Kapitel 13
Jason kam pünktlich, und ich stieg zu ihm in den Pick-up. Ich hatte mich umgezogen und trug jetzt Jeans und ein dünnes hellblaues T-Shirt, das ich bei Old Navy gekauft hatte. Vorn drauf stand in goldenen Gothic-Lettern PEACE. Was hoffentlich keiner als indirekte Aufforderung missverstand. Jason in seinem Football-Shirt der New Orleans Saints sah aus, als wäre er zu allem bereit.
»Hey, Sook!« Die Vorfreude strömte ihm aus allen Poren. Klar, er war ja auch noch nie auf einer Versammlung der Werwölfe gewesen und wusste nicht, wie gefährlich es dort werden konnte. Oder vielleicht wusste er es doch und war gerade deshalb so aufgeregt.
»Jason, ich muss dir noch ein paar Dinge über Werwolf-Versammlungen erzählen«, erklärte ich.
»Okay«, erwiderte er, schon ein wenig nüchterner.
Mir war schon klar, dass ich eher wie die allwissende ältere Schwester klang, nicht wie die jüngere, aber ich hielt ihm einen kleinen Vortrag. Ich erzählte Jason, dass Werwölfe reizbar waren und stolz und viel Wert auf Benimmregeln legten. Ich erklärte ihm, wie Werwölfe sich von einem ihrer Mitglieder lossagten. Und ich betonte die Tatsache, dass Basim ein neueres Rudelmitglied gewesen war, das einen sehr verantwortungsvollen Posten erhalten hatte. Dass er dieses Vertrauen missbraucht hatte, würde das Rudel nur noch reizbarer machen, ja vielleicht würden sie Alcides Entscheidung, Basim zu seinem Stellvertreter zu machen, in Frage stellen. Er könnte gar als Leitwolf in Frage gestellt werden. Das Urteil des Rudels über Annabelle vorauszusagen, war nicht möglich. »Sie werden ihr vermutlich irgendetwas ziemlich Schreckliches antun«, warnte ich Jason. »Und wir müssen es hinnehmen und akzeptieren.«
»Du erzählst mir hier, dass sie eine Frau körperlich strafen wollen, weil sie den Leitwolf mit einem anderen führenden Rudelmitglied betrogen hat?«, fragte Jason. »Sookie, du redest mit mir, als wäre ich nicht selbst zweigestaltig. Glaubst du, ich weiß das alles nicht?«
Er hatte recht. Genauso hatte ich ihn behandelt.
Ich holte tief Luft. »Entschuldige, Jason. Für mich bist du einfach mein völlig menschlicher Bruder. Ich denke nicht immer daran, dass du noch viel mehr bist. Und ganz ehrlich, ich habe Angst. Ich habe schon gesehen, wie sie Leute getötet haben. Genauso wie ich zugesehen habe, als deine Panther andere verstümmelten, weil sie das für ein gerechtes Urteil hielten. Was mir Angst macht, ist nicht, dass ihr es tut - das ist schlimm genug -, sondern dass ich es mittlerweile als gerecht akzeptiert habe, dass Wergeschöpfe eben so handeln. Als diese Demonstranten heute vor der Bar standen, war ich vor allem deshalb so wütend auf sie, weil sie die Werwölfe und Gestaltwandler hassen, ohne etwas über sie zu wissen. Doch jetzt frage ich mich, wie sie es finden würden, wenn sie tatsächlich mehr über das Vorgehen in den Rudeln wüssten. Und wie Gran es finden würde, dass ich bereit bin, dabei zuzusehen, wie eine Frau, oder sonst wer, geschlagen oder vielleicht sogar getötet wird für das Übertreten einer Regel, nach der ich selbst nicht lebe.«
Jason schwieg, und es kam mir vor wie eine Ewigkeit. »Ich find's ganz gut, dass ein paar Tage vergangen sind. Da konnte Alcide sich etwas beruhigen. Und die anderen Rudelmitglieder haben in der Zwischenzeit hoffentlich auch mal nachgedacht«, sagte er schließlich.
