Kapitel 6

Um sechs Uhr morgens kletterte Hunter zu mir ins Bett. »Tante Sookie!«, rief er; wahrscheinlich hielt er es für ein Flüstern. Nur dieses eine Mal wäre es wirklich viel angenehmer gewesen, wenn er sein Gespräch mit mir in Gedanken geführt hätte.

»Ah, hmm?« Das konnte nur ein schlechter Traum sein.

»Ich hab was Komisches geträumt letzte Nacht«, erzählte Hunter.

»Hmm?« Vielleicht ein Traum in einem Traum.

»Ein großer Mann kam in mein Zimmer.«

»Ach?«

»Er hatte lange Haare, wie eine Frau.«

Ich stützte mich auf einen Ellbogen und sah Hunter an, der keine Angst gehabt zu haben schien. »Tatsächlich?«, sagte ich, was wenigstens eine annähernd passende Reaktion war. »Welche Farbe?«

»Gelb«, sagte Hunter nach kurzem Nachdenken.

Aha. Oh. Mir dämmerte, dass wohl die meisten Fünfjährigen etwas unsicher sind, wenn sie Farben benennen sollen. Ich versuchte erst mal, mich aufzusetzen. Draußen wurde es allmählich hell.

»Was hat er denn gemacht?«

»Er hat mich nur angeguckt, und er hat gelächelt«, erzählte Hunter. »Und dann ist er in den Wandschrank gegangen.«

»Wow«, sagte ich bloß. Ich konnte mir zwar nicht sicher sein (bis es dunkel war, zumindest), aber das klang allessehr danach, als würde Eric heute seinen Tag als Toter in dem geheimen Versteck in meinem Wandschrank verbringen.

»Ich muss aufs Klo«, rief Hunter plötzlich, rutschte vom Bett herunter und flitzte in mein Badezimmer. Einen Moment später hörte ich die Toilettenspülung rauschen, und dann wusch er sich die Hände - oder wenigstens machte er den Wasserhahn eine Sekunde lang an. Ich sank wieder in die Kissen zurück und dachte an all die schönen Stunden Schlaf, die ich heute leider, leider versäumen würde. Mithilfe reiner Willenskraft schwang ich mich aus dem Bett und zog mir einen Morgenmantel über mein blaues Nachthemd. Ich schlüpfte in meine Hausschuhe, und als Hunter wieder aus dem Badezimmer kam, ging ich hinein.

Ein paar Minuten später waren wir in der Küche. Ich machte Licht und ging direkt zur Kaffeekanne, an der ein Zettel pappte. Die Handschrift erkannte ich sofort, und Glückshormone strömten durch meine Blutbahnen. Statt mich weiter zu wundern, dass ich hier tatsächlich zu einer so gottlos frühen Stunde schon herumlief, freute ich mich, dass ich die Zeit mit meinem kleinen Cousin verbringen konnte. Die Nachricht, die auf einen der Zettel für meine Einkaufslisten geschrieben war, lautete: »Liebste, ich kam zu kurz vor Morgengrauen, um dich noch aufzuwecken, auch wenn es mich danach verlangte. Dein Haus ist voller seltsamer Männer. Ein Elf oben und ein kleines Kind unten - aber solange keiner im Bett meiner Ehefrau liegt, kann ich es ertragen. Ich muss dich sprechen, sobald ich aufstehe.« Darunter gekrakelt die Unterschrift: ERIC.

Ich legte den Zettel zur Seite und versuchte, mir keine Gedanken darüber zu machen, warum Eric mich so dringend sprechen wollte. Als die Kaffeemaschine munter vor sich hin blubberte, holte ich eine Pfanne heraus und stellte sie auf den Herd. »Du magst hoffentlich Pfannkuchen«, sagte ich zu Hunter, und sein Gesicht hellte sich auf. Mit einem Knall setzte er seinen Becher Orangensaft auf dem Tisch ab, und prompt schwappte etwas über den Rand. Ich wollte ihm schon einen tadelnden Blick zuwerfen, da sprang er auf und nahm sich ein Stück Küchenpapier. Hunter wischte zwar eher eifrig als ordentlich auf dem Tisch herum, aber der Wille war vorhanden, und das gefiel mir.

»Ich liebe Pfannkuchen«, sagte er. »Kannst du die selber machen? Holst du die nicht aus der Kühltruhe?«

Ich verkniff mir ein Grinsen. »Nein. Die kann ich selber machen.« Es dauerte etwa fünf Minuten, den Teig anzurühren, und bis dahin war die Pfanne heiß. Zuerst tat ich etwas Frühstücksspeck hinein, und Hunter strahlte geradezu. »Ich mag ihn aber nicht, wenn er labberig ist«, sagte er, und ich versprach ihm, den Speck schön knusprig zu braten. Genau so mochte ich ihn auch.

»Das riecht ja wunderbar, Cousine.« Nanu, Claude stand in der Tür, mit weit ausgebreiteten Armen und so gutaussehend, wie man so früh am Morgen überhaupt nur aussehen konnte. Er trug ein braunes T-Shirt mit dem Aufdruck »University of Louisiana at Monroe« und dazu schwarze Sportshorts.

»Wer bist du denn?«, fragte Hunter.

»Ich bin Sookies Cousin Claude.«

Er hat so lange Haare wie eine Frau, meinte Hunter.

Er ist aber trotzdem ein Mann, genau wie der andere Mann. »Claude, das ist noch ein Cousin von mir, Hunter«, stellte ich vor. »Weißt du noch? Ich habe dir doch erzählt, dass er zu Besuch kommt.«

»Seine Mutter war -«, begann Claude, und ich schüttelte den Kopf.

Claude hätte vielleicht alle möglichen Dinge von sich gegeben. Er hätte vielleicht gesagt »die Bisexuelle« oder »die, die der Albino Waldo auf dem Friedhof in New Orleans umgebracht hat«. Das hätte zwar beides gestimmt, aber weder das eine noch das andere war für Hunters Ohren bestimmt.

»Darin sind wir also alle miteinander verwandt«, sagte ich. »Wolltest du dezent darauf hinweisen, dass du gerne mit uns frühstücken möchtest, Claude?«

»Ja, genau«, erwiderte er charmant und goss sich einen Becher Kaffee ein, ohne mich zu fragen. »Das heißt, wenn genug da ist. Dieser junge Mann hier sieht aus, als könnte er jede Menge Pfannkuchen verdrücken.«

Hunter war begeistert, und Claude und er wetteiferten, wer wie viele Pfannkuchen auf einmal schaffen würde. Ich war überrascht, wie unbefangen Claude mit Hunter umging, auch wenn die reine Tatsache, dass Claude das Kind so mühelos mit seinem Charme becircte, eigentlich keine Überraschung war. Claude war Profi in Sachen charmantes Becircen.

