Kapitel 8
Zwischen Erics Beinen hindurch sah ich einen Mann, der sehr viele Narben und sehr viele Muskeln hatte, mit dunklen Augen und dunklem Haar. Anscheinend war er ziemlich klein, da ich nur seinen Kopf und einen Teil seines Oberkörpers sehen konnte. Er trug Jeans und ein Black-Sabbath-Shirt. Ich konnte nicht anders. Ich musste kichern.
»Hast du mich nicht vermisst, Eric?« Der Römer hatte einen Akzent, den ich nicht richtig einordnen konnte; da hatte sich zu viel übereinandergeschichtet.
»Ocella, deine Gegenwart ist mir immer eine Ehre«, sagte Eric. Wieder kicherte ich. Eric log.
»Was ist mit meiner Ehefrau geschehen?«, fragte er.
»Ihre Sinne sind verwirrt«, erklärte der ältere Vampir. »Du hast mein Blut. Sie hatte von deinem Blut. Und noch ein Kind von mir ist hier. Die Blutsbande zwischen uns allen bringen ihre Gedanken und Gefühle durcheinander.«
Ach, tatsächlich?
»Dies ist mein neuer Sohn Alexej«, erzählte Appius Livius Ocella seinem alten Sohn Eric.
Ich spähte durch Erics Beine hindurch. Der neue »Sohn« war ein Junge, nicht älter als dreizehn oder vierzehn. Eigentlich konnte ich sein Gesicht kaum erkennen. Trotzdem erstarrte ich, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen.
»Bruder«, begrüßte Eric seinen neuen Geschwisterteil. Er sprach das Wort emotionslos und kühl aus.Doch mir reichte es langsam. Ich würde jetzt aufstehen und hier nicht noch länger zusammengekauert herumliegen. Eric hatte mich in die ziemlich enge Lücke zwischen Bett und Nachttisch gedrängt, mit der Badezimmertür zu meiner Rechten. Und er hatte sich noch keinen Millimeter von seinem defensiven Posten wegbewegt.
»'tschuldige mal«, sagte ich mit großer Mühe. Eric trat einen Schritt vor und machte mir Platz, blieb selbst aber zwischen mir und seinem Schöpfer samt dem Jungen stehen. Ich rappelte mich auf und stützte mich am Bett ab, damit ich wieder auf die Beine kam. Schließlich stand ich, aber ich fühlte mich noch immer wie durch den Wolf gedreht. Ich sah Erics Schöpfer direkt in die dunklen, feuchten Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte er überrascht.
»Du musst selbst zur Haustür gehen und sie reinlassen, Eric«, sagte ich. »Obwohl ich wetten könnte, dass sie sowieso keine Erlaubnis brauchen.«
»Eric, was für ein seltenes Exemplar«, sagte Ocella mit seinem seltsamen Akzent. »Wo hast du sie gefunden?«
»Ich bitte Sie nur aus Höflichkeit herein, da Sie Erics Dad sind«, versetzte ich. »Ich könnte Sie ja auch einfach da draußen stehen lassen.« Auch wenn ich nicht so stark klang, wie ich gern wollte, so klang ich wenigstens nicht ängstlich.
»Mein Sohn ist in diesem Haus, und wo er willkommen ist, da bin ich es auch. Oder nicht?« Ocella hob seine dichten braunen Augenbrauen. Seine Nase ... Okay, es dürfte ziemlich klar sein, warum es »Römernase« heißt. »Ich habe aus reiner Höflichkeit abgewartet. Wir hätten einfach in Ihr Schlafzimmer kommen können.«
Und im nächsten Augenblick waren sie drin.
Das würdigte ich keiner Antwort. Stattdessen warf ich einen genaueren Blick auf den Jungen, dessen Miene völlig ausdruckslos war. Wie ein Römer aus der Antike kam er mir nicht vor. Er war noch kein ganzes Jahrhundert lang ein Vampir, vermutete ich, und schien irgendwie germanischer Abstammung zu sein. Seine feinen Haare waren kurz und gut geschnitten, seine Augen blau, und als unsere Blicke sich trafen, neigte er leicht den Kopf.
»Du heißt Alexej?«, fragte ich.
»Ja«, sagte sein Schöpfer, während der Junge stumm dastand. »Das ist Alexej Romanow.«
Auch wenn der Junge nicht reagierte, und Eric ebenso wenig, erlebte ich einen Augenblick schieren Entsetzens. »Nein«, sagte ich zu Erics Schöpfer, der ungefähr so groß war wie ich. »Nein. Sagen Sie, dass Sie das nicht getan haben.«
»Ich habe sogar versucht, auch eine seiner Schwestern noch zu retten, aber sie war meiner Macht schon entzogen«, erwiderte Ocella betrübt. Seine Zähne waren weiß und ebenmäßig, auch wenn sich oben neben dem linken Eckzahn eine Lücke auftat. Zähne, die man vor dem Vampirdasein verloren hatte, bildeten sich nicht wieder.