Ich wusste, dass es dazu eigentlich nicht mehr zu sagen gab; vielleicht hatte ich sogar schon zu viel gesagt. Einen Augenblick verfielen wir wieder in Schweigen.
»Kannst du ihre Gedanken nicht lesen?«, fragte Jason.
»Die Gedanken vollblütiger Werwölfe sind ziemlich schwer zu entziffern. Manche mehr, manche weniger. Natürlich, ich werde mal sehen, was ich mitkriege. Ich kann ja eine Menge abblocken, um mich selbst zu schützen, aber wenn ich diese Schutzbarrieren herunterfahre ...« Ich zuckte die Achseln. »In diesem Fall will ich natürlich so viel wie möglich so schnell wie möglich mitkriegen.«
»Was glaubst du denn, wer hat den Kerl in der Grube vergraben?«
»Darüber habe ich länger nachgedacht«, erwiderte ich langsam. »Ich sehe drei Möglichkeiten. Und der Schlüssel zu allen dreien ist, dass er auf meinem Land vergraben wurde, denn das war vermutlich kein Zufall.«
Jason nickte.
»Okay. Also. Vielleicht hat Victor Madden, der neue Vampir-Repräsentant von Louisiana, Basim getötet. Victor will Eric aus seiner Position drängen, weil Eric Sheriff ist. Das ist ein ziemlich wichtiger Posten.«
Jason sah mich an, als wäre ich nicht ganz dicht. »Ich kenne zwar nicht all ihre tollen Titel und all ihre kleinen Geheimnisse«, sagte er, »aber ich erkenne eine echte Führungsperson, wenn ich sie sehe. Doch wenn du sagst, dieser Victor hat 'nen höheren Rang als Eric und will ihn weg haben, dann glaub ich dir das natürlich.«
Ich musste endlich aufhören, den Scharfsinn meines Bruders zu unterschätzen. »Vielleicht hat Victor geglaubt, dass Eric mit mir untergeht, wenn ich wegen Mordes verhaftet werde - denn irgendwer hat der Polizei ja den Tipp gegeben, dass auf meinem Land eine Leiche vergraben liegt. Vielleicht hat Victor geglaubt, das würde ihrem gemeinsamen König reichen, um Eric seinen Posten zu entziehen.«
»Wär's da nicht besser gewesen, die Leiche in Erics Haus zu deponieren und die Polizei anzurufen?«
»Guter Einwand. Aber eine Leiche in Erics Haus würde schlechte Presse für alle Vampire bedeuten. Eine andere meiner Ideen ist, dass Annabelle die Mörderin sein könnte, weil sie sowohl Basim als auch Alcide gevögelt hat. Vielleicht ist sie eifersüchtig geworden, oder vielleicht hat Basim gedroht, er wird's Alcide sagen. Also hat sie ihn ermordet. Und da die Werwölfe gerade erst auf meinem Land gewesen waren und nicht so schnell wiederkommen würden, fand sie's praktisch, die Leiche dort zu vergraben.«
»Das ist aber ein ziemlicher weiter Weg, den man mit einer Leiche im Kofferraum fahren muss«, wandte Jason ein. Er wollte anscheinend den Advocatus Diaboli spielen.
»Klar, nichts einfacher, als all meine Ideen zum Einsturz zu bringen. Warum mach ich mir eigentlich die Mühe, sie hier auszubreiten!«, sagte ich und klang jetzt ganz wie seine kleine Schwester. »Aber du hast recht. Das ist ein Risiko, das ich auch nicht auf mich nehmen würde«, fügte ich als etwas reifere Person hinzu.
»Könnte auch Alcide gewesen sein«, schlug Jason vor.