»Wohnst du hier in Bon Temps, Hunter?«, fragte Claude.

»Nein.« Hunter musste laut lachen über diese absurde Idee. »Ich wohn bei meinem Daddy.«

Okay, das war genug Information. Ich wollte nicht, dass irgendein Supra Genaueres über Hunter erfuhr und mitbekam, was ihn so besonders machte.

»Claude, holst du bitte mal den Sirup und die Melasse heraus?«, bat ich. »Aus der Speisekammer, da hinten.«

Claude fand die Speisekammer und kam mit dem Log-Cabin-Sirup und der Brer-Rabbit-Melasse wieder. Er öffnete beide Flaschen, sodass Hunter daran riechen und sich aussuchen konnte, was er auf seinem Pfannkuchen haben wollte. Und dann begann ich Pfannkuchen zu backen, machte noch etwas mehr Kaffee, holte Teller aus dem Schrank und zeigte Hunter, wo Messer und Gabeln waren, damit er den Tisch decken konnte.

Wir waren schon eine seltsame kleine Familienrunde: zwei Telepathen und ein Elf. Während unserer Unterhaltung am Frühstückstisch musste ich aufpassen, dass keiner der beiden erfuhr, was der jeweils andere war - eine ziemliche Herausforderung. Hunter fragte mich stumm, ob Claude ein Vampir sei, weil er seine Gedanken nicht lesen könne, und ich musste ihm erklären, dass es noch ein paar andere Geschöpfe gab, die wir nicht hören konnten. Und ich wies ihn auch darauf hin, dass Claude schon deshalb kein Vampir sein könne, weil Tag war und Vampire tagsüber nicht aufstehen können.

»Im Wandschrank ist ein Vampir«, erzählte Hunter Claude. »Aber er kann tagsüber nicht aufstehen.«

»In welchem Wandschrank denn?«, fragte Claude.

»In meinem Zimmer. Willst du ihn mal sehen?«

»Hunter«, ermahnte ich ihn, »Vampire wollen tagsüber auf keinen Fall gestört werden. Ich würde ihn lieber in Ruhe lassen.«

»Dein Eric?«, fragte Claude. Er fand die Vorstellung, dass Eric im Haus war, aufregend. Verdammt.

»Ja«, erwiderte ich. »Aber du bist klug genug, ihn dir nicht anzusehen, verstanden? Ich meine, ich muss nicht erst hart durchgreifen, oder?«

Er lächelte mich an. »Du und hart durchgreifen, bei mir?«, fragte er spöttisch. »Ha. Ich bin ein Elf und viel stärker als jeder Mensch.«

Ich wollte gerade fragen: »Wie kommt es dann, dass ich den Elfenkrieg überlebt habe und so viele Elfen nicht?« Aber Gott sei Dank ließ ich's bleiben. Schon im nächsten Augenblick wusste ich, wie gut es war, dass ich diese Worte heruntergeschluckt hatte, denn ich sah Claudes Miene an, dass er sich nur zu gut erinnerte, wer gestorben war. Ich vermisste Claudine ebenfalls, und das sagte ich ihm auch.

»Du bist traurig«, stellte Hunter völlig richtig fest. Oje, er bekam auch all die Dinge mit, über die ich in seiner Gegenwart eigentlich nicht nachdenken sollte.

»Ja, wir denken an seine Schwester«, erklärte ich. »Sie ist gestorben und wir vermissen sie.«

»Wie meine Mom«, sagte Hunter. »Was ist ein Elf?«

»Ja, wie deine Mom.« Irgendwie schon. Jedenfalls in dem Sinne, dass sie beide tot waren. »Elfen sind besondere Geschöpfe, aber darüber reden wir ein andermal.«

Man musste kein Telepath sein, um Claudes Interesse und Neugier zu bemerken. Daher folgte ich ihm leise, als er die Diele entlang zum Badezimmer ging. Tatsächlich, Claudes Schritt verlangsamte sich, und er blieb in der offenen Tür des Zimmers stehen, in dem Hunter geschlafen hatte.

»Geh einfach immer weiter«, sagte ich.

»Darf ich nicht mal einen Blick auf ihn werfen? Er wird's nie erfahren. Ich habe gehört, wie gut er aussehen soll. Nur einen kurzen Blick?«

»Nein.« Mir war klar, dass ich diese Tür wohl besser im Auge behalten sollte, bis Claude aus dem Haus war. Nur einen Blick, herrje. Er würde schon sehen, dass ich einen Arsch in der Hose hatte.

»Was ist mit deinem Arsch, Tante Sookie?«

»Uups! Entschuldige, Hunter. Ja, so ein Wort sagt man nicht«, erwiderte ich laut, weil Claude nicht bemerken sollte, dass ich es nur gedacht hatte. Ich hörte ihn lachen, als er die Badezimmertür schloss.

Claude blieb so lange im Badezimmer, dass Hunter sich die Zähne in meinem putzen musste. Als ich das Knarren der Treppe und dann die Geräusche des Fernsehers von oben hörte, entspannte ich mich wieder. Ich half Hunter beim Anziehen, zog mich schließlich selbst an und trug unter der unerschütterlichen Aufmerksamkeit Hunters noch etwas Make-up auf. Kristen hatte ihn offenbar nie zusehen lassen bei dieser Prozedur.

»Willst du nicht bei uns wohnen, Tante Sookie?«, fragte Hunter.

Danke, Hunter, aber ich wohne gern hier. Und ich habe einen Job.

Dann suchst du dir einen anderen.

»Das wäre nicht das Gleiche. Dies ist mein Haus, und es gefällt mir hier sehr. Ich will nicht weg.«

Es klopfte an der Haustür. Kam Remy etwa schon so früh, um Hunter abzuholen?

Aber es war eine Überraschung ganz anderer Art, eine unerfreuliche. Spezialagent Tom Lattesta stand auf der vorderen Veranda.

Hunter war natürlich, so schnell er konnte, zur Tür gerannt. Tun das nicht alle Kinder? Nicht, weil er dachte, es sei sein Vater, denn er wusste nicht genau, wann Remy kommen würde, sondern einfach weil er herausfinden wollte, wer zu Besuch kam.

»Hunter«, sagte ich und nahm ihn auf den Arm, »das ist ein FBI-Agent. Er heißt Tom Lattesta. Kannst du dir das merken?«

Hunter blickte zweifelnd drein. Er versuchte ein paar Mal, den ungewohnten Namen richtig auszusprechen, und schließlich gelang es ihm.

