Kapitel 10
Claude war letzte Nacht nicht nach Hause gekommen, sein Auto stand nicht hinter dem Haus. Ja, es waren eben immer die anderen, die Glück hatten. Aber dieses Selbstmitleid verbot ich mir sofort wieder.
»Ist doch alles okay so weit«, sagte ich laut zu meinem Spiegelbild, damit ich es auch glaubte. »Sieh dich an! Tolle Sonnenbräune, Sook!« Ich musste zur Lunch-Schicht in die Arbeit, also zog ich mich gleich nach dem Frühstück an. Dann holte ich die geklaute CD unter den Handtüchern hervor. Entweder du gibst sie Bill zurück oder du bezahlst sie, sagte ich mir tugendhaft. Sie war doch eigentlich gar nicht richtig geklaut, wenn ich vorhatte, sie zu bezahlen ... irgendwann. Ich sah auf die Plastikhülle in meinen Händen und fragte mich, was das FBI dafür wohl bezahlen würde. Trotz aller Bemühungen von Bill, die CD auf jeden Fall nur an Vampire zu verkaufen, wäre es jedoch sehr verwunderlich gewesen, wenn nicht auch andere Leute sie besäßen.
Ich nahm die CD heraus und schob sie in meinen Computer. Erst surrte es, dann ging ein Fenster auf dem Bildschirm auf. »Das Vampir-Verzeichnis« stand da in roten Gothic-Lettern auf schwarzem Hintergrund. Na, wenn das kein Klischee ist!
»Geben Sie Ihren Code ein«, forderte jetzt ein Schriftzug auf dem Bildschirm.
Oh, oh.
Dann erinnerte ich mich, dass auf der Hülle vorne einkleiner Post-it-Zettel geklebt hatte, und ich fischte ihn aus dem Papierkorb. Ja, das war garantiert der Code. Bill hätte die Zugangsnummer nie zusammen mit der CD aufbewahrt, wenn er sein Haus nicht für sicher gehalten hätte. Bei dem Gedanken plagten mich wieder Schuldgefühle. Ich hatte keine Ahnung, wie Bill vorging, aber vermutlich übertrug er den gültigen Code aus einer Liste auf die CD, bevor er sie dem glücklichen Käufer schickte. Vielleicht klebte er aber manchmal auch Lösch-Codes drauf für Idioten wie mich, und das Ganze würde mir um die Ohren fliegen. Zum Glück war sonst keiner zu Hause, als ich den Code eingab und die Enter-Taste drückte, denn ich war tatsächlich unter dem Tisch in Deckung gegangen.
Doch nichts passierte. Es surrte nur wieder. Dann ist wohl alles okay, dachte ich und setzte mich wieder auf meinen Stuhl.
Auf dem Bildschirm waren mehrere Optionen erschienen. Es war möglich, nach Wohnort, Herkunftsland, Name oder letzter Sichtung sortiert zu suchen. Ich klickte »Wohnort« an und wurde gefragt: »In welchem Land?« Aus einer langen Liste konnte ich mir eins aussuchen. Nachdem ich USA angeklickt hatte, kam die nächste Frage: »In welchem Bundesstaat?« Und wieder eine Liste. Ich wählte »Louisiana« aus, dann »Compton«. Und da war er, mit einem aktuellen Foto, aufgenommen in seinem eigenen Haus, das erkannte ich an der Wandfarbe. Bill lächelte ziemlich steif. Wie ein Partylöwe sah er auf dem Foto ja nicht gerade aus, und ich fragte mich, wie er wohl bei einer dieser Kontaktbörsen im Web rüberkommen würde. Dann begann ich seine Kurzbiografie zu lesen. Und tatsächlich, da unten stand es: »Erschaffen von Lorena Ball aus Louisiana, 1870.«
Doch es gab keine Liste mit »Brüdern« oder »Schwestern«.
Okay, ganz so einfach würde es also nicht werden. Ich klickte auf den fettgeschriebenen Namen von Bills Schöpferin, der endgültig verstorbenen und so gar nicht betrauerten Lorena. Mal sehen, was in dem Eintrag über sie stand, da sie den endgültigen Tod gestorben war; zumindest solange es nicht gelang, Vampirasche wiederzubeleben.