»Ja, vielleicht. Aber du warst ja dabei, als wir die Leiche ausgegraben haben. Hattest du - auch nur vage - den Eindruck, er wusste, dass es Basim sein wird?«
»Nein«, sagte er. »Ich fand, er war echt schockiert. Aber ich hab Annabelle nicht im Blick gehabt.«
»Ich auch nicht. Keine Ahnung, wie sie reagiert hat.«
»Und hast du noch eine Idee?«
»Ja. Aber die gefällt mir am allerwenigsten. Weißt du noch, dass ich dir von Heidi erzählt habe, der Vampirin, die im Wald Elfen gerochen hat?«
»Das hab ich auch«, erwiderte Jason.
»Vielleicht sollte ich meinen Wald regelmäßig von dir absuchen lassen«, meinte ich. »Jedenfalls, Claude sagte, er war's nicht, und Heidi hat das bestätigt. Aber was, wenn Basim gesehen hat, wie Claude sich mit einem anderen Elfen trifft? In der Gegend rund ums Haus, wo Claudes Geruch sowieso vorhanden ist.«
»Wann hätte das denn sein sollen?«
»In der Nacht, als das Werwolfrudel auf meinem Land war. Zu der Zeit war Claude noch nicht eingezogen, aber er kam bei mir vorbei, um mich zu besuchen.«
Ich konnte quasi sehen, wie Jason versuchte, das alles zu verstehen. »Basim hat dich also gewarnt, dass er Elfen gerochen hat. Aber er hat nicht gesagt, dass er welche gesehen hat, oder? Ich glaub, das passt alles nicht zusammen, Sook.«
»Du hast recht«, gab ich zu. »Und wir wissen immer noch nicht, wer dieser andere Elf sein soll. Wenn es zwei sind, und der eine ist nicht Claude, der andere aber Dermot ...«
»Bleibt ein Elf, den wir noch nicht kennen.«
»Dermot ist richtig durchgeknallt, Jason.«
»Die bereiten mir alle Kopfschmerzen«, sagte Jason.
»Sogar Claude?«
»Na ja, wieso taucht der plötzlich bei dir auf? Gerade dann, wenn du andere Elfen im Wald hast. Das klingt doch total verrückt, wenn man's laut ausspricht, oder?«
Ich lachte. Nur ein wenig. »Ja, ziemlich irre. Und ich verstehe, was du meinst. Ich traue Claude auch nicht voll und ganz, selbst wenn er irgendwie zur Familie gehört. Hätte ich mich bloß nicht darauf eingelassen, dass er bei mir einzieht. Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, dass er mir oder dir etwas antun will. Und er ist nicht ganz so ein Arschloch, wie ich dachte.«
Wir versuchten, noch ein paar weitere Theorien über Basims Tod aufzustellen, doch sie waren alle zu löchrig. Aber so verging wenigstens die Zeit, während wir nach Shreveport fuhren.
Alcide war nach dem Tod seines Vaters in ein imposantes zweistöckiges Backsteingebäude eingezogen, das auf einem großen, von beeindruckender Landschaftsarchitektur veredelten Grundstück stand. Das - Anwesen? Herrenhaus? - lag natürlich in einer sehr schönen Gegend von Shreveport. Und gar nicht so weit entfernt von Erics Haus. Es nagte an mir, Eric in meiner Nähe zu wissen, und in solchen Schwierigkeiten.
Die Verwirrung, die ich über unsere Blutsbande empfand, machte mich mit jeder Nacht nervöser. So viele Leute hatten inzwischen Anteil an dieser Verbindung, so viele Gefühle fluteten hin und her. Es machte mich emotional ganz fertig. Alexej war der Schlimmste. Er war ein sehr toter kleiner Junge, anders konnte ich es nicht ausdrücken: ein Kind, das in einem anhaltenden Grau gefangen war, ein Kind, das nur gelegentlich Freude und Farbe in seinem neuen »Leben« fand. Nachdem ich ihn nächtelang wie ein Echo in meinem Kopf hatte ertragen müssen, war mir klar, dass der Junge Appius Livius und Eric wie eine Zecke das Leben aussaugte. Und jetzt auch mir. Jede Nacht schöpfte er ein bisschen ab.
