefühlt. »Wenn es doch bloß Victor gewesen wäre«, sagte ich aus tiefstem Herzen.

»Möchtest du noch jemanden töten?« Pam klang leicht erstaunt.

»Nein, ich will, dass es vorbei ist. Ich will, dass alles okay ist. Ich will keine weiteren Morde mehr.« Hinter mir kam Sam aus dem Restaurant. Er hatte wohl die Verzweiflung in meiner Stimme gehört, denn plötzlich spürte ich seine Hand auf meiner Schulter. »Ich muss aufhören, Pam. Halt mich auf dem Laufenden.«

Ich klappte das Handy zu und drehte mich zu Sam um. Er wirkte besorgt, und das Licht der Straßenlaterne warf dunkle Schatten auf sein Gesicht.

»Du steckst in Schwierigkeiten«, sagte er.

Ich konnte nur schweigen.

»Ich weiß, dass du darüber nicht reden kannst, aber wenn du irgendwann mit jemandem reden musst, weißt du, wo du mich findest«, sagte er.

»Du auch«, erwiderte ich, denn mit einer Freundin wie Jannalynn steckte Sam womöglich in einer beinah ebenso schwierigen Situation wie ich.