Kapitel 5

Am Freitagmorgen klingelte das Telefon, als ich unter der Dusche stand. Weil ich einen Anrufbeantworter besaß, ließ ich es klingeln. Doch als ich mit geschlossenen Augen nach einem Handtuch tastete, wurde es mir plötzlich in die Hand gedrückt. Nach Luft schnappend öffnete ich die Augen und sah Claude im Adamskostüm vor mir stehen.

»Ist für dich«, meinte er bloß, gab mir das schnurlose Telefon aus der Küche und ging wieder.

Ohne nachzudenken, hielt ich es ans Ohr. »Hallo?«, sagte ich mit dünner Stimme. Ich wusste nicht, worüber ich zuerst nachdenken sollte: darüber, dass ich Claude nackt gesehen hatte, dass Claude mich nackt gesehen hatte oder gleich darüber, dass wir miteinander verwandt waren und nackt im selben Raum gestanden hatten.

»Sookie? Sie klingen so komisch«, sagte eine mir entfernt bekannt vorkommende männliche Stimme.

»Oh, ich war nur gerade etwas überrascht«, erwiderte ich. »Tut mir leid ... Wer ist denn da?«

Er lachte, und es klang herzlich und freundlich. »Hier ist Remy Savoy, der Vater von Hunter.«

Remy war mit meiner vor einiger Zeit verstorbenen Cousine Hadley verheiratet gewesen. Und ihren Sohn Hunter und mich verband eine Gemeinsamkeit, die wir uns mal genauer ansehen mussten. Ich hatte Remy anrufen wollen, um mich mit Hunter mal zum Spielen zu treffen, und machte mir jetzt Vorwürfe, dass ich es solange aufgeschoben hatte. »Ich hoffe, Sie rufen an, um mir zu sagen, dass ich Hunter an diesem Wochenende sehen kann?«, sagte ich. »Ich muss zwar ab Sonntagnachmittag wieder arbeiten, aber Samstag habe ich frei. Also morgen.«

»Das ist ja toll! Ich wollte fragen, ob ich ihn heute Abend vorbeibringen und er eventuell über Nacht bleiben könnte.«

Das war ganz schön lange, wenn man bedenkt, dass ich den Kleinen kaum kannte, oder wichtiger noch, dass der Kleine mich kaum kannte. »Haben Sie irgendetwas Besonderes vor, Remy?«

»Ja. Die Schwester meines Vaters ist gestern gestorben, sie haben die Beerdigung auf morgen Vormittag um zehn angesetzt. Aber die Aufbahrung ist schon heute Abend. Und ich will Hunter nicht zu einer Aufbahrung und Beerdigung mitnehmen... vor allem nicht, nun, Sie wissen schon, bei seinem ... Problem. Das könnte ganz schön schwierig werden für ihn. Sie wissen ja, wie's ist... Ich kann nie sicher sein, was er sagen wird.«

»Verstehe.« Und das tat ich wirklich. Es kann ziemlich anstrengend sein, ein gedankenlesendes Vorschulkind um sich zu haben. Meine Eltern hätten Remys Notlage nur zu gut verstanden. »Wie alt ist Hunter inzwischen?«

»Fünf, er hatte gerade Geburtstag. Ich hatte mir eine Menge Sorgen gemacht wegen der Feier, aber das haben wir ganz gut überstanden.«

Ich holte einmal tief Luft. Schließlich hatte ich Remy versprochen, dass ich bei Hunters Schwierigkeiten helfen würde. »Okay, er kann bei mir übernachten.«

»Danke. Vielen, vielen Dank. Ich bringe ihn heute Abend nach der Arbeit vorbei. Ist das okay? Dann sind wir so ungefähr um halb sechs bei Ihnen.«

Ich würde zwischen fünf und sechs aus der Arbeit kommen, je nachdem, wie pünktlich meine Ablösung auftauchte und wie voll meine Tische waren. Ich gab Remy meine Handynummer. »Wenn ich noch nicht zu Hause bin, rufen Sie mich auf dem Handy an. Ich werde versuchen, so schnell wie möglich hier zu sein. Was isst er denn gerne?«

Ein paar Minuten unterhielten wir uns noch über Hunters Gewohnheiten, dann legte ich auf. Mittlerweile war mein Körper trocken, nur mein Haar hing mir noch in feuchten Strähnen vom Kopf. Nach kurzem Föhnen war auch das erledigt, und ich machte mich auf den Weg, um mit Claude zu reden, natürlich erst, nachdem ich sicher in meiner Arbeitskleidung steckte.

»Claude!«, rief ich am Fuß der Treppe.

»Ja?« Er klang völlig gelassen.

»Komm mal herunter!«

Er erschien am oberen Treppenabsatz, mit einer Haarbürste in der Hand. »Ja, Cousine?«

»Claude, der Anrufbeantworter springt an, wenn ich nicht ans Telefon gehe. Komm bitte nicht einfach in mein Zimmer, ohne vorher anzuklopfen, und vor allem nicht in mein Badezimmer!« Von jetzt an würde ich auf jeden Fall abschließen. Ich glaube, das hatte ich überhaupt noch nie getan.

»Bist du prüde?« Er schien die Frage ernst zu meinen.

»Nein!« Doch nach einem Augenblick fügte ich hinzu: »Im Vergleich zu dir vielleicht schon! Mir ist Privatsphäre wichtig. Ich entscheide selbst, wer mich nackt zu sehen bekommt. Das ist der springende Punkt, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ja. Objektiv betrachtet hast du wunderschöne springende Punkte.«

Ich dachte, mir sprengt es gleich die Schädeldecke. »Mit so was habe ich nicht gerechnet, als ich sagte, du könntest hier wohnen. Du stehst doch auf Männer.«

»Oh, ja. Ich bevorzuge eindeutig Männer. Aber ich erkenne Schönheit, wenn ich sie sehe. Und ich war auch schon mal am anderen Ufer.«

»Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich dich hier wahrscheinlich nicht einziehen lassen.«

Claude zuckte die Achseln, als wollte er sagen: »War's dann nicht klug von mir, es dir zu verheimlichen?«

»Hör zu«, begann ich, hielt aber gleich wieder inne, weil ich völlig durcheinander war. Wie auch immer die Umstände sein mochten - Claude nackt zu sehen... nun, da hätte auch keine andere Frau zuerst mit Wut reagiert. »Ich werde dir jetzt mal ein paar Dinge sagen, und ich will, dass du das ernst nimmst.«

Er wartete, mit der Büste in der Hand und einfach nur höflich aufmerksam.