»Lorena Ball«, las ich. Von ihr gab es nur ein gemaltes Porträt, auf dem sie aber ganz gut getroffen war, wie ich fand, als ich es mit nachdenklich geneigtem Kopf betrachtete. Zur Vampirin geworden 1788 in New Orleans... lebte an verschiedenen Orten im Süden... kehrte nach dem Bürgerkrieg nach Louisiana zurück ... hatte »die Sonne gesehen«, ermordet von »unbekanntem« Täter oder Tätern. Hm. Bill wusste sehr genau, wer Lorena ermordet hatte, und ich konnte nur von Glück sagen, dass er meinen Namen nicht in dieses Verzeichnis aufgenommen hatte. Ich wagte kaum darüber nachzudenken, was mir zugestoßen wäre, wenn er es getan hätte. Tja, da meint man, man hätte schon genug Probleme, und dann fällt einem etwas auf, woran man noch nie gedacht hat, und schon erkennt man, dass man sogar noch mehr Probleme hat.
Okay, weiter im Text... »Erschuf Bill Compton (1870) und Judith Vardamon (1902).«
Judith. Das also war Bills »Schwester«.
Nachdem ich mich noch ein bisschen durch das Verzeichnis geklickt hatte, fand ich heraus, dass Judith Vardamon noch »am Leben« war; zumindest war sie das zu dem Zeitpunkt gewesen, als Bill die Datenbank erstellt hatte. Sie wohnte in Little Rock.
Und ich fand heraus, dass ich sie per E-Mail kontaktieren konnte. Okay, sie wäre natürlich nicht verpflichtet, mir zu antworten.
Ich starrte auf meine Hände und dachte angestrengt nach. Ich dachte daran, wie furchtbar Bill aussah, und an seinen Stolz und die Tatsache, dass er immer noch keinen Kontakt mit dieser Judith aufgenommen hatte, obwohl er selbst vermutete, dass ihr Blut ihn heilen könnte. Bill war kein Dummkopf, es gab also irgendeinen guten Grund, warum er sich bei diesem anderen Kind von Lorena nicht gemeldet hatte. Nur dass ich diesen Grund eben nicht kannte. Doch wenn Bill beschlossen hatte, sie nicht zu kontaktieren, dann wusste er sicher, was er tat, richtig? Ach, zur Hölle damit.
Ich gab ihre E-Mail-Adresse ein und bewegte den Cursor zur Betreff-Zeile. Dort schrieb ich »Bill ist krank« hinein. Ich bewegte den Cursor in das leere Feld für den Text, klickte wieder. Zögerte. Dann schrieb ich: »Ich bin Bill Comptons Nachbarin und weiß nicht, wie lange Sie schon nichts von ihm gehört haben. Aber er wohnt inzwischen wieder im alten Haus seiner Familie in Bon Temps, Louisiana. Bill hat eine Silbervergiftung erlitten und kann ohne Ihr Blut nicht gesund werden. Er weiß nicht, dass ich Ihnen schreibe. Wir waren früher mal zusammen, sind aber noch gute Freunde, und ich möchte, dass er sich wieder erholt.« Meinen Namen setzte ich natürlich auch noch darunter, anonyme Briefe sind nicht mein Stil.
Mit zusammengebissenen Zähnen klickte ich auf »Senden«.
So gern ich die CD auch behalten hätte und noch ein wenig durch das Verzeichnis gesurft wäre - mein kleiner persönlicher Ehrenkodex sagte mir, dass ich sie zurückgeben musste, ohne diesem Wunsch nachzugeben. Schließlich hatte ich sie nicht bezahlt. Also nahm ich Bills Schlüssel, packte die CD wieder in die Plastikhülle und machte mich auf den Weg über den alten Friedhof.
Ich blieb kurz stehen, als ich zur Ruhestätte der Familie Bellefleur kam. Auf Miss Carolines Grab türmten sich die Blumen. Andy stand davor und starrte auf das Kreuz aus roten Nelken. Ich fand es ziemlich hässlich, aber dies war wohl tatsächlich mal ein Fall, in dem der gute Wille mehr zählte als das Ergebnis. Und Andy fiel vermutlich sowieso nicht auf, was er da anstarrte.
Ich fühlte mich, als hätte jemand »Dieb« auf meiner Stirn eingebrannt. Dabei hätte es Andy nicht mal gekümmert, wenn ich mit einem Lastwagen vor Bills Haus vorgefahren wäre, alle Möbel eingeladen hätte und damit abgehauen wäre. Es waren meine eigenen Schuldgefühle, die mich plagten.