»Gut gemacht, Hunter!«, lobte Lattesta, der freundlich sein wollte, mit Kindern aber gar nichts anfangen konnte, und so klangen seine Worte nur falsch. »Miss Stackhouse, darf ich einen Augenblick hereinkommen?« Ich warf einen Blick auf die Veranda. Kein anderer da. Kamen diese FBI-Typen sonst nicht immer zu zweit?

»Warum nicht«, sagte ich ohne große Begeisterung. Ich erklärte nicht, wer Hunter war, weil es Lattesta nichts anging. Aber ich wusste natürlich, dass er neugierig war. Ihm war auch aufgefallen, dass draußen noch ein weiteres Auto parkte.

»Claude«, rief ich die Treppe hinauf. »Das FBI ist hier.«

Es ist immer gut, unerwarteten Besuchern klarzumachen, dass noch jemand anderes im Haus ist.

Der Fernseher verstummte, und Claude kam die Stufen herabgesegelt. Mittlerweile trug er ein goldbraunes Seidenhemd und Leinenhosen und sah aus wie einer erotischen Fantasie entstiegen. Trotz seiner Heterosexualität war Lattesta nicht gegen einen Anflug unvermittelter Bewunderung gefeit. »Agent Lattesta, mein Cousin Claude Crane«, stellte ich vor und versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.

Hunter, Claude und ich setzten uns aufs Sofa, während Lattesta in einem Sessel Platz nahm. Ich bot ihm nichts zu trinken an.

»Wie geht es Agentin Weiss?«, fragte ich. Die in New Orleans stationierte Sarah Weiss hatte Lattesta, der in Rhodes stationiert war, das letzte Mal hier zu meinem Haus heraus begleitet und war im Laufe vieler schrecklicher Ereignisse niedergeschossen worden.

»Sie arbeitet wieder«, erzählte Lattesta. »Allerdings noch immer nur am Schreibtisch. Mr Crane, wir sind uns vorher, glaube ich, noch nicht begegnet?«

Niemand vergaß Claude. Was mein Cousin natürlich sehr gut wusste. »Das Vergnügen hatten Sie noch nicht«, sagte er zu dem FBI-Mann.

Lattesta brauchte einen Moment, bis er begriffen hatte. Dann lächelte er. »Richtig«, sagte er. »Hören Sie, Miss Stackhouse, ich komme heute zu Ihnen, um Ihnen zu sagen, dass Sie nicht mehr Gegenstand unserer Ermittlungen sind.«

Es erstaunte mich, wie groß die Erleichterung war, die ich empfand. Ich tauschte einen Blick mit Claude. Gott segne meinen Urgroßvater. Wie viel mochte er ausgegeben, wie viele Fäden gezogen haben, um das zu ermöglichen?

»Wie kommt das denn?«, fragte ich. »Nicht, dass ich das FBI vermissen werde. Aber ich wundere mich schon, was sich so plötzlich geändert hat.«

»Sie scheinen Leute zu kennen, die sehr mächtig sind«, sagte Lattesta mit unerwartet bitterem Unterton. »Jemand in unserer Regierung möchte nicht, dass Ihr Name öffentlich genannt wird.«

»Und Sie sind den ganzen Weg nach Louisiana geflogen, um mir das zu sagen?« Ich ließ genug ungläubiges Staunen in meiner Stimme mitschwingen, um ihm klarzumachen, dass ich das für Unsinn hielt.

»Nein, ich bin den ganzen Weg hier herunter geflogen, um zu einer Gerichtsverhandlung über die Schießerei zu gehen.«

Okay. Das ergab schon mehr Sinn. »Und meine Telefonnummer hatten Sie nicht? Um mich anzurufen? Sie mussten hierherkommen und mir persönlich sagen, dass gegen mich nicht mehr ermittelt wird?«

»Irgendwas stimmt nicht mit Ihnen«, brauste er auf. Na also, jetzt war die Fassade endlich verschwunden. Ich war geradezu erleichtert. Jetzt passte sein Äußeres wenigstens wieder zu seinem Inneren. »Sarah Weiss durchlebt eine Phase ... geistiger Verwirrung, seit sie Sie getroffen hat. Sie geht zu Seancen und liest Bücher über paranormale Phänomene. Ihr Ehemann macht sich schon Sorgen um sie. Und das FBI auch. Ihr Vorgesetzter zweifelt sogar daran, dass er sie je wieder im Außendienst einsetzen kann.«

»Es tut mir leid, das zu hören. Aber ich wüsste nicht, was ich dagegen tun könnte.« Ich dachte einen Augenblick nach, während Lattesta mich mit wütendem Blick ansah. Und er hegte auch jede Menge wütende Gedanken. »Selbst wenn ich zu ihr ginge und ihr sagte, dass ich all das, was sie für möglich hält, gar nicht tun kann, würde es nichts helfen. Sie glaubt, was sie glauben will. Und ich bin die, die ich bin.«

»Dann geben Sie es also zu.«

Obwohl ich dem FBI nicht weiter auffallen wollte, tat das seltsamerweise doch weh. Ich fragte mich, ob Lattesta unser Gespräch aufzeichnete.

»Ich gebe was zu?«, fragte ich und war wirklich gespannt, was er jetzt sagen würde. Als er zum ersten Mal vor meiner Tür gestanden hatte, war er ein Hundertprozentiger gewesen. Hundertprozentig überzeugt davon, dass ich der Schlüssel zu seinem schnellen Aufstieg im FBI sein würde.

»Sie geben zu, dass Sie nicht mal ein Mensch sind.«

Aha. Lattesta glaubte es tatsächlich. Er empfand nur noch Empörung und Abscheu für mich. Herrje, da durchschaute ich ja selbst Sams Gedanken und Gefühle noch besser.

»Ich habe Sie überwacht, Miss Stackhouse. Man hat mich zwar zurückgepfiffen, aber wenn ich irgendeine Ermittlung, in der auch nur Ihr Name fällt, auf Sie ausdehnen kann, werde ich es tun. Sie sind eine Lügnerin. Ich gehe jetzt, und ich hoffe, Sie -« Er hatte keine Gelegenheit, den Satz zu beenden.

»Warum denken Sie so böse Sachen über Tante Sookie?«, rief Hunter aufgebracht. »Sie sind ein schlechter Mensch.«

Ich hätte es selbst nicht besser ausdrücken können, wünschte aber um Hunters willen, er hätte den Mund gehalten. Lattesta wurde kreidebleich.