»Erstens. Ich habe einen Freund, und er ist Vampir, und ich habe kein Interesse daran, ihn zu betrügen, was auch bedeutet, dass ich keine anderen Männer nackt sehen will... in meinem Badezimmer«, fügte ich hastig hinzu, da mir so einige Zweier einfielen, die ich durchaus schon nackt gesehen hatte. »Falls du das nicht respektierst, muss du wieder ausziehen, und wenn du auf dem Weg nach Hause noch sosehr heulst. Zweitens. Ich bekomme heute Abend Besuch, von einem kleinen Jungen, auf den ich aufpassen soll, und ihm gegenüber verhältst du dich besser anständig. Verstehst du, was ich dir hier zu sagen versuche?«

»Nicht nackt rumlaufen, nett sein zu Menschenkindern.«

»Richtig.«

»Ist der Junge dein Kind?«

»Wenn es so wäre, würde ich ihn auch großziehen, darauf kannst du wetten. Er ist der Sohn meiner Cousine Hadley, der Tochter meiner Tante Linda. Hadley war die, äh, Geliebte von Sophie-Anne. Du weißt schon, die einstige Vampirkönigin. Und irgendwann wurde Hadley selbst zur Vampirin. Hunter, den kleinen Jungen, bekam sie, bevor all das geschah. Sein Vater bringt ihn vorbei.« War Claude nicht auch mit Hadley verwandt? Ja, natürlich, und folglich mit Hunter. Ich wies ihn darauf hin.

»Ich mag Kinder«, erzählte Claude mir. »Und werde mich benehmen. Und es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.« Er machte immerhin den Versuch, zerknirscht zu klingen.

»Komisch, du siehst gar nicht aus, als ob's dir leidtäte. Überhaupt nicht.«

»Es weint tief in mir drin«, erwiderte er mit einem frechen Grinsen.

»Um Himmels willen«, stöhnte ich und ließ ihn stehen, um mich im Badezimmer allein und unbeobachtet ausgehfertig zu machen.

Als ich ins Merlotte's kam und zu arbeiten begann, hatte ich mich wieder beruhigt. Schließlich hat Claude, dachte ich, in seiner langen Lebenszeit vermutlich schon Unmengen Nackter gesehen. Für die meisten Supras war Nacktheit sowieso keine große Sache. Und auch die Tatsache, dass Claude und ich entfernt miteinander verwandt waren - mein Urgroßvater war sein Großvater -, würde für ihn keinen Unterschied machen; eigentlich für die meisten Supras nicht. Also, sagte ich zu mir selbst, alles keine große Sache.

Als eine Zeit lang nicht so viel zu tun war, rief ich Eric auf dem Handy an und hinterließ ihm die Nachricht, dass ich heute Abend ein Kind babysitten würde. »Falls du vorbeikommen kannst, prima. Ich wollte dir nur vorher Bescheid geben, dass noch jemand da sein wird«, sprach ich auf seine Mailbox. Tja, Hunter würde einen ziemlich passablen Anstandswauwau abgeben. Dann fiel mir mein neuer Untermieter im ersten Stock ein. »Und irgendwie habe ich letztens vergessen, dir noch was zu erzählen. Vermutlich wird's dir nicht besonders gefallen... Ach, ich vermiss dich.« Ein Pfeifton ertönte. Meine Sprechzeit war um. Na gut... auch okay. Wer weiß, was ich sonst als Nächstes gesagt hätte.

Heute Abend sollte auch die Fährtenleserin Heidi nach Bon Temps kommen. Es schien schon fast ein Jahr her zu sein, seit Eric beschlossen hatte, sie zu mir zu schicken und mein Land überprüfen zu lassen. Jetzt beunruhigte es mich ein wenig, wenn ich daran dachte. Würde Remy immer noch glauben, eine Beerdigung sei nichts für Hunter, wenn er wüsste, wer bei mir zu Hause sonst noch so aufkreuzte? Verhielt ich mich unverantwortlich? Brachte ich den Jungen in Gefahr?

Nein, so zu denken war doch paranoid. Heidi würde nur durch meinen Wald streifen.

Als ich mit der Arbeit fertig war und bereit, das Merlotte's zu verlassen, hatte ich meine übertriebenen Sorgen überwunden. Kennedy war gekommen, um wieder für Sam einzuspringen, weil er mit der jungen Werwölfin Jannalynn nach Shreveport zum Abendessen und danach ins Casino gehen wollte. Ich hoffte, dass sie gut zu Sam war, denn das hatte er wirklich verdient.

Kennedy drehte und wendete sich vor dem Spiegel hinter der Bar und versuchte wieder mal festzustellen, ob sie abgenommen hatte. Ich sah auf meine eigenen Oberschenkel hinunter. Jannalynn war so richtig schlank, ja, man konnte sie eigentlich sogar dürr nennen. Zwar hatte Gott es in Sachen Oberweite sehr gut mit mir gemeint, doch Jannalynn war stolze Besitzerin von hübschen kleinen, aprikosenartigen Brüsten, die sie ohne BH in Bustiers und ärmellosen Tops spazieren führen konnte. Und sie verlieh sich eine gewisse Haltung (und Größe), indem sie tolle Schuhe trug. Ich hatte Sneakers an. Tja.

»Einen schönen Abend!«, rief Kennedy mir strahlend zu, und ich richtete mich gerade auf, lächelte und deutete mit den Fingern zum Abschied ein Winken an. Die meisten Leute hielten Kennedys freundliches Lächeln und gute Manieren für aufgesetzt. Doch ich wusste, dass sie es völlig ernst meinte. Kennedy war von ihrer Schönheitsköniginnen-Mutter dazu angehalten worden, stets ein Lächeln im Gesicht und ein nettes Wort auf den Lippen zu haben. Das musste man ihr lassen. Und auch Danny Prideaux brachte Kennedy überhaupt nicht aus der Fassung, dabei machte er meiner Meinung nach die meisten Frauen ziemlich nervös. Danny, der dazu erzogen worden war, nur das Schlechteste von der Welt zu erwarten und daher besser gleich als Erster zum Schlag auszuholen, hob einen Finger und schloss sich Kennedys Abschiedsgruß an. Vor ihm stand eine Coke, im Dienst trank Danny nicht. Ihm schien es stets genug zu sein, auf seinem Nintendo »Mario Kart« zu spielen oder einfach am Tresen zu sitzen und Kennedy beim Arbeiten zuzusehen.