»Sookie«, sagte Andy. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er mich gesehen hatte.
»Andy«, erwiderte ich vorsichtig. Ich war mir nicht sicher, wohin dieses Gespräch führen würde, und ich musste bald zur Arbeit. »Sind noch Verwandte von euch in der Stadt? Oder sind schon alle wieder abgefahren?«
»Sie brechen nach dem Lunch auf«, sagte er. »Halleigh musste heute Morgen irgendwelche Unterrichtsstunden vorbereiten, und Glen ist in sein Büro gegangen, weil er Papierkram zu erledigen hatte. Portia hat das alles am meisten mitgenommen.«
»Sie wird froh sein, wenn der Alltag wieder seinen Lauf nimmt.« Das erschien mir unverfänglich genug als Antwort.
»Ja. Die Arbeit in der Rechtsanwaltskanzlei geht schließlich weiter.«
»Hat Miss Carolines Pflegerin schon einen neuen Job gefunden?« Verlässliche Pfleger waren so selten wie Schnee in Louisiana, allerdings sehr viel mehr wert.
»Doreen? Ja, sie ist quer durch den Garten gleich weiter zu Mr De Witt.« Nach einem unbehaglichen Schweigen fügte er hinzu: »Sie hat mir an dem Abend, als ihr da wart, noch die Meinung gesagt. Ich weiß, ich war nicht sonderlich höflich zu... Bill.«
»Es ist eine schwere Zeit für euch alle.«
»Ich bin nur... Es macht mich verrückt, dass wir Almosen bekommen haben.«
»Habt ihr nicht, Andy. Bill gehört zur Familie. Ich weiß, das muss seltsam sein, und ich weiß auch, dass du von Vampiren grundsätzlich nicht viel hältst. Aber er ist dein Urururgroßvater, und er wollte nur seinen Leuten helfen. Es würde dir ja auch nichts ausmachen, wenn Bill euch Geld hinterlassen hätte und hier mit Miss Caroline unter der Erde läge, oder? Es ist nur einfach so, dass Bill noch herumläuft.«
Andy schüttelte den Kopf, als umschwirrten ihn Fliegen. Sein Haar wurde dünner, fiel mir auf. »Weißt du, was der letzte Wunsch meiner Großmutter war?«
Ich hatte keine Ahnung. »Nein.«
»Sie hat ihr Schokoladenkuchenrezept der Stadt vermacht«, sagte er und lächelte. »Ein verdammtes Rezept. Und weißt du was? Als ich es den Zeitungsfritzen brachte, waren sie so aufgeregt, als wäre Weihnachten und ich hätte ihnen die Wegbeschreibung zu Jimmy Hoffas Leiche geschenkt.«
»Es wird in der Zeitung veröffentlicht?«, fragte ich genauso begeistert, wie ich war. Ich hätte wetten mögen, dass an dem Tag, an dem das Rezept in der Zeitung erschien, in Bon Temps mindestens hundert Schokoladenkuchen in den Ofen geschoben würden.
»Siehst du, du bist genauso aufgeregt«, meinte Andy und klang plötzlich um fünf Jahre jünger.
»Andy, das ist wirklich toll«, versicherte ich ihm. »Aber jetzt muss ich erst mal weiter und etwas zurückbringen.« Mit diesen Worten eilte ich über den Friedhof bis zu Bills Haus. Ich legte die CD, natürlich mit dem kleinen Post-it-Zettel drauf, oben auf den Stapel, von dem ich sie heruntergenommen hatte, und dann haute ich schleunigst wieder ab.
Nun machte ich mir doch Vorwürfe, und das nicht nur ein- oder zweimal, nein, drei-, vier- und fünfmal. Im Merlotte's arbeitete ich wie auf Autopilot und konzentrierte mich ganz darauf, die Lunch-Bestellungen nicht zu verwechseln, alles zack, zack zu erledigen und auf die Wünsche meiner Gäste sofort zu reagieren. Mein besonderer Sinn sagte mir allerdings, dass sie trotz all meiner Effizienz nicht sonderlich froh waren, wenn ich an ihren Tisch kam. Und das konnte ich ihnen nicht mal verdenken.