Claude lachte und sagte zu Hunter: »Jetzt hat er Angst vor dir.« Er hielt das für einen großartigen Witz, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er schon die ganze Zeit gewusst hatte, was Hunter war.

Doch Lattestas Groll könnte vielleicht zu einer echten Gefahr für mich werden.

»Danke, dass Sie gekommen sind, um mir die gute Nachricht zu überbringen, Spezialagent Lattesta«, sagte ich so sanft, wie ich es nur hinbekam. »Ich wünsche Ihnen eine sichere Rückfahrt nach Baton Rouge oder New Orleans, oder auf welchem Flughafen auch immer Sie gelandet sind.«

Lattesta war auf den Beinen und zur Tür hinaus, noch ehe ich ein weiteres Wort gesagt hatte, und ich ließ Hunter bei Claude und folgte ihm. Erst als er sein Auto schon erreicht hatte und in seinen Taschen nach dem Schlüssel kramte, bemerkte er, dass ich hinter ihm stand. Er schaltete ein kleines Aufnahmegerät aus, fuhr herum und warf mir einen wütenden Blick zu.

»Sie benutzen sogar Kinder«, sagte er. »Wie niederträchtig.«

Einen Augenblick lang sah ich ihn scharf an. Dann sagte ich: »Sie machen sich Sorgen, dass Ihr kleiner Sohn, der in Hunters Alter ist, autistisch sein könnte. Sie haben Angst, dass diese Gerichtsverhandlung, derentwegen Sie gekommen sind, schlecht für Sie laufen könnte, und vielleicht auch für Agentin Weiss. Sie sind verunsichert, weil Sie Claude attraktiv fanden. Sie denken daran, um eine Versetzung in eine Regierungsbehörde in Louisiana zu bitten. Sie sind wütend, dass ich Leute kenne, die Sie von einem Fall abziehen könnten.«

Wenn Lattesta durch das Metall in sein Auto hätte hineinschlüpfen können, hätte er es getan. Herrje, jetzt hatte ich mich nur aus verletztem Stolz wie eine Närrin aufgeführt. Ich hätte ihn ohne ein weiteres Wort abfahren lassen sollen.

»Wenn ich Ihnen doch nur erzählen dürfte, wer mich dem Zugriff des FBIs entzogen hat«, fuhr ich fort. Wenn schon, denn schon, stimmt's? »Das würde Ihnen vor Angst glatt die Hosen ausziehen.« Mit diesen Worten drehte ich mich um, ging zurück die Verandastufen hinauf und verschwand im Haus. Nur einen Moment später hörte ich sein Auto meine Auffahrt entlangrasen, wobei wahrscheinlich mein schöner Kies in alle Richtungen spritzte.

Hunter und Claude fand ich lachend in der Küche. Sie hielten Strohhalme ins Abwaschwasser, das noch ein wenig Restschaum hatte, und bliesen aus Leibeskräften hinein. Hunter stand auf dem Tritthocker, den ich benutzte, um an die obersten Regale der Küchenschränke zu gelangen. Ein unerwartet heiterer Anblick.

»Und, Cousine, ist er weg?«, fragte Claude. »Gut gemacht, Hunter. Ich glaube, da ist ein Seeungeheuer im Wasser, da!«

Hunter blies noch stärker, und das Wasser spritzte hoch bis an die Gardinen. Er lachte etwas zu wild.

»Okay, Kinder, das reicht«, sagte ich. Es geriet langsam außer Kontrolle. Aber das kam eben dabei heraus, wenn man einen Elfen ein paar Minuten mit einem Kind allein ließ. Ich sah auf die Uhr. Dank Hunters frühem Weckappell war es erst neun. Und ich ging davon aus, dass Remy seinen Sohn nicht vor dem Spätnachmittag abholen kam.

»Komm, wir fahren in den Park, Hunter.«

Claude wirkte enttäuscht, dass ich ihrem Vergnügen ein Ende setzte, doch Hunter wollte gern irgendwo hinfahren. Ich griff nach meinem Softball-Fanghandschuh und band Hunters Sneakers noch mal ordentlich zu.

»Darf ich auch mitkommen?«, fragte Claude in leicht eingeschnapptem Ton.

Das überraschte mich. »Na klar, komm mit«, sagte ich. »Das wäre toll. Aber du solltest vielleicht dein eigenes Auto nehmen, weil ich nicht weiß, was wir danach noch machen.« Mein selbstbezogener Cousin hatte doch tatsächlich Freude daran, mit Hunter zu spielen. Das hätte ich nie und nimmer erwartet - und ehrlich gesagt, er auch nicht, glaube ich. Und so folgte Claude uns in seinem Chevrolet Impala in den Park.

Ich fuhr zum Magnolia Creek Park, der sich zu beiden Seiten eines Baches erstreckte. Er war schöner als der kleine Park in der Nähe der Grundschule. Dieser Park war natürlich auch nicht besonders groß, da Bon Temps nicht gerade eine reiche Kleinstadt ist, aber es gab die übliche Spielplatz-Ausstattung, einen netten Wanderweg, viel offenes Gelände, Picknicktische und Bäume. Hunter tobte auf dem Klettergerüst herum, als hätte er noch nie zuvor eines gesehen, aber vielleicht hatte er das auch nicht. Red Ditch ist kleiner und ärmer als Bon Temps.

Hunter konnte klettern wie ein Äffchen, stellte ich fest, und Claude stand immer parat, um ihm im Zweifelsfall bei jeder Bewegung Halt zu geben. Hunter hätte es doof gefunden, wenn ich das getan hätte. Warum, wusste ich auch nicht so genau, aber ich wusste, dass es so war.

Als ich Hunter gerade vom Klettergerüst weglockte, um mit ihm Ball zu spielen, hielt plötzlich ein Auto vor dem Park an. Tara stieg aus und kam zu uns herüber, um zu sehen, was wir trieben.

»Wer ist denn dein kleiner Freund, Sookie?«, rief sie.

Das enge Top, das sie trug, ließ Tara noch etwas dicker erscheinen als bei ihrem Lunch im Merlotte's. Sie trug Shorts aus ihrer Vor-Schwangerschaftszeit, die unterhalb ihres Bauches klemmten. Ich wusste ja, dass im Haushalt Thornton/du Rhone zurzeit nicht allzu viel Geld übrig war, hoffte aber, dass Tara in absehbarer Zeit mal etwas aus ihrem Budget lockermachen und sich ein paar richtige Schwangerschaftskleider kaufen würde. In ihrer eigenen Boutique Tara's Togs gab es leider kaum etwas in der Richtung.