»Sookie, was ist denn?« Ausnahmsweise mal konnte Eric nicht folgen.
»Die Romanows«, sagte ich und versuchte, die Stimme zu senken, gerade so, als könnte der Junge mich nicht auch aus zwanzig Meter Entfernung noch verstehen. »Die letzte russische Zarenfamilie.«
Eric musste die Ermordung der Romanows wie gestern erscheinen und vielleicht auch nicht allzu wichtig in der endlosen Reihe von Toten, die er in seinen tausend Jahren gesehen hatte. Aber er verstand, dass sein Schöpfer etwas Ungeheuerliches getan hatte. Ich betrachtete Ocella, ohne Wut, ohne Angst, nur ein paar Sekunden lang, und ich sah einen Mann, der ein einsames Dasein als Ausgestoßener führte und deshalb nach den außergewöhnlichsten »Kindern« suchte, die er finden konnte.
»War Eric der Erste, den Sie zum Vampir gemacht haben?«, fragte ich Ocella.
Der Römer amüsierte sich über das, was er offenbar als mein unverschämtes Verhalten betrachtete. Erics Reaktion war ganz anderer Natur. Ich spürte seine Angst durch mich hindurchströmen und begriff, dass er tun müsste, was immer Ocella ihm befahl. Bislang war das eine rein abstrakte Vorstellung gewesen. Jetzt verstand ich, dass Eric selbst dann noch gezwungen wäre, Ocella zu gehorchen, wenn der ihm befehlen würde, mich umzubringen.
Der Römer beschloss, mir zu antworten. »Ja, er war der Erste, den ich mit Erfolg zum Vampir machte. Die anderen, bei denen ich es probiert habe, starben alle.«
»Könnten wir jetzt bitte erst mal mein Schlafzimmer verlassen und ins Wohnzimmer gehen?«, sagte ich. »Dies ist kein geeigneter Ort, um Besucher zu empfangen.« Na, wer sagt's denn. Wenn ich wollte, konnte ich höflich sein.
»Wohl wahr«, erwiderte der alte Vampir. »Alexej? Was glaubst du, wo ist das Wohnzimmer?«
Alexej drehte sich halb herum und zeigte in die richtige Richtung.
»Dann werden wir dorthin gehen, Liebling«, sagte Ocella, und Alexej ging voraus.
Ich hatte Gelegenheit, Eric einen Moment anzusehen, und ich wusste, dass in meinem Gesicht die Frage stand: Was zum Teufel geht hier vor sich? Aber er wirkte erschrocken und hilflos. Eric. Hilflos. Mir drehte sich der Kopf.
Ich kam einen Augenblick zum Nachdenken, und mir wurde regelrecht übel, da Alexej noch ein Kind war und Ocella mit dem Jungen sicherlich eine sexuelle Beziehung hatte, so wie früher mit Eric. Doch ich war nicht so dumm zu glauben, dass ich irgendetwas dagegen tun könnte oder dass mein Protest auch nur das Geringste ändern würde. Ich war sogar weit davon entfernt zu glauben, dass Alexej mir mein Eingreifen danken würde, weil ich mich noch gut an das erinnerte, was Eric mir über seine Bindung an seinen Schöpfer in den ersten Jahren seines neuen Lebens als Vampir erzählt hatte.
Alexej war mittlerweile schon lange bei Ocella, zumindest nach menschlichen Maßstäben. Ich wusste nicht ganz genau, wann die Familie Romanow ermordet worden war, aber es musste ungefähr 1918 gewesen sein, und Ocella hatte den Jungen immerhin vor seinem endgültigen Tod bewahrt. Wie immer ihre Beziehung sich also gestaltete, sie bestand schon seit über achtzig Jahren.
All diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, einer nach dem anderen, während wir den beiden Besuchern folgten. Ocella hatte gesagt, er hätte ohne Vorwarnung hereinkommen können. Wäre nett gewesen, wenn Eric das mir gegenüber mal erwähnt hätte. Na ja, vermutlich hatte er gehofft, dass Ocella nie aufkreuzt, deshalb war ich bereit, Eric das durchgehen zu lassen... aber statt mir einen Vortrag darüber zu halten, wie die Vampire nach eigenem Gutdünken Amerika aufgeteilt hatten, wäre es doch viel nützlicher gewesen, mir zu sagen, dass sein Schöpfer jederzeit einfach so in mein Schlafzimmer hereinspaziert kommen könnte.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz«, sagte ich, nachdem Ocella und Alexej sich auf dem Sofa niedergelassen hatten.