Trinkgeld gab's kaum. Tja, die Leute sind eher bereit, Ineffizienz zu verzeihen, solange man beim Trödeln nur ein Lächeln im Gesicht hat. Meine ernste Miene und mein rasches Hantieren gefiel ihnen nicht.
Sam vermutete schon (und das bekam ich mit, einfach weil er es so oft dachte), dass ich Streit mit Eric hatte. Holly dachte, ich hätte wohl meine Tage.
Und Antoine war ein Informant.
Unser Koch war in eigene Grübeleien versunken, jetzt erst fiel mir auf, wie sehr er sich meinen telepathischen Fähigkeiten sonst widersetzte. Solange er es nicht vergaß. Ich wartete gerade an der Küchendurchreiche darauf, dass eine meiner Bestellungen fertig wurde, sah zu, wie Antoine einen Burger wendete, als ich direkt von ihm hörte: Ich mach doch hier nicht schon wieder früher Schluss, um mich mit dem Arschloch zu treffen. Das kann der sich sonst wohin stecken. Ich erzähl dem gar nichts mehr. Dann legte Antoine, den ich in letzter Zeit wirklich zu schätzen gelernt hatte, den Burger auf die bereitliegende Brötchenhälfte, machte alles fertig und drehte sich mit dem Teller in der Hand zu mir um. Und sah mir direkt in die Augen.
Oh Mist, dachte er.
»Lass uns reden, bevor du irgendwas tust«, sagte er, und jetzt war ich mir sicher, dass er ein Verräter war.
»Nein«, erwiderte ich und marschierte umgehend zu Sam, der hinter dem Tresen Gläser abwusch. »Sam, Antoine ist irgendeine Art Spitzel der Regierung«, flüsterte ich ihm zu.
Sam fragte nicht mal, woher ich das wissen wolle, er zweifelte keine Sekunde an meiner Aussage. Sein Mund wurde ganz schmal. »Wir reden später mit ihm«, sagte er bloß und: »Danke, Sook.« Inzwischen tat es mir leid, dass ich Sam nicht von der Werwolfleiche auf meinem Land erzählt hatte. Anscheinend tat es mir immer leid, wenn ich Sam etwas nicht erzählte.
Ich holte mir den Teller mit dem Burger, ohne Antoine noch einmal anzusehen, und brachte ihn an den richtigen Tisch.
An manchen Tagen hasste ich mein besonderes Talent wirklich. Und heute war so ein Tag. Als ich Antoine noch für einen neuen Freund gehalten hatte, war ich doch viel glücklicher gewesen (auch wenn das im Rückblick ziemlich naiv war). Ich fragte mich, ob irgendeine der Geschichten darüber, wie er im Louisiana Superdome den Hurrikan Katrina überlebt hatte, stimmte, oder ob das auch alles Lügen waren. Ich hatte solches Mitleid mit ihm gehabt. Und bislang hatte ich nicht den kleinsten Hinweis darauf aufgeschnappt, dass Antoine uns etwas vorspielte. Wie konnte das sein?
Nun, zum einen lese ich nicht jeden einzelnen Gedanken jedes Menschen. Im Allgemeinen blocke ich eine Menge ab, und vor allem versuche ich, mich aus den Köpfen meiner Kollegen herauszuhalten. Zum anderen denken die Leute über heikle Themen in den seltensten Fällen auf unmissverständliche Weise nach. Ein betrogener Mann würde nie denken: Ich hole jetzt die Pistole, die unter dem Fahrersitz meines Pick-ups liegt, und schieße Jerry in den Kopf, weil er meine Frau gevögelt hat. Ich würde vermutlich eher einen Eindruck von verletztem Stolz und Wut auffangen, mit Untertönen von Gewalt. Oder sogar eine Fantasie darüber, was es für ein Gefühl wäre, Jerry zu erschießen. Aber der Mann war vielleicht noch gar nicht so weit, Jerry erschießen zu wollen, wenn ich im Merlotte's seine Gedanken mitbekam.
Außerdem führten die Leute ihre Gewaltfantasien meistens nicht aus. Das war etwas, das ich erst nach einigen sehr schmerzlichen Erfahrungen in meiner Kindheit und Jugend gelernt hatte.
Und was sollte ich auch machen? Wenn ich anfing, den Hintergrund jedes einzelnen Gedankens zu ergründen, den ich hörte, hätte ich kein eigenes Leben mehr.