Appius Livius war offenbar schon so daran gewöhnt, dass Alexej ihn aussaugte, dass er es als Teil seiner Existenz akzeptierte. Vielleicht - möglicherweise - fühlte der Römer sich verantwortlich für die Schwierigkeiten, die Alexej verursachte. Immerhin hatte er ihn ja herübergeholt. Alexej zu Eric zu bringen, war wohl ein letzter verzweifelter Versuch, den Jungen zu heilen, in der Hoffnung, die Gegenwart eines anderen »Kindes« könnte Alexejs Wahnanfälle lindern. Und Eric, mein Liebhaber, steckte mittendrin in all dem, ganz zu schweigen von den Problemen mit Victor, die er zurzeit weit wegschob.
Mit jeder Nacht, die verging, fühlte ich mich weniger wie ein guter Mensch. Und als wir von der Auffahrt zu Alcides Haustür gingen, gestand ich mir ein, dass ich seit meinem Besuch im Fangtasia eigentlich nur einen Wunsch hatte - dass sie alle sterben mögen: Appius Livius, Alexej, Victor.
Doch all das musste ich jetzt erst mal beiseiteschieben, weil ich geistig besser hellwach war, wenn ich gleich ein Haus voller Werwölfe betrat. Jason legte mir einen Arm um die Schultern und drückte mich leicht. »Irgendwann musst du mir noch mal erklären, warum wir das alles machen«, sagte er. »Denn irgendwie hab ich das wohl vergessen.«
Ich lachte, und genau das hatte er bezweckt. Mein Finger lag schon fast auf dem Klingelknopf, doch die Tür ging auf, ehe ich ihn berührt hatte. Vor uns stand Jannalynn, in einem Sport-BH und Shorts. (Ihre Kleiderwahl verblüffte mich jedes Mal aufs Neue.) Die Joggingshorts ließen leicht konkave Kurven um die Hüfte herum erkennen, und ich seufzte. »Konkav« war ein Wort, das ich zur Beschreibung meines Körpers noch nie gebraucht hatte.
»Na, schon an den neuen Job gewöhnt?«, fragte Jason und trat einen Schritt vor. Jannalynn konnte nur zurückweichen oder sich ihm in den Weg stellen. Sie entschied sich fürs Zurückweichen.
»Ich wurde für diesen Job geboren«, entgegnete die junge Werwölfin.
Dem konnte ich nur zustimmen. Jannalynn schien äußerst gern hier und da ein klein wenig Gewalt auszuüben. Ich fragte mich bloß, welchen Beruf sie im richtigen Leben wohl haben mochte. Sie hatte als Barkeeperin in einer Shreveporter Werwolf-Bar gearbeitet, als ich sie zum ersten Mal sah. In einer Bar, deren Besitzerin in den Kämpfen zwischen den Rudeln gestorben war. »Wo arbeiten Sie jetzt eigentlich, Jannalynn?«, fragte ich daher.
Es gab doch sicher keinen Grund, daraus ein Geheimnis zu machen.
»Ich bin die neue Managerin des Hair of the Dog. Die Bar gehört jetzt Alcide, und er fand, dass ich geeignet bin für den Job. Aber ich bekomme auch Unterstützung«, fügte sie hinzu, was mich sehr überraschte.
Am anderen Ende der Eingangshalle, gleich bei der Tür zum Salon, stand Ham mit einer hübschen Brünetten in einem Sommerkleid im Arm. Als wir zu ihnen kamen, klopfte er mir auf die Schulter und stellte seine Begleiterin als Patricia Crimmins vor. Sie war eine der Frauen, die sich dem Reißzahn-Rudel nach dem Werwolfkrieg unterworfen hatten. Ich versuchte, sie mir genauer anzusehen, doch mein Blick schweifte immer wieder ab. Patricia lachte und sagte: »Was für ein Haus, nicht?«
Ich nickte schweigend. Ich war noch nie hier gewesen, und mein Blick wurde von den französischen Fenstern am anderen Ende des großen Salons magisch angezogen. Draußen brannten Lichter in dem weitläufigen Garten, der nicht nur von einem etwa zwei Meter hohen Zaun begrenzt wurde, sondern auch von einer dieser wuchernden Zypressenhecken, die schneller wuchsen, als man sie schneiden konnte. In der Mitte der großzügigen Terrasse stand ein Brunnen, aus dem man in Wolfsgestalt rasch mal einen Schluck trinken konnte. Ansonsten standen jede Menge gusseiserne Gartenmöbel auf den Steinplatten herum. Wow. Ich hatte ja gewusst, dass die Herveaux vermögend waren, aber das hier war echt beeindruckend.