Eine Menge Männer hätte es ziemlich nervös gemacht, mit Kennedy zusammenzuarbeiten, weil sie wegen Totschlags gesessen hatte. Eine Menge Frauen übrigens auch. Aber ich hatte kein Problem mit ihr. Ich war froh, dass Sam sich für sie starkgemacht hatte. Was nicht heißen soll, dass ich Mord gut finde - aber manche Leute betteln doch geradezu darum, dass man sie umbringt, oder? Nach allem, was ich durchgemacht hatte, war ich gezwungen, mir einfach mal einzugestehen, dass ich es genauso empfand.

Ich war kaum fünf Minuten zu Hause, da kamen auch schon Remy und Hunter. Mir blieb gerade noch Zeit genug, meine Arbeitskleidung auszuziehen, sie in den Wäschekorb zu werfen und ein T-Shirt und Shorts überzustreifen, bevor Remy an die Haustür klopfte.

Ich sah zuerst durch den Spion, ehe ich die Tür öffnete. Lieber auf Nummer sicher gehen, das war jedenfalls mein Motto.

»Hey Remy!«, rief ich. Er war Anfang dreißig, ein auf dezente Weise gut aussehender Mann mit dickem hellbraunem Haar, und er war gekleidet, wie es sich für einen Besuch in einem Beerdigungsinstitut gehörte: Stoffhosen, ein feines weiß-braun gestreiftes Hemd, glänzende Halbschuhe. In dem Flanellhemd und den Jeans, in denen ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er entspannter gewirkt. Ich sah zu seinem Sohn hinunter. Hunter war gewachsen, seit wir uns zuletzt begegnet waren. Er hatte dunkle Haare und Augen, genau wie seine Mutter Hadley, aber es war noch zu früh, um zu sagen, wem er als Erwachsener mal ähnlich sehen würde.

Ich ging in die Hocke, um ihn zu begrüßen. Hi, Hunter. Ich sprach es nicht laut aus, aber ich lächelte ihn an.

Er hatte es schon fast vergessen gehabt. Sein Gesicht hellte sich auf. Tante Sookie!, rief er. Freude breitete sich in seinen Gedanken aus, Freude und Aufregung. »Ich hab einen neuen Kipplaster«, sagte er laut, und ich lachte.

»Zeigst du mir den mal? Kommt herein, ihr beiden, und setzt euch erst mal.«

»Danke, Sookie«, sagte Remy.

»Seh ich aus wie meine Mom, Dad?«, fragte Hunter.

»Warum?«, fragte Remy zurück.

»Das sagt Tante Sookie.«

Remy war inzwischen an kleine Schocks wie diesen gewöhnt, und er wusste, es würde noch viel schlimmer werden. »Ja, du siehst aus wie deine Mom, und sie war sehr hübsch«, erzählte Remy ihm. »Du hast wirklich Glück, mein Sohn.«

»Ich will nicht aussehen wie ein Mädchen«, sagte Hunter zweifelnd.

Tust du nicht. »Kein bisschen«, versicherte ich ihm. »Sieh mal, Hunter, dein Zimmer ist gleich hier.« Ich zeigte auf die offene Tür. »In dem Zimmer habe ich geschlafen, als ich noch ein Kind war.«

Aufmerksam und etwas vorsichtig sah Hunter sich um. Aber das niedrige Bett mit dem weißen Überwurf, die alten Möbel und der abgetretene Teppich vor dem Bett wirkten gemütlich und nicht bedrohlich. »Und wo schläfst du jetzt?«, fragte er.

»Gleich dort gegenüber«, erklärte ich ihm und öffnete die Tür zu meinem Schlafzimmer. »Wenn du nach mir rufst, komme ich sofort zu dir. Oder du kannst auch zu mir ins Bett kommen, wenn du dich nachts mal fürchtest.«

Remy stand da und beobachtete, wie sein Sohn das alles aufnahm. Ich wusste nicht, wie oft der kleine Junge schon ohne seinen Vater übernachtet hatte. Den Gedanken nach, die ich von Hunter auffing, nicht allzu oft.

»Und das Badezimmer ist gleich die nächste Tür neben deinem Zimmer, siehst du?« Ich öffnete sie. Ihm blieb der Mund offen stehen, als er in das altmodische Badezimmer hineinsah.

»Ich weiß, es sieht ein bisschen anders aus als das bei dir zu Hause«, beantwortete ich seine Gedanken. »Dies ist ein altes Haus, Hunter.« Eine Badewanne mit Klauenfüßen und schwarz-weiße Fliesen sah man heutzutage nicht mehr in den gemieteten Häusern und Wohnungen, in denen Remy und Hunter nach Katrina gewohnt hatten.

»Und was ist oben?«, fragte Hunter.

»Nun, dort oben wohnt ein Cousin von mir. Aber der ist im Moment nicht zu Hause, und er kommt erst so spät abends zurück, dass du ihn vielleicht gar nicht sehen wirst. Er heißt Claude.«

Darf ich raufgehen und gucken?

Vielleicht gehen wir morgen mal zusammen hinauf. Dann zeige ich dir die Zimmer, in die du hineingehen darfst, und die Zimmer, die Claude benutzt.

Als ich aufblickte, bemerkte ich, dass Remy von Hunter zu mir sah und nicht recht wusste, ob er nun erleichtert oder beunruhigt darüber sein sollte, dass ich mit seinem Sohn auf eine Weise reden konnte, die ihm unmöglich war.

»Remy, es ist okay«, sagte ich. »Ich bin auch erwachsen geworden, und mit der Zeit wurde es leichter. Anfangs ist es schwierig, aber Hunter ist doch ein kluger Junge mit einem gesunden Körper. Sein kleines Problem macht ihn nur nicht... ganz so eindimensional wie andere Kinder.«

»So betrachtet klingt es ganz gut.« Doch Remy war nach wie vor besorgt.