»So viel Sarkasmus«, entgegnete Ocella. »Wollen Sie gar keine Gastfreundschaft beweisen?« Er musterte mich von oben bis unten mit Augen, die zwar von einem satten Braun waren, aber dennoch völlig kalt.
Herrje, war ich froh, dass ich einen Morgenmantel trug. Da hätte ich ja lieber Chappi gefuttert, als vor diesen beiden nackt dazustehen. »Es hat mich nicht gerade gefreut, dass Sie vor meinem Schlafzimmerfenster aufgetaucht sind«, erklärte ich. »Sie hätten an die Tür kommen und anklopfen können, so wie Leute mit guten Manieren es tun.« Aber ich sagte ihm nichts, was er nicht schon wusste. Vampire durchschauen Menschen recht gut, und die älteren Vampire können meist besser als die Menschen selbst beurteilen, welcher Stimmung diese gerade sind.
»Ja, nur hätte ich dann nicht einen so reizenden Anblick genossen.« Ocellas Blick strich fast spürbar über Erics nackten Oberkörper. Und zum ersten Mal ließ auch Alexej ein Gefühl erkennen. Er wirkte verängstigt. Fürchtete er, dass Ocella ihn verstoßen und auf Gedeih und Verderb der Welt ausliefern würde? Oder fürchtete er, dass Ocella ihn bei sich behalten würde?
Alexej tat mir enorm leid, doch genauso sehr fürchtete ich ihn auch.
Er war ebenso hilflos wie Eric.
Ocella hatte Alexej mit einer Aufmerksamkeit betrachtet, die beinahe furchteinflößend war. »Es geht ihm schon viel besser«, murmelte er jetzt. »Eric, deine Gegenwart tut ihm sehr gut.«
Ich hatte gedacht, dass es eigentlich nicht mehr viel schwieriger werden konnte, doch ein entschiedenes Klopfen an meiner Hintertür, gefolgt von einem »Sookie, bist du da?«, sagte mir, dass diese Nacht noch lange nicht ihren schlimmsten Punkt erreicht hatte.
Mein Bruder Jason kam herein, ohne eine Antwort abzuwarten. »Sookie, ich hab gesehen, dass bei dir noch Licht brennt, und da hab ich mir gedacht, du bist noch auf«, plauderte er drauflos, hielt aber inne, als er sah, wie viel Besuch ich hatte. Und was das für Besuch war.
»'tschuldige, Sook«, fuhr er langsam fort. »Eric, wie geht's so?«
»Jason, das ist mein ...«, begann Eric. »Das ist Appius Livius Ocella, mein Schöpfer, und das sein anderer Sohn Alexej.« Eric sprach den Namen natürlich richtig aus: AP-pi-us Li-WIE-us Oh-KELL-ah.
Jason nickte den beiden Unbekannten zu, vermied es aber, den älteren Vampir direkt anzusehen. Guter Instinkt. »'n Abend, O'Kelly. Hey, Alexej. Du bist also Erics kleiner Bruder, was? Bist du auch 'n Wikinger?«
»Nein«, erwiderte der Junge leise. »Ich bin Russe.« Alexej hatte einen viel schwächeren Akzent als der Römer. Interessiert sah er Jason an. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht vorhatte, meinen Bruder zu beißen. Das Ding mit Jason war, und das machte ihn so attraktiv für alle Leute (vor allem Frauen), dass er quasi nur so sprühte vor Leben. Er schien einfach eine Extraportion Energie und Vitalität abbekommen zu haben, und seit der Tod seiner Ehefrau etwas in den Hintergrund rückte, kehrte es mit Macht zurück. Es war Ausdruck davon, dass Elfenblut in seinen Adern floss.
»Hm, nett, euch kennenzulernen«, sagte Jason und wandte seine Aufmerksamkeit dann von den Besuchern ab. »Sookie, ich bin hier, weil ich den Beistelltisch vom Dachboden holen will. Ich war schon mal hier, aber da warst du weg, und ich hatte meinen Schlüssel nicht dabei.« Jason hatte für Notfälle einen Schlüssel für mein Haus, so wie ich für seins.
