Kapitel 11

Er hätte mich etwa sechzigmal umbringen können in den Sekunden, die ich einfach nur dastand. Doch trotz der Tatsache, dass er es nicht getan hatte, ließ ich ihn nicht aus den Augen.

»Hab keine Angst«, sagte Dermot und erhob sich mit einer Anmut, die Jason nie hinbekommen hätte. Er bewegte sich so geschmeidig, als wären seine Gelenke geölt.

Mit tauben Lippen sagte ich: »Kann's nicht ändern.«

»Ich will etwas erklären«, sagte er und kam näher.

»Erklären?«

»Ich wollte euch beide besser kennenlernen«, sagte er, während er noch näher kam. Jetzt konnte von einem Höflichkeitsabstand schon keine Rede mehr sein. Seine Augen waren blau wie Jasons, aufrichtig wie Jasons, aber es stand - ehrlich gesagt - ein irrer Blick darin. Nicht wie bei Jason. »Ich war verwirrt.«

»Worüber?« Ich wollte das Gespräch unbedingt in Gang halten, denn ich hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn es stockte.

»Darüber, wo meine Loyalitäten lagen«, erwiderte er und neigte seinen Kopf graziös wie ein Schwan.

»Natürlich. Erzähl doch mal.« Oh, hätte ich bloß meine mit Zitronensaft geladene Wasserpistole in der Handtasche gehabt! Aber ich hatte Eric versprochen, sie auf meinen Nachttisch zu legen, als Claude bei mir einzog. Deshalb lag sie jetzt auch dort. Und der kleine Eisenspaten war auch da, wo er hingehörte, nämlich im Geräteschuppen.

»Gern«, sagte er und blieb so dicht vor mir stehen, dass ich seinen Geruch wahrnehmen konnte. Er roch großartig. Das tun alle Elfen. »Ich weiß, dass du meinen Vater Niall kennengelernt hast.«

Ich nickte ganz leicht. »Ja«, sagte ich, nur zur Sicherheit.

»Mochtest du ihn?«

»Ja«, sagte ich ohne Zögern. »Ich mochte ihn. Mag ihn.«

»Es fällt leicht, ihn zu mögen. Er ist charmant«, fuhr Dermot fort. »Meine Mutter, Einin, war auch schön. Nicht schön auf Elfenart, wie Niall, aber schön auf Menschenart.«

»Das hat Niall mir auch erzählt«, sagte ich. Jede Antwort war wie ein weiterer Schritt durch ein Minenfeld.

»Hat er dir auch erzählt, dass die Wasserelfen meinen Zwillingsbruder ermordet haben?«

»Ob Niall selbst es mir erzählt hat? Nein, aber ich habe davon gehört.«

»Ich habe Teile von Fintans Leiche gesehen. Neave und Lochlan hatten ihn in Stücke gerissen.«

»Sie haben auch geholfen, meine Eltern zu ertränken«, gab ich zurück und hielt den Atem an. Was würde er dazu sagen?

»Ich ...« Er rang um Worte. Verzweiflung stand ihm im Gesicht. »Aber ich war nicht dort. Ich ... Niall...« Es war schrecklich mit anzusehen, wie Dermot nach Worten suchte. Ich hätte kein Mitleid mit ihm haben sollen, da Niall mir ja erzählt hatte, welche Rolle Dermot beim Tod meiner Eltern gespielt hatte. Aber seinen Schmerz konnte ich trotzdem kaum ertragen.

»Wie kam es dazu, dass du im Elfenkrieg letztlich auf Seiten von Breandans Streitkräften standest?«

»Er sagte, mein Vater habe meinen Bruder ermordet«, sagte Dermot niedergeschlagen. »Und ich habe ihm geglaubt. Ich misstraute meiner Liebe für Niall. Wann immer ich mich erinnerte, wie unglücklich meine Mutter war, als Niall sie nicht mehr besuchen kam, dachte ich, Breandan müsse recht haben und wir seien nicht dafür gemacht, uns unter die Menschen zu mischen. Es scheint nie ein gutes Ende zu nehmen für sie. Und ich hasste mich selbst für das, was ich war, halb Mensch. Ich fühlte mich nie irgendwo zu Hause.«

»Geht's dir denn jetzt besser damit? Damit, halb Mensch zu sein, meine ich.«

»Ich habe mich damit abgefunden. Mein Handeln war falsch, das weiß ich, und ich bin tief betrübt, dass mein Vater mich nicht in die Elfenwelt einlässt.« Seine großen blauen Augen wirkten traurig. Doch ich war viel zu sehr darauf bedacht, bloß nicht zu zittern, um es richtig wahrzunehmen.

Einatmen, ausatmen. Ruhig,ganz ruhig. »Jetzt glaubst du also, dass Jason und ich okay sind? Du hast nicht mehr vor, uns etwas anzutun?«

Er legte die Arme um mich. Herrje, zurzeit lief wirklich die Aktion Eine-Umarmung-für-Sookie, nur dass mich keiner vorgewarnt hatte. Elfen waren ziemlich gefühlsduselig und fassten einen gern an, so was wie einen Höflichkeitsabstand kannten sie nicht. Ich hätte meinen Großonkel am liebsten gebeten, mich loszulassen. Aber das wagte ich nicht. Ich musste nicht Dermots Gedanken lesen können, um zu erkennen, dass er aus dem nichtigsten Grund explodieren könnte, so sehr wie er seelisch aus dem Gleichgewicht war. Es kostete mich all meine Willenskraft, ganz ruhig weiterzuatmen, damit ich nicht wie Espenlaub zu zittern begann. Seine Nähe, meine Anspannung, ihm derart ausgeliefert zu sein, die enorme Kraft, die durch seine Arme strömte, das alles führte mich in Gedanken zurück in eine düstere verfallene Bruchbude zu zwei irren Elfen, die ihren Tod wirklich verdient hatten. Meine Schultern zuckten, und sofort blitzte Panik in Dermots Augen auf.

Ruhig, sei ganz ruhig.

Ich lächelte ihn an. Die Leute sagen immer, ich hätte so ein strahlendes Lächeln. Aber ich weiß natürlich, dass es ein wenig zu strahlend ist, ein wenig verrückt. Wenigstens passte es jetzt perfekt zur Situation. »Als du Jason das letzte Mal gesehen hast...«, begann ich, wusste dann aber nicht, wie ich den Satz beenden sollte.