»Möchten Sie etwas trinken?« Ich wusste nicht so recht, was ich mit Remy jetzt anfangen sollte. Hunter hatte mich stumm gefragt, ob er seine Taschen auspacken dürfe, und ich hatte es ihm - auf dieselbe Weise - erlaubt. Einen kleinen Rucksack voller Spielsachen hatte er inzwischen schon auf dem Boden seines Zimmer ausgekippt.

»Nein, danke. Ich muss weiter.«

Es war mir unangenehm, dass ich Remy auf dieselbe Weise erschreckt hatte wie sein Sohn andere Leute. Remy mochte ja vielleicht meine Hilfe brauchen, und ich konnte in seinen Gedanken auch lesen, dass er mich für eine ziemlich hübsche Frau hielt. Doch genauso konnte ich dort lesen, dass ich ihm unheimlich war.

»Ist die Aufbahrung in Red Ditch?« Das war die Stadt, in der Remy und Hunter wohnten. Sie lag etwa eineinviertel Autostunden entfernt südöstlich von Bon Temps.

»Nein, in Homer. Ihr Haus liegt also fast auf dem Weg. Wenn es irgendwelche Probleme geben sollte, rufen Sie mich auf dem Handy an, dann hole ich ihn auf dem Weg nach Hause ab. Sonst bleibe ich über Nacht in Homer, geh morgen früh um zehn auf die Beerdigung, bleib danach noch zum Lunch im Haus meiner Cousine und hole Hunter dann am Nachmittag ab, wenn Ihnen das passt.«

»Wir kommen schon zurecht«, erwiderte ich, was allerdings die reine Angeberei war. Ich hatte mich nicht mehr um Kinder gekümmert, seit ich damals auf die Kleinen von Arlene aufgepasst hatte. Doch über sie wollte ich nicht nachdenken. Freundschaften, die bitter enden, sind immer traurig. Ihre Kinder hassten mich inzwischen vermutlich. »Ich habe Videos, die wir anschauen können, und ein oder zwei Puzzles, und sogar einige Malbücher.«

»Wo?«, fragte Hunter und sah sich um, als wäre er in einem Toys»R«Us.

»Du sagst jetzt erst mal tschüss zu deinem Daddy, und dann werden wir danach suchen«, erwiderte ich.

»Tschüss, Dad«, sagte Hunter und winkte Remy flüchtig zu.

Remy war verblüfft. »Willst du mich gar nicht umarmen, Großer?«

Hunter streckte die Arme aus, und Remy nahm ihn hoch und wirbelte ihn herum.

Hunter kicherte, und ich sah Remy über die Schulter des Kindes lächeln. »Mein Junge«, sagte er. »Sei lieb zu Tante Sookie. Und vergiss deine guten Manieren nicht. Morgen Nachmittag hole ich dich ab.« Dann ließ er seinen Sohn wieder herunter.

»Okay«, erwidert Hunter ziemlich sachlich.

Remy hatte einen großen Aufstand erwartet, da der Junge noch nie so lange von ihm getrennt gewesen war. Er warf mir einen Blick zu, dann schüttelte er lachend den Kopf. Er lachte über sich selbst, eine gute Reaktion, wie ich fand.

Wie lange würde Hunter das alles wohl so ruhig hinnehmen, fragte ich mich. Hunter sah mich an. »Ich find's gut hier«, sagte er, und ich erkannte, dass er meine Gedanken las und sie auf seine eigene Weise interpretierte. Diese Erfahrung hatte ich schon einmal gemacht. Damals wurden sie jedoch vom Verstand eines Erwachsenen gefiltert, und wir hatten uns den Spaß gemacht, unsere telepathischen Fähigkeiten zu kombinieren und mal auszuprobieren, was dabei herauskommen würde. Hunter filterte und sortierte meine Gedanken nicht so, wie jemand Älteres es getan hätte.

Nachdem er seinen Sohn noch einmal in die Arme genommen hatte, ging Remy, wenn auch zögernd. Hunter und ich suchten und fanden die Malbücher, und es zeigte sich, dass Hunter lieber als alles andere auf der Welt Figuren bunt anmalte. Also setzte ich ihn an den Küchentisch und begann damit, das Abendessen vorzubereiten. Ich hätte natürlich selbst etwas kochen können, fand aber, dass ein Fertiggericht nicht so viel Aufmerksamkeit erfordern würde, was sicher besser war bei Hunters erstem Aufenthalt bei mir. Magst du Hamburger Helper?, fragte ich ihn stumm. Er sah auf, und ich zeigte ihm die Packung.

Die mag ich, erwiderte Hunter, weil er das Bild mit den Makkaroni und der Soße darauf wiedererkannte. Dann wandte er all seine Aufmerksamkeit erneut der Schildkröte und dem Schmetterling zu, die er gerade anmalte. Die Schildkröte war grün und braun, bewährte Schildkrötenfarben, doch beim Schmetterling hatte Hunter es etwas übertrieben. Er war lila, gelb, blau und smaragdgrün ... und Hunter war noch nicht mal fertig mit ihm. Mir fiel auf, dass Hunters Ehrgeiz nicht gerade darin lag, innerhalb der Umrisslinien zu bleiben. Aber das war okay.

Kristen hat immer Hamburger Helper gemacht, erzählte er mir. Kristen war die Freundin seines Vaters gewesen. Remy hatte mir erzählt, dass sie sich getrennt hätten, weil Kristen mit Hunters besonderem Talent nicht zurechtkam. Kristen hatte Hunter irgendwann nur noch unheimlich gefunden, was mich nicht weiter überraschte. Erwachsene hatten auch mich immer für ein seltsames Kind gehalten. Aber auch wenn ich es jetzt verstand, war es damals doch verletzend gewesen. Sie hatte Angst vor mir, fuhr Hunter fort und sah dabei einen Moment auf. Den Blick konnte ich nur allzu gut verstehen.

Sie hat es einfach nicht verstanden, erwiderte ich. Es gibt nicht viele Leute wie uns.

Bin ich der Einzige außer dir?

Nein. Ich kenne noch einen, einen Mann. Er ist schon erwachsen und lebt in Texas.

Ist er okay?