Ich hatte schon ganz vergessen, dass er mich um den Tisch gebeten hatte, als ich bei ihm zum Abendessen war. Aber in diesem Moment hätte er mich auch um meine Schlafzimmermöbel bitten können, und ich hätte sie ihm gegeben, nur um ihn außer Gefahr zu bringen. »Klar, den brauche ich nicht mehr«, erwiderte ich. »Geh einfach rauf. Er steht, glaube ich, gleich bei der Tür.«
Jason entschuldigte sich, und aller Augen folgten ihm, als er die Treppe hinaufpolterte. Eric tat vermutlich nur so, als sei er interessiert, während er nachdachte. Doch Ocella begutachtete meinen Bruder ganz freimütig, und Alexej blickte ihm irgendwie sehnsüchtig hinterher.
»Möchten Sie ein TrueBlood?«, fragte ich die Vampire mit zusammengebissenen Zähnen.
»Nun, wenn Sie uns nicht sich selbst oder Ihren Bruder anbieten wollen«, erwiderte der alte Römer.
»Nein, das will ich nicht.«
Ich drehte mich um und stapfte Richtung Küche.
»Ich kann Ihre Wut spüren«, rief Ocella mir nach.
»Ist mir egal«, antwortete ich, ohne mich noch mal nach ihm umzusehen. Ich hörte, dass Jason die Treppe schon wieder herunterkam, ein wenig langsamer jetzt, da er den Tisch trug. »Jason, komm doch gleich mal mit«, forderte ich ihn mit einem Blick über die Schulter auf.
Jason war mehr als froh, sich nicht ins Wohnzimmer setzen zu müssen. Er war zwar höflich zu Eric, weil er wusste, dass ich ihn liebte, doch in der Gesellschaft von Vampiren fühlte er sich nicht wohl. Er stellte den Beistelltisch in einer Ecke der Küche ab.
»Sook, was geht denn hier vor sich?«
»Komm mal einen Moment mit in mein Zimmer«, sagte ich, als ich die Flaschen TrueBlood aus dem Kühlschrank geholt hatte. Ich würde mich sehr viel wohler fühlen, wenn ich erst richtig angezogen war. Jason folgte mir. Ich machte die Tür hinter mir zu, als wir in meinem Schlafzimmer waren.
»Behalt die Tür im Auge, ich trau dem Alten nicht«, sagte ich, und Jason drehte sich folgsam um und bewachte die Tür, während ich mich so schnell wie noch nie zuvor in meinem Leben anzog.
»Woah«, machte Jason, und ich fuhr herum. Alexej hatte die Tür geöffnet und wäre hereingekommen, wenn Jason sich nicht dagegengelehnt hätte.
»Es tut mir so leid«, sagte Alexej mit einer Stimme, die klang wie der Geist einer Stimme, wie etwas, das einst eine Stimme gewesen war. »Ich entschuldige mich bei Ihnen, Sookie, und bei Ihnen, Jason.«
»Jetzt kannst du ihn reinlassen, Jason. Was tut dir leid, Alexej?«, fragte ich. »Kommt, gehen wir in die Küche und wärmen das TrueBlood an.« Im Gänsemarsch trabten wir in die Küche. Jetzt waren wir wieder etwas weiter vom Wohnzimmer entfernt, und die Chancen, dass Eric und Ocella uns nicht so genau zuhören würden, standen gut.
»Mein Meister ist nicht immer so. Das ist sein Alter, es verändert ihn.«
»Verändert ihn in was? Einen Vollidioten? Einen Sadisten? Einen Kinderschänder?«
Über das Gesicht des Jungen huschte ein mattes Lächeln. »In all das, je nach Gelegenheit«, erwiderte er lakonisch. »Aber um ehrlich zu sein, es ging mir in letzter Zeit nicht gut. Deshalb sind wir hier.«
Langsam begann Jason wütend zu werden. Er mochte Kinder, das war schon immer so. Alexej hätte Jason zwar innerhalb von Sekunden töten können, doch in den Augen meines Bruders war er ein Kind. In Jason braute sich gerade der Zorn des Gerechten zusammen, ja, er dachte sogar daran, ins Wohnzimmer zu stürmen und Appius Livius Ocella zur Rede zu stellen.
»Hör mal, Alexej, du musst nicht bei diesem Kerl bleiben, wenn du nicht willst«, sagte er. »Du kannst bei mir oder Sookie unterkommen, falls Eric dich nicht aufnimmt. Keiner kann dich zwingen, bei jemandem zu bleiben, bei dem du nicht sein willst.« Tja, Jasons Herz war groß, aber er hatte offensichtlich keine Ahnung, wovon er da sprach.