Der Salon selbst war im Stil eines Herren-Clubs gehalten, überall glänzendes dunkles Leder und Vertäfelung, und der Kamin war so groß, wie ein Kamin heutzutage nur sein konnte. Tierköpfe hingen an den Wänden, was ich irgendwie komisch fand. Jeder schien einen Drink in der Hand zu haben, und richtig, dahinten war auch eine Bar, inmitten der größten Traube von Werwölfen. Alcide konnte ich nirgends entdecken, obwohl er aufgrund seiner Größe und Präsenz eigentlich in jeder Menge sofort auffiel.
Aber ich sah Annabelle. Sie kniete in der Mitte des Salons, war aber nicht gefesselt worden. Die Werwölfe hatten einen Kreis um sie gebildet, blieben aber auf Abstand.
»Nicht hingehen«, sagte Ham leise, als ich einen Schritt vorwärts machen wollte, und ich blieb stehen.
»Sie können später mit ihr sprechen, vielleicht«, flüsterte Patricia. Es war dieses »Vielleicht«, das mich beunruhigte. Aber hier ging es um Rudelangelegenheiten, und ich befand mich auf Rudelterritorium.
»Ich hol mir mal ein Bier«, sagte Jason, nachdem auch er einen Blick auf Annabelle geworfen hatte. »Was willst du trinken, Sook?«
»Sie müssen raufgehen«, warf Jannalynn sehr leise ein. »Trinken Sie hier unten nichts. Alcide hat einen Drink für Sie.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die Treppe zu meiner Linken. Ich runzelte die Stirn, und Jason sah aus, als würde er gleich protestieren. Doch sie nickte noch einmal in dieselbe Richtung.
Ich ging nach oben und fand Alcide in einem Arbeitszimmer in der Nähe der Treppe. Er sah aus dem Fenster. Ein Glas mit einer milchig-gelben Flüssigkeit stand auf dem Tisch.
»Was ist?«, sagte ich nur. Meine bösen Vorahnungen diesen Abend betreffend wurden nur noch schlimmer, als sie ohnehin schon waren.
Er drehte sich zu mir um. Sein schwarzes Haar war noch immer eine wilde Mähne, und er hätte eine Rasur vertragen können. Aber mit Körperpflege hatte das Charisma, das ihn umhüllte wie ein Kokon, sowieso nichts zu tun. Ich wusste nicht, ob die Position den Mann verändert hatte oder der Mann in die Position hineingewachsen war. Doch Alcide hatte sich weit von dem charmanten, freundlichen Typen entfernt, den ich vor zwei Jahren kennengelernt hatte.
»Wir haben keinen Schamanen mehr«, sagte er ohne weitere Vorrede. »Schon seit vier Jahren nicht. Es ist schwierig, einen Werwolf zu finden, der bereit ist, diese Position zu übernehmen. Und man muss ein Talent dafür mitbringen, um es überhaupt in Erwägung zu ziehen.«
»Okay«, erwiderte ich nur und wartete ab, wohin das führen würde.