Ich wusste nicht genau, was Hunter mit »okay« meinte, bis ich ein wenig länger in seinen Gedanken gelesen hatte. Der Junge dachte an seinen Vater und ein paar andere Männer, die er bewunderte - Männer, die Jobs hatten und Ehefrauen oder Freundinnen, Männer, die arbeiteten. Normale Männer.

Ja, antwortete ich. Er hat es geschafft, einen Beruf daraus zu machen. Er arbeitet für Vampire. Vampirgedanken kann man nicht lesen.

Wirklich nicht? Ich hab noch nie einen getroffen.

Es klingelte an der Haustür. »Bin gleich wieder da«, sagte ich zu Hunter, eilte zur vorderen Tür und sah durch den Spion. Eine junge Vampirin stand davor - vermutlich Heidi, die Fährtenleserin. Mein Handy klingelte. Ich zog es aus der Tasche meiner Shorts.

»Heidi sollte vor deiner Tür stehen«, erklärte mir Pam ohne weitere Vorrede. »Hat sie schon geklingelt?«

»Brauner Pony, blaue Augen, groß?«

»Ja, du kannst sie hereinlassen.«

Das kam ja alles genau zum richtigen Zeitpunkt.

Im Nu hatte ich die Tür geöffnet. »Hi, kommen Sie doch herein. Ich bin Sookie Stackhouse.« Ich trat zur Seite, reichte ihr aber nicht die Hand. Vampire haben das nicht gern.

Heidi nickte mir zu, kam ins Haus und scannte mit einem blitzartigen Blick ihre Umgebung, so als wäre es unhöflich, sich in aller Ruhe umzusehen. Hunter kam ins Wohnzimmer gerannt und machte eine Vollbremsung, als er Heidi sah. Sie war groß und knochig und möglicherweise stumm. Aber egal, jetzt konnte Hunter gleich mal testen, was ich ihm erzählt hatte.

»Heidi, das ist mein Freund Hunter«, stellte ich ihn vor und wartete auf Hunters Reaktion.

Er war fasziniert und strengte sich an, ihre Gedanken zu lesen, sosehr er nur konnte. Und freute sich schließlich über das Ergebnis, über die absolute Stille um sie herum.

Heidi ging in die Hocke. »Hunter, du bist ja ein feiner Kerl.« Ein Glück, sie konnte doch sprechen. Ihre Stimme hatte einen Akzent, den ich mit Minnesota verband. »Wirst du lange hier bei Sookie bleiben?« Beim Lächeln ließ sie Zähne sehen, die etwas länger und schärfer waren als die normaler Menschen, und ich fürchtete schon, Hunter könnte vielleicht Angst vor ihr bekommen. Doch er musterte sie aufrichtig fasziniert.

Kommst du, weil du mit uns essen willst?, fragte er Heidi.

Laut sprechen, Hunter, ermahnte ich ihn. Heidi ist zwar anders als die Menschen, aber sie ist trotzdem nicht wie wir. Weißt du noch, was ich dir vorhin erzählt habe?

Er sah mich an, als fürchtete er, ich könnte verärgert sein. Ich lächelte und nickte ihm aufmunternd zu.

»Willst du mit uns essen, Miss Heidi?«

»Nein, danke, Hunter. Ich bin hier, um draußen im Wald nach etwas zu suchen, das wir verloren haben. Ich werde euch nicht länger stören. Mein Boss hat mich gebeten, mich hier vorzustellen und dann an die Arbeit zu gehen.« Heidi richtete sich wieder auf und lächelte den kleinen jungen an.

Und plötzlich erkannte ich die drohende Falle. Was war ich nur für eine Idiotin. Wie wollte ich dem Jungen helfen, wenn ich ihm keine Ratschläge gab? Sie darf nicht wissen, dass du Gedanken lesen kannst, Hunter, warnte ich den Jungen. Er sah mich an, und mir fiel auf, wie sehr seine Augen denen meiner Cousine Hadley glichen. Er wirkte ein wenig verängstigt.

Heidi sah von Hunter zu mir. Offenbar spürte sie, dass da etwas vor sich ging, das sie nicht mitbekam.

»Heidi, ich hoffe, Sie finden da draußen etwas«, sagte ich forsch. »Geben Sie mir doch bitte Bescheid, ehe Sie wieder gehen.« Ich wollte nicht nur wissen, ob sie etwas gefunden hatte, sondern auch sicher sein, dass sie mein Land wirklich wieder verließ.

»Es sollte nicht länger als zwei Stunden dauern«, erwiderte sie.

»Ach, und entschuldigen Sie, dass ich Sie gar nicht in Louisiana willkommen geheißen habe«, sagte ich. »Es hat Ihnen hoffentlich nicht zu viel ausgemacht, von Las Vegas hierherzuziehen.«

»Darf ich wieder malen gehen?«, fragte Hunter.

»Sicher, Schatz«, erwiderte ich. »Ich komme gleich nach.«

»Ich muss mal aufs Klo«, rief Hunter auf einmal, und ich hörte die Badezimmertür schlagen.

»Mein Sohn war so alt wie er, als ich zur Vampirin wurde.«

Ihre Worte kamen so unvermittelt und ihre Stimme klang so ausdruckslos, dass ich einen Augenblick brauchte, um zu begreifen, was sie mir da erzählt hatte.

»Das tut mir sehr leid«, sagte ich, und das meinte ich aufrichtig.

Heidi zuckte die Achseln. »Es ist schon zwanzig Jahre her. Inzwischen ist er erwachsen, lebt in Reno und ist drogensüchtig.« Ihre Stimme war immer noch ausdruckslos und verriet keinerlei Gefühl, so als würde sie über den Sohn einer Fremden sprechen.

Sehr vorsichtig fragte ich: »Sehen Sie ihn noch?«

»Ja«, sagte sie, »deswegen fahre ich öfter nach Reno.