Alexej lächelte, ein so mattes Lächeln, dass es einfach herzzerreißend war. »Ehrlich, so böse ist er gar nicht. Er ist ein guter Mann, glaube ich, aber aus einer Zeit, die man sich nicht vorstellen kann. Sie beide sind wahrscheinlich an Vampire gewöhnt, die sich ... an die Allgemeinheit anpassen wollen. Mein Meister versucht das nicht einmal. Er ist viel glücklicher in der Schattenwelt. Und ich muss bei ihm bleiben. Machen Sie sich bitte keine Sorgen, aber ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl. Ich fühle mich schon viel besser, seit ich in der Nähe meines Bruders bin. Ich habe nicht mehr das Gefühl, als würde ich gleich etwas tun, das ich später dann ... bereue.«
Jason und ich sahen einander an. Das reichte locker, dass wir uns jetzt beide Sorgen machten.
Alexej sah sich in der Küche um, als hätte er selten eine gesehen. Vermutlich war das der Fall. Ich nahm die angewärmte Flasche aus der Mikrowelle, schüttelte sie, stellte sie auf ein Tablett und legte noch ein paar Servietten dazu. Jason nahm sich eine Coke aus dem Kühlschrank.
Ich wusste nicht, was ich von Alexej halten sollte. Er entschuldigte sich für Ocella, als wäre der Römer sein grantiger Großvater. Doch es war offensichtlich, dass er unter Ocellas Einfluss stand. Natürlich. Schließlich war Alexej auf eine sehr reale Weise Ocellas Kind.
Es war eine höchst seltsame Situation, mit einer Gestalt aus der Geschichte am eigenen Wohnzimmertisch zu sitzen. Ich dachte an die Gräuel, die Alexej erlebt hatte, sowohl vor als auch nach seinem Tod, und an seine Kindheit als Zarewitsch, in der es trotz seiner Bluterkrankheit wohl einige glanzvolle Momente gegeben haben musste. Ob sich der Junge wohl oft nach all der Liebe, der Zuwendung und dem Prunk sehnte, die ihn von seiner Geburt bis zur Revolution umgeben hatten, oder war in seinen Augen ein Dasein als Vampir (wenn man bedachte, dass er zusammen mit seiner ganzen engeren Familie ermordet worden war) immer noch besser, als in einer Grube in den russischen Wäldern verscharrt zu liegen?
Angesichts der Bluterkrankheit wäre seine Lebenserwartung in jener Zeit ohnehin verdammt kurz gewesen.
Jason tat Eiswürfel in sein Glas und spähte in die Keksdose. Ich kaufte keine Kekse mehr, denn wenn ich es tat, aß ich sie nur. Enttäuscht schloss er die Dose wieder. Alexej folgte jeder Bewegung meines Bruders mit dem Blick, als würde er ein Tier beobachten, das er noch nie zuvor gesehen hatte.
Er bemerkte, dass ich ihn ansah. »Zwei Männer kümmerten sich um mich, zwei Matrosen«, sagte er, als könnte er die Fragen in meinem Kopf lesen. »Sie trugen mich herum, wenn die Schmerzen sehr schlimm waren. Nachdem die Welt Kopf stand, missbrauchte mich einer von ihnen, als er die Gelegenheit dazu hatte. Aber der andere starb, einfach weil er immer noch freundlich zu mir war. Ihr Bruder erinnert mich ein wenig an ihn.«
»Tut mir sehr leid, das mit deiner Familie«, sagte ich verlegen, da ich mich verpflichtet fühlte, irgendetwas zu sagen.
Er zuckte die Achseln. »Ich war froh, als sie gefunden wurden und ein richtiges Begräbnis bekamen«, sagte er. Doch als ich ihm in die Augen sah, wusste ich, dass diese Worte wie eine dünne Eisschicht über einem tiefen Schmerz lagen.
»Und wer lag in deinem Sarg?«, fragte ich. Herrje, wollte ich auf Teufel komm raus geschmacklos sein? Was gab es denn da um Himmels willen zu fragen? Jason sah verwirrt von mir zu Alexej. Jasons Vorstellung von Geschichte bestand darin, sich an Jimmy Carters peinlichen Bruder zu erinnern.
»Als das große Grab gefunden wurde, dachte mein Meister, dass sie auch mich und meine Schwester bald finden würden. Aber wir überschätzten die Suchenden wohl. Es dauerte noch weitere sechzehn Jahre. Aber in der Zwischenzeit suchten wir den Ort auf, an dem ich begraben war.«
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Der Ort, an dem ich begraben war ...
Er fuhr fort. »Wir mussten ein paar meiner Knochen hineintun, denn wir hatten von der DNA-Analyse gehört.