»Du bist noch die Geeignetste, die wir haben.«
Hätten im Hintergrund Trommeln gespielt, wären sie jetzt zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen angeschwollen. »Ich bin kein Schamane«, sagte ich. »Ich weiß im Grunde nicht mal, was ein Schamane ist. Und du hast mich nicht.«
»Es ist unsere Bezeichnung für eine Art Medizinmann«, erklärte Alcide. »Jemand mit einem Talent für Magie, der sie verstehen und anwenden kann. Wir fanden, es klingt besser als >Hexer<. Und so wissen wir wenigstens immer, von wem wir sprechen. Wenn wir einen Rudelschamanen hätten, würde er das Zeug in dem Glas dort trinken und uns so helfen, die Wahrheit über Basims Tod herauszufinden und auch wie viel Schuld jeder Beteiligte auf sich geladen hat. Danach würde das Rudel die angemessenen Strafen festlegen.«
»Und was ist das?« Ich zeigte auf die Flüssigkeit.
»Ein Überbleibsel aus dem Vorrat unseres letzten Schamanen.«
»Was ist das?«
»Eine Droge«, sagte Alcide. »Aber bevor du hier gleich rausmarschierst, lass mich dir sagen, dass der letzte Schamane es mehrmals ohne bleibende Schäden nahm.«
»Ohne bleibende Schäden?«
»Nun, er hatte Bauchkrämpfe am nächsten Tag. Aber am Tag darauf konnte er schon wieder zur Arbeit gehen.«
»Natürlich, er war ja auch ein Werwolf und in der Lage, Dinge zu essen, die ich nicht essen kann. Was macht es mit einem? Oder besser, was würde es mit mir machen?«
»Es verändert die Wahrnehmung der Realität. Das hat mir der letzte Schamane jedenfalls erzählt. Und da ich ganz eindeutig kein Talent zum Schamanen besitze, ist das alles, was er mir erzählt hat.«
»Warum sollte ich eine unbekannte Droge nehmen?«, fragte ich ehrlich neugierig.
»Weil wir dieser Sache sonst nie auf den Grund kommen«, antwortete Alcide. »Im Augenblick ist Annabelle die einzige Schuldige, die ich ausmachen kann. Aber vielleicht besteht ihre Schuld nur darin, mir untreu gewesen zu sein. Das ist schlimm genug, aber dafür hat sie nicht den Tod verdient. Doch wenn ich nicht herausfinde, wer Basim ermordet und auf deinem Land vergraben hat, könnte das Rudel sie trotzdem dazu verurteilen, weil sie die Einzige ist, die mit ihm zu tun hatte. Vermutlich wäre ich auch ein guter Verdächtiger, ich hätte Basim aus Eifersucht ermorden können. Aber das hätte ich nach Rudelregeln ganz legal tun können, und ich hätte dich da nicht mit hineingezogen.«
Das war die Wahrheit, das wusste ich.
»Sie werden sie zum Tode verurteilen«, sagte er. Er ritt ganz schön auf dem Argument herum, das die größte Wirkung auf mich haben würde.
Ich war beinahe stark genug, die Achseln zu zucken. Beinahe.
»Kann ich es nicht auf meine Weise versuchen?«, fragte ich. »Indem ich sie mit den Händen berühre?«
»Du hast mir selbst erzählt, wie schwierig es ist, die Gedanken eines Werwolfs klar zu erkennen.« Alcide klang fast traurig, als er das sagte. »Sookie, ich hatte gehofft, wir würden eines Tages ein Paar werden. Aber jetzt bin ich Leitwolf, und du bist mit diesem Arschloch Eric zusammen, und daraus wird vermutlich nie mehr etwas werden. Ich dachte, wir hätten eine Chance, weil du meine Gedanken nicht allzu klar lesen kannst. Doch weil ich das weiß, kann ich mich leider nicht darauf verlassen, dass das Ergebnis stimmt, wenn du es auf deine Weise machst.«
Er hatte recht.
»Noch vor einem Jahr«, sagte ich, »hättest du mich nicht darum gebeten.«
»Noch vor einem Jahr«, sagte er, »hättest du nicht gezögert, das Glas auszutrinken.«
Ich ging zum Tisch hinüber und stürzte es hinunter.