Na, wenigstens würde diese Antoine-Geschichte mich von meiner Grübelei darüber ablenken, was zum Teufel eigentlich mit Eric oder mit dem Reißzahn-Rudel los war. So fand ich mich also nach meiner Schicht mit Sam und Antoine in Sams Büro wieder.
Sam schloss die Tür hinter mir. Er war total wütend. Kein Wunder. Antoine war sauer auf sich selbst, sauer auf mich und defensiv Sam gegenüber. Die Atmosphäre im Zimmer war unerträglich. Wut, Enttäuschung und Angst lagen in der Luft.
»Hör zu, Mann«, begann Antoine, der Sam direkt gegenüberstand. Sam wirkte geradezu klein im Vergleich mit ihm. »Hör einfach zu, okay? Nach Katrina hatte ich nichts mehr, keine Wohnung, keine Arbeit, gar nichts, und war auf der Suche. Aber ich konnte nicht mal so 'nen verdammten Wohnwagen von der Katastrophenhilfe bekommen. Mir gings richtig schlecht ... Also borgte ich mir ein Auto, um nach Texas zu Verwandten zu fahren. Ich wollte es irgendwo stehen lassen, wo die Bullen es schnell finden, damit der Besitzer es bald wiederkriegt. Das war dämlich, ich weiß. Und ich hätte das ganze bleiben lassen sollen, das weiß ich auch. Aber ich war verzweifelt, und da hat's eben bei mir ausgesetzt.«
»Trotzdem bist du nicht im Gefängnis«, stellte Sam fest. Seine Worte gingen auf Antoine nieder wie ein Peitschenhieb, der fast lautlos war, aber dennoch einen schmalen blutigen Striemen hinterließ.
Antoine atmete schwer. »Nein, bin ich nicht, und ich sag dir auch warum. Mein Onkel ist Werwolf, in einem der Rudel in New Orleans. Ich weiß also einiges über sie. Eine FBI-Agentin namens Sarah Weiss kam zu mir ins Gefängnis und unterhielt sich mit mir. Die war ganz okay. Doch nach dem ersten Gespräch kam sie mit diesem Lattesta wieder, Tom Lattesta. Er sagte, er sei in Rhodes stationiert - aber ich hab nicht rausgekriegt, was er dann in New Orleans zu suchen hatte. Jedenfalls sagte er, dass er über meinen Onkel Bescheid wisse und dass er davon ausgehe, dass ihr Wergeschöpfe euch früher oder später auch outen werdet, so wie die Vampire. Er wusste, was du bist und dass es außer Werwölfen auch noch andere gibt. Einer Menge Leuten wird das gar nicht gefallen, meinte er, wenn sie erfahren, dass unter uns welche leben, die halb Tier sind. Und dann beschrieb er mir Sookie und sagte, sie wäre auch irgendwas Seltsames, aber er wüsste nicht was. Dieser Lattesta ist es, der mich hierhergeschickt hat. Ich soll mich umhören und sehen, was so vor sich geht.«
Sam und ich tauschten einen Blick. Ich weiß nicht, was Sam erwartet hatte, aber das war sehr viel ernster, als ich gedacht hatte. Ich hakte noch mal nach. »Tom Lattesta hat die ganze Zeit Bescheid gewusst?«, fragte ich. »Wann kam ihm der Gedanke, dass mit mir irgendetwas nicht stimmt?« Hatte er den schon gehabt, bevor er das Filmmaterial über die Hotelexplosion in Rhodes auswertete, was ihm dann vor ein paar Monaten als Vorwand dafür diente, mich zu befragen?
»Manchmal glaubt er, dass du eine Lügnerin bist, und manchmal, dass du die Wahrheit sagst.«
Ich drehte mich zu meinem Boss um. »Sam, er war neulich bei mir. Lattesta. Er erzählte mir, dass jemand, der mir nahesteht, jener Verwandte« - vor Antoine wollte ich nicht deutlicher werden - »Einfluss genommen hat und er sich zurückziehen muss.«
»Das erklärt, warum er so sauer war«, sagte Antoine, und seine Gesichtszüge verhärteten sich. »Das erklärt eine Menge.«
»Was hat er dir für Anweisungen gegeben?«, fragte Sam.