Zumindest habe ich es getan, ehe mich mein früherer ... Arbeitgeber hierhergeschickt hat.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber sie stand immer noch da, also wagte ich es, eine weitere Frage zu stellen. »Zeigen Sie sich ihm auch?«

»Ja, manchmal. Einmal habe ich sogar den Krankenwagen gerufen, als er eine Überdosis genommen hatte. Und in einer anderen Nacht habe ich ihn vor einer dieser vampirblutsüchtigen Kreaturen gerettet, die ihn umbringen wollte.«

Eine ganze Herde Gedanken donnerte durch meinen Kopf, und sie waren allesamt unerfreulich. Wusste er, dass die Vampirin, die ihn beobachtete, seine Mutter war? Was, wenn er tagsüber eine Überdosis nahm, solange sie dem Reich der Toten angehörte? Wie würde sie sich fühlen, wenn sie nicht da war in jener Nacht, in der ihn sein Glück endgültig verließ? Sie konnte ja nicht ständig da sein. War er vielleicht drogensüchtig geworden, weil seine Mutter, die doch eigentlich tot sein sollte, immer wieder auftauchte?

»Früher«, sagte ich, weil ich irgendetwas sagen musste, »haben die Schöpfer der Vampire mit ihren neuen Schützlingen die Gegend stets verlassen, sobald sie diese zu Vampiren gemacht hatten. Damit ihre Verwandten sie nicht erkennen.« Eric, Bill, Pam - alle hatten mir das erzählt.

»Ich hatte Las Vegas für mehr als zehn Jahre verlassen, bin dann aber zurückgekehrt«, begann Heidi. »Mein Schöpfer brauchte mich dort. Es ist eben nicht für alle von uns so großartig, weiter an der Welt teilzuhaben, wie für unsere Oberen. Ich glaube, Victor hat mich zu Eric nach Louisiana geschickt, um mich von meinem Sohn zu trennen. Ich sei zu nichts zu gebrauchen, sagten sie, solange Charlies Probleme mich ablenken. Andererseits wurde mein besonderes Talent zum Fährtenlesen erst entdeckt, als ich nach dem Mann suchte, der Charlie gepanschte Drogen verkauft hatte.«

Ein angedeutetes Lächeln umspielte ihren Mund, und ich konnte mir gut vorstellen, welches Ende das Leben dieses Mannes genommen hatte. Heidi war wirklich unheimlich.

»Jetzt werde ich mal sehen, was ich da draußen auf Ihrem Land finde. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich fertig bin.« Sobald sie aus der Tür getreten war, verschwand Heidi derart schnell Richtung Wald, dass ich sie, als ich hinten aus dem Küchenfenster sah, nur noch als Schatten zwischen den Bäumen wahrnahm.

Ich hatte schon viele seltsame Gespräche geführt und auch so einige herzergreifende - doch das Gespräch mit Heidi war beides gewesen. Zum Glück blieben mir noch einige Minuten, um mich davon wieder zu erholen, während ich unsere Teller auffüllte und aufpasste, dass Hunter sich die Hände wusch.

Ich freute mich, dass der Junge ganz selbstverständlich vor dem Essen beten wollte, und so neigten wir gemeinsam unsere Köpfe. Ihm schmeckten seine Makkaroni mit Soße, und auch die grünen Bohnen und die Erdbeeren. Während wir aßen, plauderte Hunter munter über seinen Vater. Remy wäre bestimmt entsetzt gewesen, wenn er gewusst hätte, dass Hunter nicht eine Einzelheit ausließ. Und ich musste mich beherrschen, um nicht zu lachen. Jedem anderen wäre unser Gespräch vermutlich ohnehin höchst seltsam erschienen, da es teils in Gedanken und teils laut geführt wurde.

Nach dem Essen trug Hunter, ohne dass ich ihn darum bitten musste, seinen Teller zur Spüle. Ich hielt den Atem an, bis er ihn vorsichtig dort abgestellt hatte. »Hast du einen Hund?«, fragte er und sah sich um, als könnte sich jeden Augenblick einer materialisieren. »Unsere Reste kriegt immer der Hund.« Ich erinnerte mich an die kleine schwarze Promenadenmischung, die ich im Garten von Remys kleinem Haus in Red Ditch hatte herumflitzen sehen.

Nein, habe ich nicht, erwiderte ich.

Du hast einen Freund, der sich in einen Hund verwandelt?, fragte er mit erstaunt aufgerissenen Augen.

»Ja, habe ich«, sagte ich. »Er ist ein guter Freund.« Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Hunter das aufschnappen würde. Es war ganz schön heikel.

»Mein Dad sagt, ich bin klug«, meinte Hunter und blickte eher zweifelnd drein.

»Natürlich bist du das«, versicherte ich ihm. »Ich weiß, wie schwierig es ist, anders zu sein, weil ich auch anders bin. Aber jetzt, als Erwachsene, ist es okay.«

Du machst dir aber Sorgen, erwiderte Hunter.

Ich konnte Remy nur zustimmen, Hunter war ein kluger kleiner Junge.

Das tue ich. Es war schwierig für mich, erwachsen zu werden, weil keiner verstand, warum ich anders war. Die Leute glauben einem einfach nicht. Ich setzte mich auf einen Stuhl beim Tisch und zog Hunter auf meinen Schoß. Zuerst fürchtete ich, er könnte sich bedrängt fühlen, aber es schien ihm zu gefallen. Die Leute wollen einfach nicht wissen, dass jemand hören kann, was sie denken. Wenn Menschen wie wir um sie sind, haben sie keine Privatsphäre mehr.

Hunter verstand nicht genau, was »Privatsphäre« hieß, also unterhielten wir uns eine Weile darüber. Das ging vielleicht über den Horizont der meisten Fünfjährigen - aber Hunter war eben kein durchschnittliches Kind.

Sorgt der im Wald für deine Privatsphäre?, fragte Hunter mich.

Was? Ich wusste sofort, dass ich viel zu beunruhigt und bestürzt reagiert hatte, als ich Hunters unglückliche Miene sah. Mach dir darüber keine Sorgen, Schatz, erwiderte ich. Nein, er ist kein Problem.

Hunter beruhigte sich zwar schnell wieder, aber ich hatte den Eindruck, dass es an der Zeit war, das Thema fallen zu lassen. Seine Aufmerksamkeit schweifte immer öfter ab, und so ließ ich ihn herunter. Er begann mit seinen Duplos zu spielen, die er in seinem Rucksack mitgebracht hatte und die er jetzt mit dem Kipplaster von seinem Schlafzimmer in die Küche transportierte. Ich dachte kurz daran, ihm nachträglich zum Geburtstag etwas von Lego zu schenken; aber das sollte ich besser erst mit Remy besprechen. Beim Abwasch hörte ich Hunters Gedanken zu.