»... habe ich seinen Freund angegriffen. Das Ungeheuer, das Jasons Ehefrau verletzt hatte.«

Ich schluckte schwer, lächelte aber weiter. »Es wäre vermutlich besser gewesen, wenn du Jason erzählt hättest, warum du dir Mel schnappst. Übrigens war es gar nicht Mel, der sie umgebracht hat.«

»Ja, es war mein eigenes Volk, das sie ermordet hat. Aber sie wäre sowieso gestorben. Er hatte sie hilflos liegen lassen.«

Da konnte ich schlecht widersprechen, denn mit dem, was Crystal widerfahren war, hatte er recht. Allerdings fiel mir auf, dass Dermot mir keine schlüssige Antwort darauf gegeben hatte, warum er Jason von Mels Untat nicht erzählt hatte. »Aber du hast es Jason nicht erklärt«, sagte ich daher und atmete ein und wieder aus - auf besänftigende Weise. Wie ich hoffte. Und tatsächlich: je länger ich Dermot berührte, desto ruhiger schienen wir beide zu werden. Und Dermot wirkte auch viel zugänglicher.

»Meine Gefühle standen in einem großen Konflikt«, sagte er sehr ernsthaft und zu meinem Erstaunen in modernem Psychojargon.

Das war vielleicht die beste Antwort, die ich von ihm kriegen würde. Aber ich schlug noch eine andere Richtung ein. »Willst du Claude sehen?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Er wohnt jetzt nämlich bei mir, nur vorübergehend, und kommt bald nach Hause.«

»Ich bin nicht der Einzige, weißt du«, sagte Dermot. Ich blickte auf und sah ihm direkt in die irren Augen. Mein Großonkel versuchte, mir irgendetwas zu sagen, das verstand ich. Herrgott, wenn ich ihm doch nur etwas mehr Vernunft einimpfen könnte. Nur für fünf Minuten. Ich trat einen Schritt zurück und versuchte zu erraten, wovon er sprach.

»Ja, du bist nicht der einzige Elf, der in der Welt der Menschen lebt. Claude ist auch noch hier. Gibt's sonst noch wen?« Jetzt wäre meine Telepathie doch wirklich mal praktisch gewesen.

»Ja. Ja.« Sein Blick bat mich inständig, ihn doch zu verstehen.

Ich riskierte eine ganz direkte Frage. »Wer sonst lebt noch auf dieser Seite der Elfenwelt?«

»Du willst ihm nicht begegnen«, versicherte Dermot mir. »Du musst vorsichtig sein. Er kann sich im Augenblick nicht entscheiden. Er ist ambivalent.«

»Okay.« Wer immer dieser »er« auch sein mochte, der Einzige mit gemischten Gefühlen war er nicht. Wenn ich nur gewusst hätte, wie Dermots Kopf zu knacken war.

»Manchmal ist er in deinem Wald.« Dermot legte mir die Hände auf die Schultern und drückte sie sanft. Es war, als versuchte er, mir Dinge zu vermitteln, die er mir nicht direkt sagen konnte.

»Hab ich schon gehört«, erwiderte ich säuerlich.

»Vertrau keinem Elfen«, riet Dermot mir. »Ich hätte es auch nicht tun sollen.«

Plötzlich war mir, als schwebte eine riesige Glühbirne über meinem Kopf. »Stehst du unter dem magischen Bann von irgendwem, Dermot? Hat dich jemand verhext?«

Die Erleichterung in seinen Augen war beinahe greifbar. Er nickte ungestüm. »Solange sie nicht Krieg führen, töten Elfen ungern andere Elfen. Außer Neave und Lochlan. Sie haben gern getötet, alles. Aber ich bin nicht tot. Also gibt es noch Hoffnung.«

Elfen töteten vielleicht nicht gern Angehörige ihres eigenen Volkes, aber sie hatten offenbar nichts dagegen, sie mit Irrsinn zu schlagen. »Kann ich irgendetwas tun, um diesen Fluch rückgängig zu machen? Kann Claude helfen?«

»Claude hat kaum noch magische Kräfte, glaube ich«, sagte Dermot. »Er lebt schon zu lange wie ein Mensch. Meine liebe Nichte, ich liebe dich. Wie geht es deinem Bruder?«

Jetzt waren wir wieder im Land des Irrsinns. Gott schütze den armen Dermot. Einer spontanen Regung folgend, umarmte ich ihn. »Mein Bruder ist glücklich, Onkel Dermot. Er hat eine Freundin, die gut zu ihm passt und sich von ihm nichts bieten lässt. Sie heißt Michele - wie meine Mom, aber nur mit einem l statt mit zweien.«

Dermot lächelte mich an. Schwer zu sagen, wie viel von all dem er begriff.

»Tote Wesen lieben dich«, sagte Dermot, und ich zwang mich, immer weiter zu lächeln.

»Eric der Vampir? Ja, das sagt er jedenfalls.«

»Auch andere tote Wesen, sie zehren an dir.«

Das war eine nicht so willkommene Enthüllung. Aber Dermot hatte recht. Wie immer spürte ich Eric über unsere Blutsbande, doch jetzt waren die ganze Nacht lang auch noch zwei andere graue Schatten bei mir: Alexej und Appius Livius. Es erschöpfte mich, und das war mir bis zu diesem Augenblick noch nicht einmal klar geworden.

»Heute Nacht«, sagte Dermot, »bekommst du Besuch.«

Jetzt war er also auch noch Prophet. »Nette Leute?«

Er zuckte die Achseln. »Das ist eine Frage von Geschmack und Vorliebe.«

»Bist du eigentlich oft auf meinem Land unterwegs, Onkel Dermot?«

»Zu viel Angst vor dem anderen«, sagte er. »Aber ich versuche, ein wenig auf dich aufzupassen.«

Ich dachte noch darüber nach, ob das nun gut war oder schlecht, als er plötzlich verschwand. Einfach so. Puff! Ich sah noch einen Schemen und dann nichts mehr. In einem Moment lagen seine Hände auf meinen Schultern, im nächsten nicht mehr. Die Anspannung, mit jemand anderem zu reden, war Dermot vermutlich zu viel geworden.

Junge. Das war ja richtig, richtig unheimlich gewesen.

Ich sah mich um, ob ich irgendeinen anderen Hinweis auf ihn entdecken konnte. Vielleicht kam er sogar noch mal zurück. Aber nichts geschah. Außer dem prosaischen Knurren meines Magens, der mich daran erinnerte, dass ich zum Lunch nichts gegessen hatte und es höchste Zeit fürs Abendessen war, war nichts zu hören. Auf zittrigen Beinen ging ich ins Haus und sackte am Küchentisch zusammen. Gespräch mit einem Spion. Interview mit einem irren Elfen. Oh, ja, ruf Jason an und sag ihm, dass er wieder Elfen-Wache halten muss! Wenigstens war das etwas, das ich im Sitzen erledigen konnte.