»Lattesta meinte, er vergisst die Sache mit dem Auto, solange ich ein Auge auf dich hab und auf alle anderen, die mehr als nur einfache Menschen sind und ins Merlotte's kommen. Und er sagte, Sookie sei jetzt außerhalb seiner Reichweite, und darüber war er eben stinksauer.«
Sam sah mich fragend an.
»Er sagt die Wahrheit«, versicherte ich ihm.
»Danke, Sookie.« Antoine wirkte enorm niedergeschlagen.
»Okay«, sagte Sam, nachdem er Antoine noch einen Moment lang angesehen hatte. »Deinen Job hast du noch.«
»Und keine... Bedingungen?« Antoine starrte Sam ungläubig an. »Er erwartet, dass ich euch weiter beobachte.«
»Keine Bedingung, aber eine Warnung. Wenn du ihm auch nur ein Wort mehr erzählst, als dass ich hier den Laden schmeiße, fliegst du raus. Und wenn mir etwas einfällt, was ich dir dann außerdem noch antun könnte, werde ich's tun.«
Antoine schien vor Erleichterung fast in die Knie zu gehen. »Ich tu mein Bestes für dich, Sam«, versicherte er. »Ehrlich, ich bin froh, dass das alles rausgekommen ist. Das hat mir ziemlich zu schaffen gemacht.«
»Es wird Folgen haben«, sagte ich zu Sam, als wir allein waren.
»Ich weiß. Lattesta wird ihn hart rannehmen, und Antoine wird versucht sein, sich etwas auszudenken, um ihm etwas erzählen zu können.«
»Ich halte Antoine für einen guten Kerl, kann aber auch nur hoffen, dass ich mich nicht täusche.« Ich hatte mich früher schon in Leuten getäuscht. Und zwar enorm.
»Ja, ich hoffe auch, dass er unsere Erwartungen nicht enttäuscht.« Sam lächelte mich plötzlich an. Er hat ein großartiges Lächeln, und ich konnte nicht anders, als es zu erwidern. »Manchmal muss man den Leuten einfach vertrauen, ihnen noch eine Chance geben. Und wir werden ihn beide im Auge behalten.«
Ich nickte. »Okay. Ich gehe dann jetzt besser mal nach Hause.« Ich wollte nachsehen, ob ich Nachrichten auf dem Handy hatte oder auf dem Festnetzanschluss, oder ob eine E-Mail gekommen war. Ich wartete sehnlichst darauf, dass sich endlich jemand bei mir meldete.
»Ist eigentlich irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte Sam und strich mir zaghaft über die Schulter. »Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Das ist wirklich lieb«, sagte ich. »Aber ich versuche nur gerade, eine schwierige Situation zu überstehen.«
»Hast du nichts von Eric gehört?«, fragte er, was einmal mehr bewies, wie gut Sams Intuition war.
»Nein«, gab ich zu. »Und er hat ... Besuch von Verwandten. Ich weiß einfach nicht, was zum Teufel da los ist.« Bei dem Wort »Verwandte« fiel mir etwas ein. »Wie läuft's denn in deiner Familie, Sam?«
»Die Scheidung ging im beiderseitigen Einvernehmen durch und ist jetzt amtlich«, erzählte er. »Meine Mom ist zwar ziemlich fertig, aber bald wird's ihr wieder besser gehen, hoffe ich. Auch wenn einige Leute in Wright ihr die kalte Schulter zeigen. Übrigens hat sie Mindy und Craig bei ihrer Verwandlung zusehen lassen.«
»Welches Tier hat sie sich ausgesucht?« Ich wäre lieber ein Gestaltwandler als ein Werwolf, dann hätte ich die Wahl.