Sonst hätten wir natürlich einfach nach einem Jungen im richtigen Alter gesucht...«
Mir fiel wirklich nichts auch nur halbwegs Normales ein, das ich sagen konnte. »Du hast dir also ein paar deiner eigenen Knochen herausgeschnitten, um sie in das Grab zu legen?«, fragte ich mit belegter, zittriger Stimme.
»Stückchenweise, nach und nach. Aber es ist alles wieder nachgewachsen«, versicherte Alexej mir. »Wir mussten meine Knochen ein wenig ins Feuer legen, denn sie hatten Maria und mich verbrannt und auch mit Schwefelsäure übergossen.«
Als ich meine Stimme wieder unter Kontrolle hatte, fragte ich: »Warum war es denn überhaupt nötig, deine Knochen dort hineinzutun?«
»Mein Meister wollte, dass ich Ruhe finde«, erwiderte er. »Er wollte allen Vermutungen, ich sei noch am Leben, ein Ende bereiten und sagte, wenn meine Knochen gefunden wurden, gäbe es keine Diskussion mehr. Natürlich, heutzutage würde niemand mehr erwarten, dass ich noch lebe, geschweige denn, noch so aussehe wie damals. Vielleicht haben wir nicht gut genug darüber nachgedacht. Wenn man so lange aus der Welt heraus ist... Aber in den ersten fünf Jahren nach der Revolution haben mich einige Leute erkannt. Mein Meister musste sich um sie kümmern.«
Auch das musste ich erst mal verdauen. Jason sah aus, als wäre ihm übel. Mir erging es nicht viel anders. Aber diese kleine Plauderei dauerte sowieso schon zu lange. Ich wollte nicht, dass der »Meister« annahm, wir würden uns gegen ihn verschwören.
»Alexej«, rief Appius Livius Ocella in scharfem Ton. »Ist alles in Ordnung bei dir?«
»Ja, Meister«, rief Alexej und eilte zu dem Römer.
»Jesus Christus, Hirte von Judäa«, stieß ich aus und trug schließlich das Tablett mit den Flaschen TrueBlood ins Wohnzimmer. Jason war sehr bedrückt, doch er folgte mir.
Eric hatte sich auf Appius Livius Ocella konzentriert wie ein Verkäufer eines 7-Eleven-Supermarktes auf einen Kunden, der eventuell eine Waffe dabeihaben könnte. Aber er schien sich in der Zwischenzeit von dem Schock, dass sein Schöpfer aufgetaucht war, erholt und etwas entspannt zu haben. Durch unsere Blutsbande strömte eine überwältigende Welle der Erleichterung von Eric zu mir. Ich dachte kurz nach und glaubte zu verstehen. Eric war über die Maßen erleichtert, dass der ältere Vampir sich einen Bettgefährten mitgebracht hatte. Eric hatte über seine vielen Jahre als Ocellas Sexpartner zwar immer recht gleichgültig geredet, doch als er nun seinen Schöpfer tatsächlich wiedersah, hatte ihn einen Moment lang ein rasender Widerwille ergriffen. Doch jetzt sammelte und wappnete sich Eric und wurde wieder zu Eric, dem Sheriff, nach seinem jähen Rückfall in das Dasein als Eric, der neue Vampir und Liebessklave.
Aber ich würde Eric nie mehr so sehen wie zuvor. Jetzt wusste ich, wovor er sich fürchtete. Soweit ich es von Eric mitbekam, betraf es nicht so sehr die körperliche, sondern eher die geistige Seite; allem voraus wollte Eric nicht unter der Kontrolle seines Schöpfers stehen.
Ich servierte jedem der Vampire eine Flasche TrueBlood, die ich sorgsam auf einer Serviette abstellte. Wenigstens musste ich mir keine Gedanken um einen Snack machen ... falls Ocella nicht beschloss, dass sie alle drei sich an mir gütlich tun könnten. Was ich im Fall der Fälle nicht überleben würde, so viel war sicher, und es gab rein gar nichts, was ich dagegen tun konnte. Das hätte mich zu einer mustergültigen Zurückhaltung bewegen sollen. Ich hätte mit sittsam an den Knöcheln überkreuzten Beinen dasitzen und dreinschauen sollen, als könnte ich kein Wässerchen trüben.
Doch es kotzte mich einfach an.
Erics Hand zuckte, und ich wusste, dass er meine Stimmung wahrnahm. Er versuchte mir zu sagen, dass ich mich beruhigen, beherrschen, unauffälliger verhalten solle; er wollte zwar nicht wieder unter Ocellas Kontrolle stehen, liebte den Vampir aber dennoch. Und so machte ich einen Rückzieher. Eigentlich hatte ich dem Römer ja gar keine Chance gegeben und kannte ihn nicht mal richtig. Ich wusste nur ein paar Dinge von ihm, die mir nicht gefielen; es musste doch auch noch anderes geben, das mir gefallen oder das ich bewundern könnte. Wäre er Erics richtiger Vater gewesen, hätte ich ihm jede Menge Chancen gegeben, sich zu beweisen.