»Das ist mein Cousin Hunter«, stellte ich vor. »Hunter, das ist meine Freundin Tara.« Claude, der eben noch versonnen auf der Schaukel vor sich hin geschaukelt hatte, wählte diesen Augenblick, um abzuspringen, und kam zu uns gelaufen. »Und das, Tara, ist mein Cousin Claude.«

Oje, Tara kannte mich schon ihr ganzes Leben lang und natürlich auch alle Mitglieder meiner Familie. Deshalb rechnete ich es ihr hoch an, dass sie diese Vorstellung meiner Cousins völlig unerschüttert hinnahm und Hunter ein freundliches Lächeln zuwarf, mit dem sie auch gleich noch Claude bedachte. Sie musste ihn eigentlich erkannt haben - schließlich hatte sie ihn schon mal in Aktion gesehen. Aber sie zuckte nicht mal mit der Wimper.

»Im wievielten Monat sind Sie?«, fragte Claude.

»Noch etwas über drei Monate bis zur Geburt«, sagte Tara und seufzte. Ich vermute, sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass ihr relativ fremde Leute privateste Fragen stellten. Sie hatte mir vor einiger Zeit schon mal erzählt, dass alle üblichen Schranken fallen, sobald man schwanger ist. »Die Leute fragen dich einfach alles«, hatte sie gesagt. »Und die Frauen erzählen dir Geschichten von Wehen und Geburt, die dir die Haare zu Berge stehen lassen.«

»Wollen Sie wissen, was es wird?«, fragte Claude.

Das war weit jenseits aller üblichen Schranken. »Das ist zu privat, Claude«, ermahnte ich ihn. Elfen hatten einfach nicht dieselbe Vorstellung von privaten Informationen und Privatsphäre wie die Menschen.

»Entschuldigung«, sagte mein Cousin, sehr unaufrichtig. »Ich dachte, es würde Sie interessieren, bevor Sie etwas zum Anziehen kaufen. Sie haben doch bestimmte Farbcodes für Babys, soweit ich weiß.«

»Sicher«, erwiderte Tara schroff. »Was wird's denn, Junge oder Mädchen?«

»Beides«, sagte Claude lächelnd. »Sie bekommen Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen.«

»Mein Arzt hat nur einen Herzton gehört.« Sie versuchte, ihm freundlich beizubringen, dass er sich irrte.

»Dann ist Ihr ein Arzt ein Idiot«, sagte Claude fröhlich. »Sie bekommen zwei gesunde und muntere Babys.«

Tara wusste offensichtlich nicht, was sie davon halten sollte. »Ich werde ihn das nächste Mal bitten, noch mal genauer hinzuhören«, meinte sie. »Und ich werde Sookie bitten, Ihnen auszurichten, was er gesagt hat.«

Zum Glück war der Großteil des Gesprächs an Hunter vorbeigegangen. Er hatte gerade erst gelernt, den Softball in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen, und war abgelenkt davon, sich meinen Fanghandschuh über seine kleine Hand zu ziehen. »Hast du mal Baseball gespielt, Tante Sookie?«, fragte er.

»Softball«, sagte ich. »Und wie. Ich habe als rechter Fielder gespielt. Das heißt, ich stand ziemlich weit draußen auf dem Spielfeld und habe gewartet, ob das Mädchen, das am Schlag war, den Ball in meine Richtung schlägt. Und wenn, dann habe ich ihn gefangen und dem Pitcher oder dem Spieler zugeworfen, der ihn am besten gebrauchen konnte.«

»Deine Tante Sookie war der beste rechte Fielder in der Geschichte der Lady Falcons«, sagte Tara und ging in die Hocke, um Hunter ins Gesicht sehen zu können.

»Na ja, ich hatte viel Spaß«, meinte ich.

»Hast du mit Tante Sookie auch Softball gespielt?«, fragte Hunter Tara.

»Nein, aber ich war immer bei den Spielen dabei und habe Sookie angefeuert«, erzählte Tara, was absolut stimmte, Gott segne sie.

»Hier, Hunter«, sagte Claude und gab dem Softball einen leichten Stoß. »Hol ihn dir und wirf ihn zu mir zurück.«

Und so wanderte das ungleiche Paar durch den ganzen Park, während sie einander immer wieder den Ball zuwarfen, wenn auch nicht allzu zielsicher. Aber sie amüsierten sich prächtig.

»Na, na«, begann Tara, als wir allein waren. »Du hast ja ein echtes Talent, zu neuer Verwandtschaft zu kommen.

Ein Cousin? Wo hast du denn einen Cousin her? Er ist doch kein heimlicher Sohn von Jason, oder?«

»Er ist Hadleys Sohn.«

»Oh ... oh mein Gott.« Taras Augen wurden immer größer. Sie sah zu Hunter hinüber und versuchte, eine Ähnlichkeit mit Hadleys Gesichtszügen festzustellen. »Aber das ist nicht der Vater, oder? Unmöglich.«

»Nein«, sagte ich. »Das ist Claude Crane, auch ein Cousin.«

»Aber sicher kein Sohn von Hadley.« Tara lachte. »War Hadley nicht die einzige Cousine, die du hattest?«

»Äh ... ist mehr so eine uneheliche Sache«, sagte ich bloß, weil es nicht möglich war, es richtig zu erklären, ohne den guten Ruf meiner Großmutter zu gefährden.

Tara sah, wie unangenehm mir das Thema Claude war.

»Wie läuft's denn zwischen dir und dem großen Blonden?«

»Alles bestens«, erwiderte ich vorsichtig. »Ich halte nirgends anders Ausschau.«

»Das wär ja auch noch schöner! Keine Frau, die alle fünf Sinne beisammen hat, würde doch mit einem anderen ausgehen, wenn sie Eric haben kann. Schön und klug.« Tara klang ein bisschen wehmütig. Na, schön war JB doch immerhin.

»Eric kann ein ziemlicher Tyrann sein, wenn er will. Und dann eine Affäre!« Ich versuchte mir vorzustellen, was geschähe, falls ich Eric betrügen würde. »Wenn ich was mit einem anderen hätte, wäre er vermutlich...«

»Bereit, den anderen zu töten?«

»Er wäre jedenfalls nicht glücklich«, sagte ich, was die Untertreibung des Jahres war.

»Willst du mir nicht erzählen, was los ist?« Tara ergriff meine Hand. Sie war keine von den Frauen, die einen ständig anfassen, das bedeutete also eine ganze Menge.

»Ehrlich gesagt, Tara, ich weiß es nicht.« Ich hatte das überwältigende Gefühl, dass irgendwas schieflief, irgendwas Wichtiges. Aber ich konnte nicht mit dem Finger darauf zeigen und es benennen.