Ich erfuhr, dass er genau wie jeder andere Fünfjährige ein enormes Interesse am eigenen Körper hatte und dass er es komisch fand, warum er beim Pinkeln stehen, ich mich aber setzen musste; und dass er Kristen nicht mochte, weil sie ihn in Wirklichkeit gar nicht leiden konnte. Sie hat nur so getan, erklärte er mir, gerade so, als hätte er gewusst, dass ich seine Gedanken las.

Ich stand mit dem Rücken zu Hunter an der Spüle, aber das änderte nichts an unserer Unterhaltung, was irgendwie ein seltsames Gefühl war.

Spürst du es, wenn ich deine Gedanken lese?, fragte ich überrascht.

Ja, es kitzelt, erzählte Hunter mir.

Lag es daran, dass er noch so jung war? Hätte es in meinem Kopf auch »gekitzelt«, wenn ich in seinem Alter einem anderen Telepathen begegnet wäre? Oder war Hunter auch unter den Telepathen etwas Besonderes?

»War die Frau vorhin an der Tür tot?«, fragte Hunter plötzlich. Er war aufgesprungen, um den Tisch herumgerannt und blieb neben mir stehen, während ich die Bratpfanne abtrocknete.

»Ja, sie ist eine Vampirin«, erklärte ich ihm.

»Beißt sie?«

»Dich oder mich wird sie nicht beißen«, sagte ich. »Sie beißt nur manchmal Leute, wenn die es ihr vorher erlaubt haben.« Herrje, so langsam machte ich mir Sorgen über den Verlauf dieses Gesprächs. Es war, als würde man sich mit einem Kind über Religion unterhalten, ohne die Einstellung der Eltern zu kennen. »Ich dachte, du hättest vorher noch nie einen Vampir getroffen?«

»Nein, Ma'am«, erwiderte er. Ich wollte Hunter gerade sagen, dass er mich nicht Ma'am nennen müsse, hielt dann aber inne. Je besser seine Manieren waren, desto leichter würde er in dieser Welt zurechtkommen. »Und so was wie den Mann im Wald hab ich auch noch nie getroffen.«

Diesmal war ihm meine ungeteilte Aufmerksamkeit gewiss, und ich bemühte mich sehr, dass er meine Bestürzung nicht bemerkte. Gerade als ich anfangen wollte, ihm vorsichtig ein paar Fragen zu stellen, hörte ich, wie die Fliegengittertür zur hinteren Veranda aufging, dann Schritte auf den Bohlen. Ein leichtes Klopfen an der Hintertür sagte mir, dass Heidi von ihrer Suche im Wald zurück war. Doch ich schaute durch den neuen Türspion, um sicherzugehen. Genau, es war die Vampirin.

»Ich bin fertig«, sagte Heidi, als ich die Tür öffnete, »und mach mich jetzt wieder auf den Weg.«

Mir fiel auf, dass Hunter nicht wieder zur Tür gerannt kam wie beim letzten Mal. Aber er stand hinter mir, und ich spürte, wie es in seinem Gehirn rumorte. Er war nicht richtig verängstigt, hatte aber ein wenig Angst, wie es den meisten Kindern mit Fremden geht. Doch er freute sich ganz eindeutig darüber, dass er Heidis Gedanken nicht hören konnte. Ich wusste noch genau, wie begeistert ich gewesen war, als ich merkte, dass die Gedanken der Vampire auch für mich völlig lautlos waren.

»Haben Sie irgendetwas herausgefunden, Heidi?«, fragte ich zögernd. Einiges hätte für Hunters Ohren nicht geeignet sein können.

»Die Elfenfährten in Ihrem Wald sind frisch und deutlich. Es sind zwei verschiedene. Und ihre Wege kreuzen sich.« Völlig entzückt sog sie einmal tief Luft ein. »Ich liebe den Geruch von Elfen in der Nacht. Noch mehr als den von Gardenien.«

Da ich schon vermutet hatte, dass sie die Elfen aufspüren würde, von denen Basim gesprochen hatte, war dies keine große Offenbarung. Aber Heidi sagte eindeutig, es seien zwei Elfen gewesen. Das waren schlechte Neuigkeiten. Und es bestätigte auch, was Hunter gesagt hatte.

»Was haben Sie sonst noch herausgefunden?« Ich trat einen Schritt zur Seite, damit sie Hunter hinter mir stehen sehen konnte und ihre Bemerkungen dementsprechend formulierte.

»Keiner von beiden ist der Elf, den ich hier in Ihrem Haus rieche.« Keine gute Neuigkeit. »Ich habe natürlich viele Werwölfe gerochen. Außerdem rieche ich einen Vampir - Bill Compton, glaube ich, auch wenn ich ihn erst einmal getroffen habe. Und eine alte L-e-i-c-h-e. Sowie eine brandneue L-e-i-c-h-e, die östlich von Ihrem Haus begraben wurde, auf einer Lichtung beim Fluss. Auf der Lichtung gibt es übrigens jede Menge wilde Pflaumen.«

Nichts davon klang beruhigend. Eine alte L-e-i-c-h-e, okay, das hatte ich erwartet, und ich wusste sogar, wer es war. (Ich verschwendete einen Augenblick daran, mir zu wünschen, Eric hätte Debbie Pelt nicht auf meinem Land begraben.) Und wenn Bill der Vampir war, der durch meinen Wald streifte, war das in Ordnung... auch wenn es mich gleich wieder befürchten ließ, dass er die ganze Nacht nur grübelnd herumwanderte, anstatt sich ein neues eigenes Leben aufzubauen.

Die neue Leiche war das eigentliche Problem. Basim hatte sie mit keinem Wort erwähnt. Hatte etwa jemand in einer der beiden letzten Nächte eine Leiche auf meinem Land begraben? Oder hatte Basim sie aus irgendeinem Grund einfach nicht erwähnt? Ich sah Heidi an, während ich nachdachte, bis sie schließlich fragend die Augenbrauen hob. »Oh, ja, danke«, sagte ich. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

»Passen Sie auf den Kleinen auf«, sagte die Vampirin noch, und dann war sie über die Veranda und die Stufen hinunter verschwunden. Ich hörte sie nicht ums Haus zu ihrem Auto gehen, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Vampire können extrem leise sein. Ich hörte allerdings den Motor ihres Autos anspringen, bevor sie davonfuhr.