Nach dem Telefonat fiel mir ein, dass ich die Zeitungen noch hereinholen musste, und stellte dabei fest, dass meine Beine mir nicht länger den Dienst versagten. Und so las ich die Zeitungen der letzten beiden Tage, während ich mir im Ofen eine Fertigpastete warm machte.

Leider standen schon auf der ersten Seite jede Menge Schrecklichkeiten. In Shreveport hatte es einen grausamen Mord gegeben, der vermutlich mit einer Auseinandersetzung unter Gangs zu tun hatte. Das Opfer, ein junger Schwarzer, war in den Farben einer Gang gekleidet gewesen, was für die Polizei wie ein blinkender Pfeil in diese Richtung wies. Er war allerdings nicht erschossen worden, sondern man hatte unzählige Male mit einem Messer auf ihn eingestochen und ihm dann noch die Kehle aufgeschlitzt. Igitt. Klang für meine Ohren eher nach was Persönlichem als nach einem Gangmord. Und in der nächsten Nacht passierte noch einmal das Gleiche. Diesmal traf es einen Neunzehnjährigen, der die Farben der feindlichen Gang trug. Er war auf die gleiche schreckliche Weise gestorben. Ich schüttelte den Kopf über die Tatsache, dass diese jungen Männer aus für mich vollkommen nichtigen Gründen gestorben waren, und wandte mich einem anderen Artikel zu, den ich sehr spannend, aber auch sehr beunruhigend fand.

Die Diskussion über die Registrierungspflicht für Wergeschöpfe nahm an Schärfe zu. Der Zeitung zufolge drehte sich die große Kontroverse allein um die Werwölfe. Andere Zweigestaltige kamen in diesem Artikel kaum vor, obwohl ich mindestens einen Werfuchs, eine Werfledermaus, zwei Wertiger, etliche Werpanther und einen Gestaltwandler kannte. Die Werwölfe, die am zahlreichsten waren unter den Zweigestaltigen, traf es mit voller Wucht. Und sie wehrten sich nach Kräften, was vollkommen richtig war.

»Warum sollte ich mich registrieren lassen, als wäre ich ein illegaler Fremder oder tot?«, wurde Scott Wacker, ein Armeegeneral, zitiert. »Meine Familie ist seit sechs Generationen in Amerika, und wir sind alle bei der Armee. Meine Tochter ist im Irak. Reicht das nicht?«

Der Gouverneur eines Bundesstaates im Nordwesten sagte: »Wir müssen wissen, wer Werwolf ist und wer nicht. Wenn Polizisten es bei einem Unfall mit Toten zu tun haben, müssen sie es zum Beispiel wissen, um sich nicht mit verseuchtem Blut zu infizieren. Und es erleichtert die Identifizierung.«

Ich stach mit der Gabel die heiße Pastete auseinander, damit sie schneller kalt wurde. Dann dachte ich über das eben Gelesene nach. Schwachsinn, entschied ich.

»Das ist Humbug«, entgegnete General Wacker im nächsten Absatz. Wacker und ich hatten also etwas gemeinsam. »Zum einen: Wir verwandeln uns in Menschen zurück, wenn wir tot sind. Und Polizisten tragen heutzutage sowieso schon Handschuhe, wenn sie mit Leichen zu tun haben. Die Identifizierung ist nicht problematischer als bei den Eingestaltigen auch. Warum sollte sie das auch sein?«

Gib's ihnen, Wacker.

Der Zeitung zufolge reichte die Menge derer, die sich an der Debatte beteiligten, von den Menschen auf der Straße (einschließlich jener, die nicht einfach nur Menschen waren) bis zu den Mitgliedern des Kongresses, vom Armeepersonal bis zu Feuerwehrleuten, von Gesetzesexperten bis zu Verfassungsrechtlern.

Anstatt global oder national zu denken, versuchte ich einzuschätzen, wie sich die Dinge im Merlotte's entwickelt hatten seit der Enthüllung. War der Umsatz eingebrochen? Ja, anfangs hatte es einen leichten Rückgang gegeben, gleich nachdem die Gäste Sam bei der Verwandlung in einen Hund und Tray bei der Verwandlung in einen Wolf zugesehen hatten. Aber dann hatten die Leute begonnen, wieder so viel zu trinken wie früher.

War es also eine künstlich aufgebauschte Diskussion?

Nicht so sehr, wie mir lieb gewesen wäre, dachte ich, nachdem ich noch ein paar weitere Artikel gelesen hatte.

Manche Leute verabscheuten regelrecht den Gedanken, dass Personen, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannten, noch eine andere, mysteriöse Seite hatten, eine Seite, die der Öffentlichkeit bislang verborgen geblieben war. Das war jedenfalls der Eindruck, den ich gewonnen hatte, und so schien es immer noch zu sein. Keiner rückte auch nur einen Millimeter von seinem Standpunkt ab, während die Werwölfe immer wütender wurden und die Öffentlichkeit immer mehr Angst bekam. Zumindest ein sehr stark das Wort ergreifender Teil der Öffentlichkeit.

In Redding, Kalifornien, und Lansing, Michigan, hatte es Demonstrationen und Unruhen gegeben. Ob so was auch hier oder in Shreveport möglich war? Ich fand es eher unwahrscheinlich und die Vorstellung furchtbar. Durchs Küchenfenster sah ich hinaus in die hereinbrechende Abenddämmerung, als erwartete ich, eine Menschenmenge mit Fackeln aufs Merlotte's zumarschieren zu sehen.

Es war ein seltsam trister Abend. Es gab kaum etwas aufzuräumen, nachdem ich gegessen hatte, all meine Wäsche war gewaschen und im Fernsehen lief nichts, was ich sehen wollte. Ich rief meine E-Mails ab: keine Nachricht von Judith Vardamon.

Aber von Alcide war eine E-Mail gekommen: »Sookie, wir haben die Rudelversammlung auf Montagabend um acht bei mir zu Hause angesetzt. Wir müssen uns noch um einen Schamanen bemühen, der die Beurteilung vornimmt. Ich erwarte Dich und Jason dann.« Es war schon fast eine Woche her, seit wir Basims Leiche im Wald gefunden hatten, und jetzt hörte ich zum ersten Mal etwas in der Angelegenheit. Aus den »ein oder zwei Tagen« waren sechs geworden. Und das hieß auch, dass ich wirklich schon sehr lange nichts von Eric gehört hatte.