»Geht's um Supras?«, fragte sie.

Ich zuckte die Achseln.

»Nun, ich muss weiter, in die Boutique«, sagte Tara. »McKenna hat heute den Laden für mich geöffnet, aber ich kann ihr nicht zumuten, die ganze Zeit für mich einzuspringen.«

Wir verabschiedeten uns, zufriedener mit der jeweils anderen, als wir seit langer Zeit gewesen waren. Mir wurde klar, dass ich für Tara unbedingt eine Baby-Party geben sollte, und ich konnte gar nicht begreifen, warum ich auf diese Idee nicht schon längst gekommen war. Ich musste etwas ganz Fantastisches planen. Wenn ich eine Überraschungsparty gab und das ganze Essen selbst machte ... Oh, und ich würde den Leuten sagen müssen, dass Tara Zwillinge bekam, denn ich zweifelte nicht eine Sekunde lang an der Richtigkeit von Claudes Aussage.

Aber als Nächstes sollte ich erst mal selbst in meinen Wald gehen, dachte ich, morgen vielleicht. Dann würde ich allein sein. Ich wusste, das Heidis Nase und Augen - und natürlich auch Basims - sehr viel feiner und schärfer waren als meine. Aber ich hatte das unbezwingbare Bedürfnis, zu sehen, was ich selbst sehen konnte. Und wieder regte sich in meinem Hinterkopf etwas, eine Erinnerung, die keine Erinnerung war. Etwas, das mit dem Wald zu tun hatte... mit einem verletzten Mann im Wald. Ich schüttelte den Kopf, um mich von dieser Benommenheit zu befreien, und merkte, dass ich keine Stimmen mehr hörte.

»Claude«, rief ich.

»Hier!«

Ich ging um ein paar Büsche herum und sah, dass der Elf und der kleine Junge sich auf dem Drehwurm amüsierten. So jedenfalls hatte ich das Gerät immer genannt. Es ist rund, ein paar Kinder können drin stehen, einige andere laufen drum herum und stoßen es an, und dann dreht es sich wild im Kreis, bis der Schwung nachlässt. Claude stieß es viel zu heftig an, und obwohl es Hunter Spaß machte, wirkte sein Lächeln doch etwas angespannt. Ich spürte die Angst, die in seinen Gedanken durch die Freude sickerte.

»So, Claude«, sagte ich in ruhigem Ton, »das ist jetzt genug, sonst kriegt Hunter noch einen Drehwurm.« Claude hörte auf, das Gerät anzustoßen, wenn auch widerwillig. Er selbst amüsierte sich prächtig.

Hunter wehrte meine Warnung zwar mit einem »Pah« ab, doch ich wusste sehr gut, wie erleichtert er war. Er umarmte Claude, als der ihm sagte, dass er jetzt nach Monroe fahren und seinen Club öffnen müsse. »Was für einen Club?«, fragte Hunter, und ich musste Claude einen bedeutungsschwangeren Blick zuwerfen und auch meine eigenen Gedanken auf etwas anderes lenken.

»Bis bald, Kumpel«, sagte der Elf und umarmte den Jungen ebenfalls.

Es war bereits Zeit für einen frühen Lunch, also machte ich Hunter eine Freude und fuhr mit ihm zu McDonald's. Sein Vater hatte Fast Food nicht ausdrücklich verboten, und ein Besuch würde schon nicht schaden, dachte ich.

Hunter liebte sein Happy Meal und ließ das Spielzeugauto so lange zwischen uns über die Tischplatte sausen, bis ich es absolut satthatte. Dann wollte er in den Spielbereich. Ich saß auf einer Bank, sah ihm zu und hoffte, er würde wenigstens noch weitere zehn Minuten Freude an den Tunneln und Rutschen haben, als eine Frau mit einem kleinen Jungen in Hunters Alter im Schlepptau in den abgegrenzten Bereich hereinkam. Obwohl ich ein unheilschwangeres Dröhnen quasi wie von Basstrommeln wahrnahm, lächelte ich einfach immer weiter und hoffte auf das Beste.

Die beiden Jungen musterten sich ein paar Augenblicke misstrauisch. Doch dann begannen sie, kreischend zusammen durch den kleinen Spielbereich zu toben, und ich entspannte mich, blieb aber wachsam. Ich riskierte es, der Mutter ein Lächeln zuzuwerfen. Aber sie grübelte vor sich hin. Ich musste nicht erst ihre Gedanken lesen, um zu wissen, dass sie einen schlechten Vormittag gehabt hatte. (Ihr Wäschetrockner war kaputtgegangen, und einen neuen würde sie sich frühestens in zwei Monaten leisten können.)

»Ist das Ihr Jüngster?«, fragte ich und versuchte, fröhlich und interessiert zu wirken.

»Ja, der Jüngste von vier Jungs«, sagte sie, was ihre Verzweiflung über den Wäschetrockner erklärte. »Die andern drei sind alle beim Baseballtraining der Little League. Aber bald sind Sommerferien, und dann hocken sie drei Monate lang nur zu Hause.«

Oh. Jetzt fehlten mir glatt die Worte.

Meine widerwillige Gefährtin versank wieder in ihre düsteren Gedanken, und ich tat mein Bestes, mich dort herauszuhalten. Doch es war ein regelrechter Kampf, denn sie war wie ein schwarzes Loch, das unglückliche Gedanken ansog und mich gleich mit zu verschlucken drohte.

Da blieb plötzlich Hunter vor ihr stehen und sah sie mit offenstehendem Mund fasziniert an.

»Hallo«, sagte die Frau, womit sie sich schon richtig Mühe gegeben hatte.

»Willst du wirklich weglaufen?«, fragte Hunter.

Das war definitiv einer jener Momente, in denen man nur noch »Oh, Mist!« rufen konnte. »Hunter, wir müssen gehen«, sagte ich rasch. »Komm, los jetzt. Wir sind schon zu spät dran!« Ich nahm Hunter auf den Arm und trug ihn weg, obwohl er sich protestierend wand (und außerdem viel schwerer war, als er aussah). Einmal trat er mir sogar so heftig gegen den Oberschenkel, dass ich ihn fast fallen ließ.

Die Mutter starrte uns aus dem Spielbereich hinterher, jetzt stand ihr der Mund offen. Ihr kleiner Sohn hatte sich zu ihr gesellt, verwirrt über den plötzlichen Aufbruch seines Spielkameraden.