Weil ich wusste, dass meine Gedanken Hunter beunruhigen könnten, zwang ich mich, an andere Dinge zu denken - was schwieriger war, als es klingt. Lange würde ich es nicht tun müssen, ich konnte schon sehen, dass mein kleiner Besucher langsam müde wurde. Er machte den erwarteten Aufstand ums Zubettgehen, aber er protestierte kaum noch, als ich ihm sagte, er dürfe zuerst noch ein Bad in der faszinierenden Wanne mit den Klauenfüßen nehmen. Ich blieb im Badezimmer, während Hunter planschte, spielte und lärmte, und blätterte eine Zeitschrift durch. Und ich sorgte dafür, dass er sich zwischen all dem Schiffeversenken und Enten Wettschwimmen auch wusch.

Haare waschen fiel heute aus, beschloss ich, denn das würde bestimmt eine Tortur werden. Und Remy hatte mir auch keinerlei Instruktionen fürs Haarewaschen gegeben. Also zog ich den Stöpsel aus der Wanne. Hunter hatte einen Heidenspaß, als das Wasser gurgelnd in den Abfluss floss, und rettete all seine Enten vor dem Ertrinken, was ihn natürlich zu einem Helden machte. »Ich bin der König der Enten, Tante Sookie«, krähte er juchzend.

»Die brauchen wirklich auch einen König«, versicherte ich ihm. Schließlich wusste ich, wie dumm Enten waren. Meine Großmutter hatte einmal eine Zeit lang welche gehalten. Ich passte auf, dass Hunter sich richtig abtrocknete, und half ihm in den Schlafanzug. Auf meine Aufforderung hin ging er noch mal auf die Toilette, und dann putzte er sich die Zähne, wenn auch nicht sehr gründlich.

Eine Dreiviertelstunde später, nach der ein oder anderen Geschichte, lag Hunter im Bett. Auf seine Bitte hin ließ ich das Licht in der Diele brennen und die Tür seines Zimmers einen Spalt weit offen.

Und dann war ich so erledigt, dass ich erst mal keine Lust mehr hatte, über Heidis Neuigkeiten zu rätseln. Ich war es nicht gewöhnt, mich um ein Kind zu kümmern, auch wenn Hunter unkompliziert war, besonders für einen kleinen Jungen, der über Nacht bei einer Frau blieb, die er kaum kannte. Ich konnte nur hoffen, dass unsere Gedankengespräche auch für ihn ein Vergnügen waren und Heidi ihn nicht zu sehr erschreckt hatte.

Bislang hatte ich mir nicht erlaubt, mich auf Heidis makabre Biografie zu konzentrieren, doch als Hunter jetzt schlief, musste ich unwillkürlich an ihre Geschichte denken. Es war entsetzlich, dass sie nach Nevada hatte zurückkehren müssen, solange ihr Sohn noch lebte. Inzwischen wirkte es sicher schon so, als wären sie und ihr Sohn Charlie Gleichaltrige. Was war aus dem Vater des Jungen geworden? Warum hatte ihr Schöpfer auf ihre Rückkehr bestanden? Als sie zur Vampirin gemacht wurde, hatten die Vampire sich Amerika und der Welt noch nicht offen gezeigt. Geheimhaltung war oberstes Gebot gewesen. Ich musste Heidi zustimmen. Das Outing hatte nicht alle Probleme der Vampire gelöst, sondern sogar noch ein paar neue geschaffen.

Am liebsten hätte ich von dem traurigen Schicksal, das Heidi mit sich herumtrug, gar nicht erst erfahren. Weil ich aber das Produkt der Erziehung meiner Großmutter war, fühlte ich mich bei einem solchen Gedanken gleich schuldig. Sollten wir nicht stets bereit sein, uns die traurigen Geschichten anderer anzuhören? Sind wir nicht verpflichtet zuzuhören, wenn sie sie erzählen wollen? Ich hatte das Gefühl, dass ich mit Heidi jetzt aufgrund ihres Kummers verbunden war. Aber war das eine echte Verbindung? War irgendetwas Anziehendes an mir, das sie angesprochen, irgendetwas, das diese Geschichte aus ihr herausgelockt hatte? Oder erzählte sie jedem neuen Bekannten immer erst mal von ihrem Sohn? Das konnte ich kaum glauben. Vermutlich hatte Hunters Anwesenheit sie so vertrauensselig gemacht.

Wenn Heidi sich auch weiterhin so sehr von den Problemen ihres Junkie-Sohns ablenken ließ, würde er eines Nachts Besuch von jemand höchst Skrupellosem bekommen, das wusste ich (auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte). Danach wäre sie dann wieder fähig, ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Wünsche ihres Arbeitgebers zu richten. Mich schauderte.

Victor würde sicher keinen Augenblick zögern, so etwas zu tun, aber würde - oder könnte - Eric ...?

Ich wusste, dass die Antwort ja lautete, wenn ich es denn wagen würde, mir diese Frage überhaupt zu stellen.

Andererseits gab Charlie auch eine gute Geisel ab, um zu gewährleisten, dass Heidi kooperierte. Ganz nach dem Motto: »Wenn du Eric nicht ausspionierst, werden wir Charlie einen Besuch abstatten.« Doch wenn sich die Situation plötzlich veränderte...

Aber all diese Grübelei über Heidi diente doch nur einem Zweck: den viel dringlicheren Fragen auszuweichen. Wer war die frische Leiche in meinem Wald, und wer hatte sie dort begraben?

Wäre Hunter nicht bei mir gewesen, hätte ich zum Telefon gegriffen, Eric angerufen und ihn gebeten, eine Schaufel mitzubringen und mit mir gemeinsam eine Leiche auszugraben. Dafür war ein Freund doch da, oder? Aber ich konnte Hunter nicht allein im Haus lassen, und ich hätte mich schrecklich gefühlt, wenn ich Eric gebeten hätte, allein in den Wald hinauszugehen, obwohl ich wusste, dass er sich gar nichts weiter dabei gedacht hätte. Er hätte vermutlich sowieso Pam geschickt. Ich seufzte. Tja, ich konnte anscheinend kein einziges Problem loswerden, ohne mir ein neues aufzuhalsen.