Ich rief noch einmal Jason an und hinterließ eine Nachricht auf der Mailbox seines Handys. Und obwohl ich versuchte, mir keine Sorgen zu machen, musste ich daran denken, dass noch jedes Mal, wenn ich mit dem ganzen Rudel zu tun hatte, irgendetwas Gewalttätiges und Schreckliches passiert war.

Ich dachte noch einmal über den Toten in dem Grab auf der Lichtung nach. Wer hatte ihn dort hingebracht?

Vermutlich wollte der Mörder, dass Basim schwieg. Doch die Leiche war nicht aus Versehen auf meinem Land vergraben worden.

Ich las noch eine halbe Stunde, dann war es vollkommen dunkel, und ich spürte Erics Gegenwart, aber auch die weniger stark ausgeprägte der anderen beiden Vampire, die ihn definitiv begleiteten. Sobald sie erwachten, fühlte ich mich erschöpft. Was meine Gereiztheit derart steigerte, dass ich meinen eigenen Entschluss über Bord warf.

Eric bekam mit, dass ich unglücklich war, das wusste ich. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig. Vielleicht hielt er mich auf Abstand, um mich zu beschützen. Vielleicht wusste er nicht, dass ich sowohl seinen Schöpfer als auch Alexej wahrnahm. Ich holte einmal tief Luft und rief ihn an. Ich presste das Telefon ans Ohr, als hielte ich Eric selbst im Arm. Und ich dachte, und noch vor einer Woche hätte ich das nicht für möglich gehalten: Was, wenn er nicht rangeht?

Das Telefon klingelte, und ich hielt den Atem an. Nach dem zweiten Klingeln nahm Eric ab. »Es gibt einen Termin für die Rudelversammlung«, stieß ich hervor.

»Sookie«, sagte er. »Kannst du herkommen?«

Auf der Fahrt nach Shreveport fragte ich mich mindestens viermal, ob ich das Richtige tat. Aber ich kam zu dem Schluss, dass die Frage, ob ich mich richtig oder falsch verhielt (indem ich sofort zu Eric rannte, als er mich darum bat), eigentlich gar keine war. Wir hingen beide an den entgegengesetzten Enden eines zwischen uns gesponnenen Bandes, eines aus Blut gesponnenen Bandes. Und es dominierte all unsere Gefühle, die wir zu welchem Zeitpunkt auch immer hegten. Ich wusste, dass er lustlos und deprimiert war. Er wusste, dass ich wütend, nervös und verletzt war. Und trotzdem fragte ich mich: Wenn er mich angerufen und ich ihn um dasselbe gebeten hätte, wäre er dann ins Auto gesprungen (oder in den Himmel aufgeflogen) und sofort vor meiner Haustür aufgetaucht?

Sie seien im Fangtasia, hatte er gesagt.

Ich war entsetzt, dass nur so wenige Autos vor der einzigen Vampir-Bar in Shreveport parkten. Das Fangtasia war eine der großen Touristenattraktionen in einer Stadt, deren Besucherzahlen ständig wuchsen, und ich hatte erwartet, dass der Nachtclub voll sein würde. Hinten auf dem Parkplatz für Angestellte parkten fast genauso viele Autos wie vorne vor dem Haupteingang. Das war noch nie vorgekommen.

Maxwell Lee, ein afroamerikanischer Geschäftsmann, der zufällig auch Vampir war, machte Dienst an der Hintertür, auch das eine Premiere. Die Hintertür war nie extra bewacht worden, weil sich die Vampire so sicher waren, dass sie auf sich selbst aufpassen konnten. Doch da stand er, in dem üblichen Dreiteiler, und hatte eine Aufgabe übernommen, die er sonst als unter seiner Würde betrachtet hätte. Und er wirkte nicht verärgert, sondern beunruhigt.

»Wo sind sie?«, fragte ich.

Er wies mit dem Kopf in Richtung des Barraums. »Ich bin froh, dass Sie hier sind«, sagte er, und schon wusste ich, dass der Besuch von Erics Schöpfer gar nicht gut lief.

Besuch von auswärts ist oft furchtbar, stimmt's? Man besichtigt mit den Gästen die Sehenswürdigkeiten ringsum, man verköstigt sie und versucht, sie zu unterhalten, aber dann ertappt man sich bei dem Wunsch, dass sie doch bitte wieder abfahren mögen. Es war nicht schwer zu erkennen, dass Eric mit den Nerven ziemlich am Ende war. Er saß mit Appius Livius Ocella und Alexej an einem Tisch. Alexej sah natürlich viel zu jung aus, um eine Bar wie das Fangtasia besuchen zu dürfen, was die Absurdität der Situation nur noch steigerte.

»Guten Abend«, sagte ich steif. »Eric, du wolltest mich sprechen?«

Eric rutschte näher an die Wand, damit auch ich Platz auf der Sitzbank hatte, und ich setzte mich dazu. Sowohl Appius Livius als auch Alexej begrüßten mich, Appius mit einem angestrengten Lächeln, Alexej etwas ungezwungener. Als wir alle zusammensaßen, merkte ich, dass die Nähe zu ihnen meine innere Anspannung lockerte, jenes Band, dass uns alle miteinander verband.

»Ich habe dich vermisst«, sagte Eric so leise, dass ich zuerst dachte, ich hätte es mir eingebildet.

Ich würde ihn nicht darauf hinweisen, dass er es war, der sich seit Tagen nicht gemeldet hatte. Das wusste er. Doch es bedurfte all meiner Selbstkontrolle, ein paar spitze Bemerkungen hinunterzuschlucken.

»Wie ich dir schon am Telefon zu sagen versuchte, die Rudelversammlung zu Basim ist auf Montag festgesetzt.«

»Wo und wann?«, fragte er, und es lag ein Ton in seiner Stimme, der mir zeigte, dass er nicht gerade glücklich und zufrieden war. Na, da waren wir ja schon zu zweit.

»Bei Alcide. In dem Haus, wo früher sein Dad gewohnt hat. Um acht Uhr.«

»Und Jason begleitet dich? Ganz bestimmt?«

»Ich habe noch nicht mit ihm geredet, ihm aber auf die Mailbox gesprochen.«

»Du warst wütend auf mich.«

»Ich habe mir Sorgen gemacht um dich«, sagte ich, doch ich konnte ihm über meine Gefühle nichts erzählen, was er nicht sowieso schon wusste.