»Es war so schön«, schrie Hunter. »Warum gehen wir schon?«

Ich sah ihm direkt in die Augen. »Hunter, du bist jetzt still, bis wir im Auto sind«, sagte ich und meinte jedes Wort genau so. Als ich den schreienden Jungen durch das Schnellrestaurant trug, hatten sich aller Augen auf uns gerichtet, und diese Aufmerksamkeit gefiel mir gar nicht. Außerdem hatte ich einige Leute bemerkt, die ich kannte und die mir sicher irgendwann blöde Fragen stellen würden. Das war zwar nicht Hunters Fehler, aber es machte mich auch nicht gerade freundlicher.

Als ich ihn anschnallte, sah ich, dass Hunter total müde und völlig überdreht war. So weit hätte ich es gar nicht erst kommen lassen dürfen, sagte ich mir. Ich konnte quasi fühlen, wie sein kleines Hirn hin und her wackelte.

Hunter sah mich an, als hätte ich ihm das Herz gebrochen. »Es war so schön«, wiederholte er. »Der Junge war mein Freund.«

Ich drehte mich zu ihm, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Hunter, du hast etwas zu seiner Mom gesagt, woran sie erkennen kann, dass du anders bist.«

Er war schon vernünftig genug, um einzusehen, dass ich die Wahrheit sagte. »Sie war richtig böse«, murmelte er. »Moms lassen ihre Kinder allein.«

Seine eigene Mutter hatte ihn allein gelassen.

Ich dachte einen Augenblick lang nach, was ich darauf sagen sollte, beschloss dann aber, auf dieses dunkle Thema nicht weiter einzugehen. Hadley hatte Remy und Hunter verlassen, und jetzt war sie tot und würde nie wiederkommen. Das waren Tatsachen. Und es gab nichts, was ich daran ändern konnte. Remy wollte, dass ich Hunter dabei half, den Rest seines Leben gut zurechtzukommen.

»Hunter, es ist nicht leicht. Ich weiß. Ich habe das Gleiche durchgemacht. Du konntest hören, was diese Mom gedacht hat und hast es dann laut ausgesprochen.«

»Aber sie hat es gesagt! In ihrem Kopf!«

»Aber nicht laut.«

»Sie hat es aber gesagt

»In ihrem Kopf.« Jetzt war er einfach nur dickköpfig. »Hunter, du bist noch sehr jung. Aber damit dein Leben leichter wird, musst du zuerst nachdenken, bevor du redest.«

Hunters Augen waren ganz groß und randvoll mit Tränen.

»Du musst nachdenken, und du musst im Zweifelsfall den Mund halten.«

Zwei große Tränen kullerten ihm über die geröteten Wangen. Ojemine.

»Du darfst den Leuten keine Fragen stellen über das, was du aus ihren Gedanken weißt. Erinnerst du dich noch daran, dass wir über Privatsphäre gesprochen haben?«

Er nickte einmal unsicher, und dann noch mal energischer. Er erinnerte sich.

»Die Leute - Erwachsene und Kinder - werden richtig böse auf dich, wenn sie merken, dass du ihre Gedanken lesen kannst. Denn all die Gedanken in ihrem Kopf sind privat. Du willst doch bestimmt auch nicht, dass dir jemand sagt, du denkst gerade daran, wie nötig du aufs Klo musst.«

Hunter starrte mich finster an.

»Na siehst du. Das ist kein schönes Gefühl, oder?«

»Nein«, gab er widerwillig zu.

»Ich möchte, dass du so normal wie möglich aufwächst«, sagte ich. »Mit dieser Fähigkeit aufzuwachsen ist nicht einfach. Kennst du denn irgendwelche Kinder mit Problemen, die jeder sehen kann?«

Nach einem Augenblick nickte er. »Jenny Vasco. Sie hat einen großen Fleck im Gesicht.«

»Es ist genau das Gleiche, nur dass du deinen Unterschied verstecken kannst, und Jenny nicht«, erklärte ich. Jenny Vasco tat mir leid. Außerdem schien es falsch, einem kleinen Jungen beizubringen, dass er verschlossen und verschwiegen sein sollte. Doch die Welt war nicht reif für einen gedankenlesenden Fünfjährigen und würde es vermutlich auch nie sein.

Ich fühlte mich wie eine fiese alte Hexe, als ich sein unglückliches und tränenüberströmtes Gesicht sah. »Wir fahren jetzt nach Hause, und ich lese dir eine Geschichte vor.«

»Bist du böse auf mich, Tante Sookie?«, fragte er mit einem unterdrückten Schluchzen.

»Nein«, sagte ich. Obwohl ich es gar nicht mag, getreten zu werden, fügte ich in Gedanken hinzu. Und da er das nun schon wusste, erklärte ich es ihm besser noch einmal. »Ich mag es nicht, wenn man mich tritt, Hunter, aber ich bin nicht böse auf dich. Ich bin nur böse auf den Rest der Welt, weil das alles so schwierig ist für dich.«

Während der Heimfahrt schwieg er. Zu Hause angekommen, verschwand er erst einmal im Badezimmer, bevor wir uns mit einem Stapel Bücher aufs Sofa setzten. Hunter schlief ein, noch ehe ich >Taps, der Tollpatsch< zu Ende vorgelesen hatte. Vorsichtig legte ich ihn bequem hin, zog ihm die Schuhe aus und griff dann nach meinem eigenen Buch. Ich las, während er einen Mittagsschlaf hielt. Ab und zu stand ich auf, um irgendeine kleine Aufgabe zu erledigen. Hunter schlief fast zwei Stunden lang, eine Zeit, die ich als unglaublich friedvoll empfand, aber vielleicht langweilig gefunden hätte, wenn Hunter nicht den ganzen Tag um mich gewesen wäre.

Nachdem ich die Waschmaschine angestellt hatte, schlich ich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer zurück und betrachtete den schlafenden Jungen. Würde mein Kind, wenn ich ein Baby bekäme, dieselben Probleme haben wie Hunter? Ich hoffte nicht. Natürlich, wenn Eric und ich zusammenblieben, würde ich nie ein Baby bekommen, es sei denn durch künstliche Befruchtung. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich Eric fragte, was er davon hielte, wenn ich von einem Fremden schwanger würde - und musste, auch wenn's peinlich ist, es zuzugeben, ein Kichern unterdrücken.

Eric war in mancher Hinsicht sehr modern. Er schätzte die Vorzüge seines Handys, er liebte automatische Garagenöffner und sah gern die Nachrichten im Fernsehen. Aber künstliche Befruchtung... das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich kannte sein vernichtendes Urteil in puncto Schönheitsoperationen und hatte ganz stark das Gefühl, dass diese Sache für ihn in dieselbe Kategorie fiel.

»Worüber lachst du, Tante Sookie?«, fragte Hunter plötzlich.