Ich fragte mich, wie deutlich Ocella meine Gefühle wohl wahrnahm. Er hatte noch eine sehr enge Bindung an Eric und würde sie immer haben, und auch Eric und mich verbanden Blutsbande. Aber meine Gefühle übertrugen sich anscheinend nicht auf den Römer, er sah nicht mal in meine Richtung. Trotzdem musste ich lernen, mich besser zu beherrschen, und zwar schnell. Ich senkte den Blick. Normalerweise konnte ich meine Gefühle gut verbergen, doch die Nähe des uralten Vampirs und seines neuen Protégés und deren Blutsbande mit Eric, das alles hatte mich völlig aus der Bahn geworfen.
»Ich weiß gar nicht, wie ich Sie ansprechen soll«, sagte ich und sah dem Römer in die Augen. Ich hatte versucht, den besten Konversationston meiner Großmutter anzuschlagen.
»Sie dürfen mich Appius Livius nennen«, erwiderte er, »da Sie Erics Ehefrau sind. Es dauerte hundert Jahre, bis Eric sich das Recht erworben hatte, mich Appius statt Meister zu nennen. Und dann noch einmal Jahrhunderte, um mich Ocella nennen zu dürfen.«
Also durfte nur Eric ihn Ocella nennen. Kein Problem für mich. Und Alexej war immer noch in der »Meister«-Phase. Alexej saß so ruhig da, als hätte er jede Menge Beruhigungsmittel geschluckt. Aus der Flasche synthetischen Bluts, die vor ihm auf dem Couchtisch stand, hatte er nur einen Schluck genommen.
»Danke«, sagte ich, wusste aber, dass ich nicht besonders dankbar klang. Ich sah zu meinem Bruder hinüber. Jason wusste ziemlich genau, wie er den Römer am liebsten nennen würde. Doch ich schüttelte einmal kurz, aber entschieden den Kopf.
»Eric, erzähl mir, wie es dir in dieser Zeit ergeht«, forderte Appius Livius seinen älteren Sohn mit echtem Interesse auf. Er streckte eine Hand nach Alexej aus und strich dem Jungen über den Rücken, als wäre er ein Welpe. Aber ich konnte nicht bestreiten, dass Zuneigung in der Geste lag.
»Es geht mir sehr gut. Bezirk Fünf floriert. Ich bin der einzige Sheriff in Louisiana, der die Übernahme durch Felipe de Castro überlebt hat.« Es gelang Eric, in völlig emotionslosem Ton zu sprechen.
»Wie kam es dazu?«
Eric gab dem älteren Vampir eine Zusammenfassung der vampirpolitischen Situation in Louisiana. Und als er den Eindruck bekam, dass Appius Livius genug hatte von den Intrigen um Felipe de Castro und Victor Madden, fragte er: »Und wie kam es dazu, dass du zur Rettung dieses jungen Mannes zur Stelle warst?« Eric lächelte Alexej an.
Das versprach interessant zu werden, jetzt, da ich Alexejs grauenhafte Geschichte über das »Würzen« seines Grabes schon kannte. Während Alexej in entrücktem Schweigen dasaß, erzählte Appius Eric, wie er die russische Zarenfamilie 1918 ausfindig gemacht hatte.
»Obwohl ich so etwas schon erwartet hatte, musste ich viel schneller handeln, als ich dachte«, sagte Appius und trank seine Flasche TrueBlood aus. »Die Entscheidung, sie zu ermorden, fiel so rasch und wurde so eilig ausgeführt. Keiner wollte, dass die Männer Zeit hatten, noch ein zweites Mal darüber nachzudenken. Viele der Soldaten hielten ihr eigenes Tun für frevelhaft.«
»Aber warum wolltest du gerade die Romanows retten?«, fragte Eric, als wäre Alexej gar nicht da.
Appius Livius lachte herzhaft. »Ich hasste die verdammten Bolschewiken«, sagt er. »Und es verband mich etwas mit dem Jungen. Rasputin hatte ihm seit Jahren mein Blut gegeben. Ich war ja zufällig schon in Russland. Du erinnerst dich noch an das Massaker von St. Petersburg?«
Eric nickte. »Allerdings. Ich hatte dich seit vielen Jahren nicht gesehen und damals auch nur kurz.« Eric hatte mir von dem Massaker von St. Petersburg schon mal erzählt. Ein Vampir namens Gregory war von einer rachsüchtigen Mänade mit Wahnsinn geschlagen worden und hatte ein Blutbad angerichtet. Es waren zwanzig Vampire nötig gewesen, um ihn zu bändigen und dann seine Taten zu verschleiern.