»Ja«, erwiderte Eric mit ausdrucksloser Stimme.

»Eric ist ein ausgezeichneter Gastgeber«, warf der Zarewitsch ein, als würde ich einen Bericht erwarten.

Mühsam gelang es mir, den Jungen anzulächeln. »Freut mich, Alexej. Was hast du in den letzten Tagen denn unternommen? Ich glaube, du warst vorher noch nie in Shreveport.«

»Nein«, sagte Appius Livius mit seinem seltsamen Akzent. »Wir waren noch nie zu Besuch hier. Es ist eine hübsche kleine Stadt. Mein älterer Sohn tut sein Bestes, um für Abwechslung zu sorgen und dafür, dass die Schwierigkeiten nicht überhandnehmen.«

Oha, da schwang eine sarkastische Note mit. An Erics Anspannung konnte ich erkennen, dass er bei der Bewältigung der Aufgabe, »die Schwierigkeiten nicht überhandnehmen« zu lassen, nicht nur Erfolg gehabt hatte.

»Der World Market ist toll«, begann ich. »Dort kann man Dinge aus der ganzen Welt kaufen. Und Shreveport war einst die Hochburg der Konföderierten.« Ach du meine Güte, das musste aber noch besser werden. »Und in der Stadthalle können Sie Elvis' Garderobe besichtigen«, fügte ich in besonders fröhlichem Ton hinzu. Ob Bubba wohl je dort gewesen war, um seine alten Gefilde mal wiederzusehen?

»Ich hatte gestern Nacht einen sehr guten Teenager«, sagte Alexej plötzlich ähnlich vergnügt. Als hätte er erzählt, dass er eine rote Ampel überfahren hatte.

Ich öffnete den Mund, doch es kam nichts heraus. Wenn ich auch nur ein falsches Wort sagte, könnte ich hier und jetzt sterben. »Alexej«, sagte ich und klang viel ruhiger, als ich mich fühlte, »du musst dich zurückhalten. Das ist gegen das Gesetz hier. Dein Schöpfer und Eric könnten beide darunter zu leiden haben.«

»Als ich bei meiner Menschenfamilie lebte, durfte ich tun, was immer ich wollte«, erwiderte Alexej in einem Ton, auf den ich mir keinen Reim machen konnte. »Ich war sehr krank, und sie haben mir jeden Wunsch erfüllt.«

Eric zuckte zusammen.

»Das kann ich verstehen«, sagte ich. »So würde wohl jede Familie mit einem kranken Kind umgehen. Aber da du nun gesund bist und viele Jahre Zeit hattest, um erwachsen zu werden, wirst du sicher verstehen, dass es keine gute Idee ist, immer das zu tun, was du willst.« Mir wären noch mindestens zwanzig weitere Dinge eingefallen, doch ich hörte hier lieber mal auf. Und das war auch gut so. Appius Livius sah mir direkt in die Augen und nickte fast unmerklich.

»Ich sehe aber nicht erwachsen aus«, meinte Alexej.

Wieder gab's viel zu viel, was ich darauf hätte entgegnen können. Der Junge - der sehr alte Junge - erwartete aber definitiv eine Antwort von mir. »Das stimmt, und es ist wirklich ganz furchtbar schrecklich, was deiner Familie widerfahren ist. Aber -«

Dann beugte sich Alexej über den Tisch, ergriff meine Hand und zeigte mir, was ihm und seiner Familie widerfahren war. Ich sah den Keller, die Zarenfamilie, den Arzt und die Kammerfrau, die Männer, die gekommen waren, um sie zu ermorden, ich hörte Schüsse, und die Kugeln fanden ihr Ziel; oder auch nicht, wie im Fall der Frauen, denn sie hatten den Familienschmuck in ihre Mieder eingenäht, für die Flucht, zu der es nie kam. Der Schmuck rettete sie jedoch nur kurze Zeit, bis die Soldaten dazu übergingen, jede einzelne stöhnende, blutende, schreiende Person mit dem Bajonett zu erstechen. Seine Mutter, seinen Vater, seine Schwestern, seinen Arzt, die Kammerfrau seiner Mutter, den Koch, den Kammerdiener seines Vaters... und seinen Hund.

Ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich wankte, obwohl ich saß, und Eric legte mir seinen kalten Arm um die Schultern. Alexej hatte mich losgelassen - nie war ich über irgendetwas in meinem Leben froher gewesen. Diesen Jungen hätte ich um nichts auf der Welt noch einmal angefasst.

»Siehst du!«, rief Alexej triumphierend. »Siehst du! Es sollte mir freistehen, meinen eigenen Weg zu gehen.«

»Nein«, sagte ich und war stolz darauf, wie fest meine Stimme klang. »Ganz egal, wie sehr wir auch leiden, wir haben anderen gegenüber eine Verpflichtung. Wir müssen versuchen, uneigennützig zu sein und auf die rechte Weise zu leben, damit auch die anderen ein gutes Leben führen können, ohne dass wir es ihnen verderben.«

»Das sagt mein Meister auch immer«, murmelte Alexej. »Mehr oder weniger.« Dennoch wirkte er rebellisch.

»Dein Meister hat recht«, erwiderte ich, auch wenn die Worte faul schmeckten in meinem Mund.

Der »Meister« winkte die Barkeeperin heran, und Felicia kam an unseren Tisch geschlichen. Sie war groß, hübsch und so freundlich, wie ein Vampir nur sein konnte. Und sie hatte ein paar frische Narben an ihrem Hals. »Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte sie. »Sookie, für Sie vielleicht ein Bier oder... ?«

»Ein Eistee wäre großartig, Felicia«, sagte ich.

»Und für alle anderen TrueBlood?«, fragte Felicia die Vampire. »Oder vielleicht lieber eine Flasche Royalty?«

Eric schloss die Augen, und Felicia bemerkte ihren Fauxpas. »Okay«, sagte sie forsch. »TrueBlood für Eric, Eistee für Sookie.«

»Vielen Dank!« Ich lächelte die Barkeeperin an.