»Ach nichts«, erwiderte ich. »Wie wär's denn jetzt mit ein paar Apfelschnitzen und einem Glas Milch?«

»Kein Eis?«

»Na, du hattest zum Lunch Hamburger, Pommes frites und Coke. Ich glaube, jetzt sind mal wieder Apfelschnitze dran.«

Ich ließ >Der König der Löwen< laufen, während ich Hunters Snack zubereitete, und er blieb vor dem Fernseher auf dem Fußboden sitzen, während er aß. Hunter wurde nach der Hälfte des Films (den er natürlich schon kannte) langweilig, und so brachte ich ihm »Mensch ärgere dich nicht« bei. Er gewann die erste Runde.

Als wir mitten in der zweiten Runde waren, klopfte es. »Daddy!«, rief Hunter und rannte zur Tür. Noch ehe ich ihn aufhalten konnte, hatte er sie aufgerissen. Ich war froh, dass er schon gewusst hatte, wer gekommen war, denn einen Moment lang hatte ich ein ungutes Gefühl gehabt. Doch da stand Remy in weißem Hemd, Anzughosen und polierten Schnürschuhen und wirkte wie ein völlig anderer Mann. Er lächelte Hunter an, als hätte er seinen Sohn seit Tagen nicht gesehen. Im Nu hatte er den Jungen auf dem Arm.

Es war herzerwärmend. Sie umarmten einander ganz fest. Ich bekam einen Kloß im Hals.

Im nächsten Augenblick erzählte Hunter seinem Vater schon von »Mensch ärgere dich nicht« und von McDonald's und von Claude, und Remy hörte sich alles mit ungeteilter Aufmerksamkeit an. Er lächelte mir kurz zu, um mich wissen zu lassen, dass er mich begrüßen werde, sobald dieser Strom an Informationen etwas nachließ.

»Hunter, willst du nicht deine Sachen einpacken gehen? Aber vergiss nichts«, sagte Remy schließlich zu seinem Sohn. Mit einem kurzen Lächeln in meine Richtung flitzte Hunter quer durchs Haus in sein Zimmer.

»War alles okay?«, fragte Remy, als Hunter außer Hörweite war. In gewisser Weise war Hunter ja nie außer Hörweite, aber besser ging es eben nicht.

»Ja, ich finde schon. Er war sehr lieb«, erwiderte ich, denn ich hatte beschlossen, den Tritt für mich zu behalten. »Nur im Spielbereich bei McDonald's hatten wir ein kleines Problem. Aber ich glaube, darüber haben wir uns danach gut unterhalten.«

Remy wirkte, als wäre ihm soeben eine neue Last auf die Schultern geladen worden. »Das tut mir leid«, erwiderte er, und ich hätte mir - tja, einen Tritt versetzen können.

»Nicht doch, es ging um nichts Weltbewegendes, eigentlich um genau das, wobei ich ihm helfen kann. Und deshalb haben Sie ihn doch zu mir gebracht«, sagte ich. »Machen Sie sich keine Sorgen. Mein Cousin Claude war auch hier und hat mit Hunter im Park gespielt - aber ich war natürlich die ganze Zeit dabei.« Ich wollte nicht, dass Remy den Eindruck bekam, ich hätte Hunter an irgendeinen älteren Verwandten abgeschoben. Was könnte ich dem besorgten Vater denn noch erzählen, überlegte ich. »Er hat richtig viel gegessen und sehr gut geschlafen. Wenn auch nicht besonders lange«, fügte ich hinzu, und Remy lachte.

»Das kenne ich zur Genüge«, erwiderte er.

Ich wollte Remy eigentlich auch noch erzählen, dass Eric im Wandschrank schlief und Hunter ihn kurz gesehen hatte, doch mich beschlich das undeutliche Gefühl, dass Eric dann doch zu viel des Guten wäre. Ich hatte bereits von Claude gesprochen, und Remy schien schon davon nicht so furchtbar begeistert gewesen zu sein. Die typische Reaktion eines Vaters vermutlich.

»Ist auf der Beerdigung alles gut gegangen? Keine Pannen in letzter Minute?« Man weiß nie, wie man sich über Beerdigungen unterhalten soll.

»Keiner hat sich ins Grab geworfen oder ist in Ohnmacht gefallen«, sagte Remy. »Mehr kann man wohl nicht erwarten. Nur etwas Geplänkel über einen Esstisch, den die Kinder der Toten am liebsten sofort in ihre Pick-ups geladen hätten.«

Ich nickte. Über die Jahre hatte ich eine Menge düstere Gedanken über Erbstreitigkeiten gehört, und ich hatte meine eigenen Probleme mit Jason gehabt, als unsere Großmutter starb. »Die Leute zeigen sich nicht unbedingt von ihrer nettesten Seite, wenn es darum geht, einen Haushalt aufzulösen.«

Ich bot Remy einen Drink an, doch er lehnte lächelnd ab. Offenbar wollte er gern allein sein mit seinem Sohn, und er löcherte mich noch mit Fragen nach Hunters Manieren, die ich nur loben konnte, und nach seinem Essverhalten, das ich auch nur bewundern konnte. Hunter war kein mäkeliges Kind, und das war einiges wert.

Nach einigen Minuten kam Hunter tatsächlich mit fast all seinen Sachen ins Wohnzimmer zurück. Ich machte rasch noch einen Kontrollgang und fand zwei Duplos, die er übersehen hatte. Und da ihm >Taps, der Tollpatsch< so sehr gefallen hatte, steckte ich ihm das Buch in den Rucksack. Daran hatte er sicher auch zu Hause noch seine Freude. Nach ein paar weiteren Dankeschöns und einer ganz unerwarteten Umarmung von Hunter machten die beiden sich auf den Weg.

Ich sah Remys altem Pick-up hinterher, als er die Auffahrt hinunter entschwand.

Das Haus wirkte plötzlich seltsam leer.

Sicher, Eric schlief darunter, aber er war noch ein paar weitere Stunden lang tot, und ich wusste, dass ich ihn nur in einer ernsten Notlage wecken durfte. Die meisten Vampire konnten tagsüber gar nicht erwachen, nicht mal, wenn man sie in Brand setzte. Doch diese Erinnerung verdrängte ich lieber, denn sie machte mich schaudern. Ich sah auf die Uhr. Ein Teil des sonnigen Nachmittags gehörte noch mir, und es war mein freier Tag.

Und was soll ich sagen: Noch ehe jemand »Sonnenbaden ist ungesund« sagen konnte, lag ich in meinem schwarz-weißen Bikini draußen in dem alten Liegestuhl.