»In einen Scottish Terrier, glaube ich. Meine Schwester kommt ganz gut damit zurecht. Aber Mindy war schon immer flexibler als Craig.«
Frauen waren fast immer flexibler als Männer, dachte ich, aber das musste ich ja nicht unbedingt laut aussprechen. Solche Verallgemeinerungen können böse auf einen zurückfallen. »Und hat Deidras Familie sich beruhigt?«
»Seit vorgestern sieht's so aus, als würde die Hochzeit nun doch stattfinden«, sagte Sam. »Ihre Eltern haben endlich begriffen, dass die >Erblast< sich nicht auf Deidra und Craig und ihre Kinder übertragen kann, falls sie welche bekommen.«
»Dann wird die Hochzeit also stattfinden?«
»Ja. Willst du mich immer noch nach Wright begleiten?«
Ich wollte schon erwidern: »Willst du es denn?«, doch das wäre übertrieben kokett gewesen, da er mich ja gerade danach gefragt hatte. »Wenn der Termin feststeht, musst du meinen Boss fragen, ob ich freibekomme«, sagte ich. »Sam, es ist vielleicht etwas taktlos, das zu fragen. Aber warum nimmst du eigentlich nicht Jannalynn mit?«
Erstaunlich, mit einer solchen Verlegenheit hätte ich nie gerechnet bei Sam. »Sie ist... Hm, äh ... Sie ist ... Ach, ich weiß einfach, dass meine Mom und sie nicht miteinander klarkämen. Falls ich sie meiner Familie vorstelle, tue ich es lieber erst, wenn die ganze Aufregung wegen der Hochzeit vorbei ist. Meine Mom haben die Schüsse und die Scheidung ziemlich mitgenommen, und Jannalynn ist ... na ja, nicht gerade eine sanfte Frau.« Meiner Meinung nach war man mit der falschen Person zusammen, wenn man diese Person der eigenen Familie lieber nicht vorstellte. Aber Sam hatte mich nicht nach meiner Meinung gefragt.
»Nein, sanft ist sie eindeutig nicht«, erwiderte ich. »Und da sie jetzt so viel neue Verantwortung trägt, muss sie sich vermutlich ziemlich auf das Rudel konzentrieren.«
»Was? Was für neue Verantwortung?«
Oh, oh. »Das wird sie dir sicher alles noch erzählen«, sagte ich. »Du hast sie vermutlich schon ein paar Tage nicht gesehen, oder?«
»Nein. Sieht ganz so aus, als wären wir beide deprimiert.«
Ich war bereit zuzugeben, dass meine Laune ziemlich düster war, und lächelte ihn an. »Ja, kann man so sagen«, erwiderte ich. »Seit Erics Schöpfer da ist, der auch noch furchterregender als ein Zombie wirkt, bin ich ziemlich auf mich allein gestellt.«
»Falls wir nichts von unseren treulosen Tomaten hören, lass uns doch morgen Abend ausgehen. Wir könnten noch mal im Crawdad Diner essen«, schlug Sam vor. »Oder ich grille uns ein paar Steaks.«
»Klingt gut«, sagte ich und freute mich über sein Angebot. Ich hatte mich schon ganz verloren gefühlt. Jason widmete sich offensichtlich ganz seiner Michele (aber immerhin war er letztens bis spätnachts bei mir geblieben, als ich schon fast erwartet hatte, dass er abhauen würde); Eric war anscheinend beschäftigt; Claude war fast nie zu Hause oder schlief, wenn ich wach war; Tara war völlig damit ausgelastet, schwanger zu sein; und Amelia fand nur gelegentlich die Zeit, mir eine E-Mail zu schicken. Ich hatte nichts dagegen, von Zeit zu Zeit ein wenig allein zu sein - eigentlich genoss ich es sogar -, aber zuletzt war es doch etwas zu viel des Guten gewesen. Das Alleinsein macht jedenfalls sehr viel mehr Spaß, wenn man aus freien Stücken allein ist.
Erleichtert, dass das Gespräch mit Antoine vorbei war, und grübelnd, welche Schwierigkeiten Tom Lattesta mir in Zukunft wohl noch machen würde, zog ich meine Handtasche aus der Kommode in Sams Büro und machte mich auf den Weg nach Hause.
Es war ein wunderschöner Spätnachmittag, als ich hinter meinem Haus parkte. Ich hatte vor, noch ein wenig Gymnastik nach einem Übungsprogramm auf DVD zu machen, ehe ich mich ums Abendessen kümmerte. Claudes Auto war nicht da. Und Jasons Pick-up hatte ich auch nicht gesehen, daher war ich überrascht, ihn auf den Stufen der hinteren Veranda sitzen zu sehen.
»Hey, Bruderherz!«, rief ich, als ich aus dem Auto stieg. »Sag mal, kannst du mir erklären ...« Und dann nahm ich sein Hirnmuster wahr und erkannte, dass der Mann dort auf den Stufen gar nicht Jason war. Ich erstarrte. Und konnte meinen Großonkel, den Halbelfen Dermot nur noch anstarren und hoffen, dass er nicht gekommen war, um mich zu töten.