Plötzlich kam Pam mit so großen Schritten auf unseren Tisch zu, dass das hauchdünne schwarze Kleid, das sie im Fangtasia stets trug, geradezu hinter ihr herwehte. Sie war einer Panik so nahe, wie ich es bei ihr noch nie erlebt hatte. »Entschuldigung«, begann sie und verbeugte sich in Richtung der beiden Besucher. »Eric, Katherine Boudreaux kommt jeden Moment ins Fangtasia, zusammen mit Sallie und ein paar anderen Leuten.«

Eric sah aus, als würde er gleich explodieren. »Jeden Moment«, wiederholte er, und das sagte schon alles. »Es tut mir äußerst leid, Ocella, aber ich muss dich und Alexej bitten, zurück in mein Büro zu gehen.«

Appius Livius stand auf, ohne um weitere Erklärungen zu bitten, und Alexej folgte ihm zu meiner Überraschung ohne Widerspruch. Wenn Eric zu den Atmenden gehört hätte, wäre ich wohl Zeugin eines erleichterten Seufzens geworden, als die beiden Besucher aus seinem Blickfeld verschwunden waren.

Und dann stand auch schon eine füllige Blondine Mitte vierzig am Tisch, mit einer anderen Frau im Schlepptau.

»Sie sind sicher Katherine Boudreaux«, begrüßte ich sie freundlich. »Ich bin Sookie Stackhouse, Erics Freundin.«

»Hi, meine Liebe. Ich bin Katherine«, sagte sie. »Und das ist meine Lebensgefährtin Sallie. Wir sind mit ein paar Freunden hier, die mal sehen wollen, womit ich so mein Geld verdiene. Ich versuche, im Laufe des Jahres alle Vampir-Unternehmen zu besuchen, und wir waren schon seit einigen Monaten nicht mehr im Fangtasia. Da ich mein Büro direkt hier in Shreveport habe, sollte ich eigentlich öfter mal hereinschauen.«

»Wir freuen uns sehr über Ihren Besuch«, sagte Eric sehr professionell, als wäre er ganz der Alte. »Sallie, es ist immer eine Freude, Sie zu sehen. Wie läuft das Geschäft mit den Steuern?«

Sallie, eine schlanke Brünette, deren Haar grau zu werden begann, lachte. »Die Steuern steigen, wie immer. Das sollten Sie doch wissen, Eric, Sie zahlen ja genug.«

»Es ist schön zu sehen, dass unsere Vampir-Bürger so gut mit unseren Menschen-Bürgern auskommen«, sagte Katherine herzlich und sah sich im Fangtasia um, das so wenige Gäste hatte, als wäre es gar nicht geöffnet. Sie zog kurz und kaum wahrnehmbar die blonden Augenbrauen zusammen, aber das war auch schon das einzige Anzeichen dafür, dass Katherine bemerkt hatte, wie schlecht Erics Geschäfte liefen.

»Ihr Tisch ist fertig!«, sagte da Pam und wies mit weit ausholender Geste auf die zwei Tische, die für die kleine Gruppe von Leuten zusammengestellt worden waren. Die MVA-Bevollmächtigte des Bezirkes wandte sich noch einmal an Eric: »Entschuldigen Sie, aber jetzt muss ich mich erst mal um meine Freunde kümmern.«

Nach jeder Menge Höflichkeitsfloskeln und Immer-eine-Freude-Sie-zu-sehen waren wir endlich allein, soweit man von allein sprechen kann, wenn man an einem Tisch mitten in einer Bar sitzt. Pam machte Anstalten, zu uns zu kommen, doch Eric gebot ihr mit erhobenem Zeigefinger Einhalt. Dann ergriff er mit beiden Händen meine Rechte und lehnte die Stirn daran.

»Kannst du mir mal sagen, was mit dir los ist?«, fragte ich rundheraus. »Die Situation ist furchtbar. Es ist sehr schwer, Vertrauen in uns zu haben, wenn ich nicht weiß, was vor sich geht.«

»Ocella hatte einige Dinge mit mir zu besprechen«, sagte Eric. »Einige unerfreuliche Dinge. Und wie du gesehen hast, leidet mein Bruder.«

»Ja, daran hat er mich teilhaben lassen«, erwiderte ich. Es war immer noch schwer zu begreifen, was ich gesehen und erlitten hatte mit dem Jungen, durch seine Erinnerung an den Tod all derer, die er geliebt hatte. Der Zarewitsch von Russland, einziger Überlebender eines Massenmordes, könnte eine Psychotherapie vertragen. Vielleicht sollten er und Dermot in dieselbe Therapiegruppe gehen. »Wer so etwas durchgemacht hat, ist danach nicht Mr Geistig Gesund. Es muss die Hölle gewesen sein für ihn, ich weiß. Aber da ich selbst nie Derartiges durchmachen musste, möchte ich doch sagen, dass ich es...«

»Dass du es auch auf diese Weise nicht durchmachen willst«, sagte Eric. »Da bist du nicht allein. Für uns ist es am deutlichsten: für Ocella, für mich, für dich. Aber er kann auch andere daran teilhaben lassen. Für sie ist es nicht so detailliert, sagen sie. Aber diese Erinnerung will keiner haben. Wir tragen alle unsere eigenen schlechten Erinnerungen mit uns herum. Ich fürchte, er wird möglicherweise als Vampir nicht überleben können.« Eric hielt kurz inne und drehte die TrueBlood-Flasche vor sich im Kreis. »Offenbar ist es jede Nacht eine Schinderei, Alexej dazu zu bewegen, auch nur die einfachsten Dinge zu tun. Und andere Dinge zu unterlassen. Seine Bemerkung über den Teenager hast du ja gehört. Ich will nicht ins Detail gehen. Aber ... hast du in letzter Zeit die Shreveporter Zeitung gelesen?«

»Du meinst, Alexej ist wahrscheinlich für diese beiden Morde verantwortlich?« Ich konnte nur dasitzen und Eric anstarren. »Die Messerstiche, die aufgeschlitzten Kehlen? Aber er ist so schmächtig, und so jung.«

»Er ist geisteskrank«, sagte Eric. »Ocella hat mir vor ein paar Nächten schließlich erzählt, dass Alexej schon früher Phasen wie diese hatte - aber nicht so gravierend. Deshalb denkt er jetzt daran, wenn auch widerwillig, Alexej in den endgültigen Tod zu schicken.«

»Du meinst, indem er ihn einschläfert?«, fragte ich, weil ich glaubte, mich verhört zu haben. »Wie einen Hund?«

Eric sah mir direkt in die Augen. »Ocella liebt den Jungen, aber es geht nicht an, dass er Menschen oder andere Vampire tötet, wenn er diese Anfälle hat. Über solche Morde wird in der Zeitung berichtet. Und was, wenn er geschnappt wird? Wenn irgendein Russe ihn aufgrund dieser traurigen Berühmtheit erkennt? Was würde das für unsere Beziehungen zu den russischen Vampiren bedeuten? Und wichtiger noch, Ocella kann ihn nicht jede einzelne Minute im Auge haben. Zweimal ist der Junge auf eigene Faust draußen gewesen. Und das hatte zwei Tode zur Folge. In meinem Bezirk! Er wird all das, was wir hier in den Vereinigten Staaten aufzubauen versuchen, zerstören. Nicht, dass mein Schöpfer sich groß um meine Position in diesem Land scheren würde«, fügte Eric ein wenig bitter hinzu.

Ich gab Eric einen festen Klaps auf die Wange. Keinen Schlag. Einen festen Klaps. »Vergessen wir bitte die zwei toten Männer nicht«, sagte ich. »Die Alexej auf grausame Weise ermordet hat. Ich meine, ich verstehe schon, dass sich das alles nur um ihn, deinen Schöpfer und dein persönliches Ansehen dreht, aber etwas Respekt für die beiden jungen Männer, die er getötet hat, sollte drin sein.«

Eric zuckte die Achseln. Er war besorgt und mit seinem Latein am Ende, daher war der Tod der beiden Menschen ihm vollkommen egal. Wahrscheinlich war er froh, dass Alexej sich wenigstens zwei Opfer ausgesucht hatte, die nicht viel Mitleid auf sich ziehen würden und deren Morde sich leicht erklären ließen. Gangmitglieder brachten sich schließlich dauernd gegenseitig um. Ich gab es auf, mich verständlich machen zu wollen. Und das - zum Teil wenigstens - auch, weil mir ein Gedanke kam: Wenn Alexej fähig war, sich auch gegen Angehörige seiner eigenen Art zu wenden, könnten wir ihn doch vielleicht gegen Victor einsetzen?

Ich schauderte. So langsam gruselte es mich vor mir selbst. »Dein Schöpfer hat Alexej also zu dir gebracht, weil er hoffte, dass du irgendeine brillante Idee haben könntest, wie man deinem Bruder etwas Selbstkontrolle beibringen und ihn damit am Leben erhalten kann?«

»Ja. Das ist einer der Gründe, warum er hier ist.«

»Dass Appius Livius Sex mit dem Junge hat, dürfte für Alexejs Geisteszustand nicht unbedingt förderlich sein«, sagte ich, einfach weil ich es nicht nicht sagen konnte.

»Versteh das bitte. Zu Ocellas Zeit hat man darüber anders gedacht«, wandte Eric ein. »Alexej wäre in jener Zeit bereits alt genug. Und Männern von einem gewissen Rang stand es frei, sich zu amüsieren, ohne große Schuldgefühle oder Fragen. Ocella denkt nicht modern in solchen Dingen. Aber Alexej ist inzwischen so... Nun, sie haben jedenfalls keinen Sex mehr. Ocella ist ein ehrenwerter Mann.« Eric klang sehr nachdrücklich, sehr ernsthaft, als müsste er mich von der Integrität seines Schöpfers überzeugen. All diese Gedanken machte er sich um den Mann, der ihn ermordet hatte. Wenn Eric Ocella also bewunderte und ihn respektierte, musste ich es da nicht auch tun?

Und - mir ging plötzlich auf, dass Eric für seinen Bruder eigentlich nur das tat, was auch ich für meinen getan hätte.

Dann kam mir noch ein unwillkommener Gedanke, und mein Mund wurde trocken. »Wenn Appius Livius keinen Sex mehr mit Alexej hat, mit wem hat er dann welchen?«, fragte ich sehr leise.

»Ich weiß, es geht dich etwas an, da wir verheiratet sind - worauf ich bestanden habe, während du es herabwürdigst«, sagte Eric, und nun lag wieder Bitterkeit in seiner Stimme. »Ich kann dir nur sagen, dass ich keinen Sex mit meinem Schöpfer habe. Aber wenn er mir sagen würde, dass er das von mir will, würde ich gehorchen. Ich hätte keine andere Wahl.«

Ich suchte nach einer Möglichkeit, dieses Gespräch zu beenden. Hoffentlich kam ich da noch halbwegs würdevoll wieder raus. »Eric, du musst dich um deine Verwandtschaft kümmern.« Kümmern in einer Weise, die ich nie für möglich gehalten hätte. »Ich werde zu dieser Versammlung bei Alcide am Montagabend gehen und dir dann erzählen, was geschehen ist, wenn und falls du mich anrufst. Außerdem müsste ich dich über einiges andere so schnell wie möglich auf den neuesten Stand bringen, falls du je die Zeit findest, mal zu mir zu kommen.« Dass Dermot auf meinen Verandastufen gesessen hatte, zum Beispiel. Die Geschichte würde Eric sicher interessieren, und Gott weiß, wie gern ich sie ihm erzählt hätte. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

»Wenn sie Dienstag noch hier sind, komme ich zu dir, ganz egal, was sie tun«, erwiderte Eric, der jetzt wieder etwas mehr wie er selbst klang. »Wir werden uns lieben. Und ich habe Lust, dir ein Geschenk zu kaufen.«

»Klingt für mich nach einer wunderbaren Idee«, sagte ich, und Hoffnung wallte auf in mir. »Ich brauche kein Geschenk, nur dich. Dann sehen wir uns also Dienstag, was immer auch geschieht. Das hast du doch gesagt, oder?«

»Das habe ich gesagt.«

»Okay, dann bis Dienstag.«

»Ich liebe dich«, sagte Eric etwas erschöpft. »Und du bist meine Ehefrau, auf die einzige Weise, die für mich zählt.«

»Ich liebe dich auch«, gab ich zurück und überging die letzte Hälfte seiner Bemerkung, weil ich nicht wusste, was sie bedeuten sollte. Ich stand auf, und Pam kam zu mir, um mich zu meinem Auto zu begleiten. Aus dem Augenwinkel sah ich Eric aufstehen und an den Tisch von Katherine Boudreaux gehen, um sich zu versichern, dass seine wichtigen Gäste auch zufrieden waren.

»Er wird Eric ruinieren, wenn er bleibt«, sagte Pam.

»Wie das?«

»Der Junge wird wieder morden, und diesmal wird es uns nicht gelingen, es zu vertuschen. Er kann sich im Bruchteil einer Sekunde davonstehlen und muss ständig überwacht werden. Und trotzdem zögert Ocella, den Jungen endgültig aufzugeben.«

»Pam, lass Ocella entscheiden«, warnte ich sie. Da wir unter uns waren, nahm ich mir die Freiheit, Erics Schöpfer bei seinem privaten Namen zu nennen. »Das meine ich ernst. Eric würde es ihm erlauben müssen, dich zu töten, falls du Alexej ausschaltest.«

»Du magst mich wirklich.« Pam war gerührt; damit hatte ich nicht gerechnet.

»Du bist meine Lieblingsvampirin«, erwiderte ich. »Natürlich mag ich dich.«

»Wir sind Freundinnen«, sagte Pam.

»Das weißt du doch.«

»Das wird nicht gut ausgehen«, fügte Pam noch hinzu, als ich in mein Auto stieg.

Darauf fiel mir nichts mehr ein.

Als ich nach Hause kam, aß ich erst einmal ein Zimtbrötchen, einfach weil ich fand, dass ich eins verdient hatte. Ich machte mir solche Sorgen, dass ich nicht mal daran denken konnte, ins Bett zu gehen. Der russische Zarewitsch hatte mir seinen ganz persönlichen Albtraum gezeigt. Ich hatte noch nie von einem Vampir (oder irgendeinem anderen Wesen, Mensch oder nicht) gehört, der fähig war, eine Erinnerung wie diese an andere weiterzugeben. Und besonders furchtbar erschien mir, dass ausgerechnet Alexej, der so grauenhafte Erinnerungen hatte, dieses »Talent« besaß. Ich rief mir die entsetzliche Tortur der Zarenfamilie noch einmal vor Augen und verstand, warum der Junge so war, wie er war. Aber ich verstand auch, warum er womöglich ... zur Ruhe gebettet werden musste. Schließlich schob ich meinen Küchenstuhl zurück und stand vom Tisch auf. Ich war vollkommen erledigt, jetzt war ich wirklich bettreif. Doch aus diesem Plan wurde vorerst nichts, denn es klingelte an der Tür.

Man sollte meinen, dass man Besucher schon von Weitem kommen hören kann, wenn man allein draußen auf dem Land wohnt, am Ende einer langen Auffahrt durch den Wald. Aber das war nicht immer der Fall, vor allem nicht bei Supras. Die Frau, die ich durch den Türspion sah, kannte ich nicht, aber ich merkte, dass sie eine Vampirin war. Was hieß, dass sie ohne meine Erlaubnis das Haus nicht betreten und ich sie erst mal gefahrlos fragen konnte, was sie wollte. Neugierig öffnete ich die Tür.

»Hi, kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich.

Sie sah mich von oben bis unten an. »Sind Sie Sookie Stackhouse?«

»Ja.«

»Sie haben mir eine E-Mail geschrieben.«

Alexej musste auch meinen Geist verwirrt haben. Ich war langsam heute Abend. »Judith Vardamon?«

»Ebendie.«

»Und Lorena war Ihre Schöpferin?«

»War sie.«

»Kommen Sie bitte herein«, sagte ich und trat einen Schritt zur Seite. Das war vielleicht ein Fehler, aber ich hatte die Hoffnung, dass Judith meine Nachricht beantworten würde, schon fast aufgegeben gehabt. Und weil sie den ganzen Weg von Little Rock hierhergekommen war, schuldete ich ihr so viel Vertrauen, fand ich.

Judith hob die Augenbrauen und trat über meine Schwelle. »Entweder Sie lieben Bill oder Sie sind eine Närrin.«

»Keins von beidem. Möchten Sie ein TrueBlood?«

»Jetzt nicht, danke.«

»Setzen Sie sich doch.«

Ich ließ mich auf der Kante des Lehnsessels nieder, während Judith das Sofa nahm. Wie unglaublich, dachte ich, dass Lorena sowohl Bill als auch Judith »erschaffen« hatte. Am liebsten hätte ich sofort alle möglichen Fragen gestellt, doch ich wollte die Vampirin, die mir schon jetzt einen enormen Gefallen getan hatte, weder beleidigen noch reizen.

»Sie kennen Bill also«, sagte ich, um das Gespräch, das wir führen mussten, in Gang zu bringen.

»Ja, ich kenne ihn.« Sie wirkte wachsam, was seltsam war, wenn man bedachte, wie viel stärker sie war als ich.

»Sie sind die jüngere Schwester, oder?« Sie sah aus wie dreißig, zumindest musste sie bei ihrem Tod so alt gewesen sein. Ihr Haar war dunkelbraun, ihre Augen blau, und sie war von kleiner, wohlgeformter Gestalt. Sie wirkte so harmlos wie kein anderer Vampir, der mir je begegnet war, auf den ersten Blick jedenfalls. Und sie kam mir irgendwie bekannt vor.

»Wie bitte?«

»Lorena hat Sie nach Bill zum Vampir gemacht, oder? Warum hat sie Sie ausgewählt?«

»Sie waren eine Zeit lang Bills Geliebte? Habe ich Ihre E-Mail da richtig verstanden?«, fragte sie zurück.

»Ja, das stimmt. Aber ich bin inzwischen mit jemand anderem zusammen.«

»Wie kommt es, dass er Ihnen nie erzählt hat, wie er Lorena kennenlernte?«

»Ich weiß nicht. Seine Entscheidung.«

»Sehr seltsam.« Judith wurde merklich misstrauisch.

»Seltsam oder nicht - ich weiß nicht, warum Bill es mir nicht erzählt hat, aber er hat's nun mal nicht getan«, erwiderte ich. »Wenn Sie es mir erzählen wollen, gut. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Wichtig ist, dass Bill so furchtbar krank ist, dass er nicht von allein wieder gesund wird. Er wurde von einer Elfe gebissen, die Silberkappen über den Zähnen hatte. Und wenn er Ihr Blut bekommt, könnte er vielleicht doch noch genesen.«

»Hat Bill Sie gebeten, sich an mich zu wenden?«

»Nein, Ma'am, hat er nicht. Ich konnte nur nicht länger tatenlos zusehen, wie er leidet.«

»Hat er meinen Namen erwähnt?«

»Äh. Nein. Den habe ich selbst herausgefunden, damit ich Kontakt zu Ihnen aufnehmen konnte. Soweit ich weiß, hätten Sie sein Leiden doch spüren müssen, wenn Sie auch Lorenas Vampirkind sind. Ehrlich gesagt, frage ich mich, warum Sie nicht längst gekommen sind.«

»Das will ich Ihnen erzählen«, sagte Judith in unheilverkündendem Ton.

Oh, großartig. Noch eine Geschichte von Schmerz und Leid. Ich wusste jetzt schon, dass mir diese Geschichte nicht gefallen würde. Und ich hatte recht.