»Nach jener Nacht, in der so viele von uns zusammen die Beweise vernichteten, nachdem Gregory überwältigt war, entwickelte ich eine Vorliebe für russische Vampire - und auch für das russische Volk.« Er unterstrich seine Liebe für das russische Volk mit einem gütigen Nicken in Richtung von Jason und mir als den Repräsentanten des Menschengeschlechts. »Die verdammten Bolschewiken haben so viele von uns umgebracht. Ich war tief betrübt. Der Tod von Fjodor und Welislawa war besonders schlimm. Sie waren großartige Vampire und beide Hunderte von Jahren alt.«
»Ich habe sie gekannt«, sagte Eric.
»Ich sandte ihnen eine Nachricht und bat sie, Russland zu verlassen, ehe ich mich auf die Suche nach der Zarenfamilie machte. Alexej konnte ich aufspüren, weil er mein Blut hatte. Rasputin wusste, was wir waren. Jedes Mal, wenn die Bluterkrankheit des Jungen sehr schlimm wurde und die Zarin Rasputin zu sich rief, damit er ihn behandelte, bat er um etwas Blut von mir, und der Junge erholte sich wieder. Ich hörte Gerüchte, dass man die Zarenfamilie ermorden wollte, und begann, der Fährte meines Blutes zu folgen. Und stell dir vor, als ich mich auf den Weg machte, um sie zu retten, fühlte ich mich geradezu wie diese Kreuzfahrer!«
Sie lachten beide, und erst da begriff ich, dass die beiden Vampire tatsächlich Kreuzfahrer gesehen hatten, die echten christlichen Kreuzritter. Als ich mir vorzustellen versuchte, wie alt sie waren, wie viel sie mit eigenen Augen gesehen hatten und wie viele Erfahrungen sie gemacht hatten, die fast niemand auf Erden teilte, schwindelte mir.
»Sook, du hast echt interessante Gäste«, sagte Jason.
»Hör mal, ich weiß, dass du gehen willst, aber es wäre mir sehr lieb, wenn du noch ein Weilchen bleiben könntest«, erwiderte ich. Ich war gar nicht glücklich über den Besuch von Erics Schöpfer und Alexej, aber da Alexej Jason offenbar mochte, könnte seine Anwesenheit diese unangenehme Situation vielleicht etwas entspannen.
»Ich bring nur eben den Tisch zum Pick-up raus und ruf Michele an«, sagte Jason. »Willst du mitkommen, Alexej?«
Appius Livius rührte sich nicht, doch seine Anspannung wuchs merklich. Alexej sah den alten Römer an. Nach einem langen Schweigen nickte Appius Livius dem Jungen zu. »Aber vergiss deine Manieren nicht, Alexej«, fügte er leise hinzu. Alexej nickte einmal kurz.
Da er nun offiziell die Erlaubnis hatte, ging der Zarewitsch von Russland zusammen mit dem Vorarbeiter einer Straßenbautruppe hinaus, um einen Tisch auf die Ladefläche eines Pick-ups zu hieven.
Als ich allein war mit Eric und seinem Schöpfer, spürte ich einen Anflug von Furcht. Das Gefühl strömte geradewegs durch die Blutsbande, die mich mit Eric verbanden. Ich war also nicht die Einzige hier, die beunruhigt war. Die Unterhaltung der beiden Vampire schien einen toten Punkt erreicht zu haben.
»Entschuldigen Sie, Appius Livius«, sagte ich vorsichtig. »Da Sie oft zur richtigen Zeit im richtigen Imperium waren, haben Sie da eigentlich auch Jesus gesehen?«
Der Römer starrte in Richtung Diele, als wollte er Alexej wieder herbeizaubern. »Den Zimmermann? Nein, den habe ich nicht gesehen«, erwiderte Appius, und ich bemerkte, dass er sich bemühte, höflich zu sein. »Der Jude starb um die Zeit, als ich zum Vampir wurde. Sie werden verstehen, dass ich da mit einer Menge anderer Dinge beschäftigt war. Ich habe den ganzen Mythos sogar erst viel später gehört, als die Welt sich infolge seines Todes zu verändern begann.«
Es wäre wirklich aufregend gewesen, sich mit jemandem zu unterhalten, der den lebenden Gott gesehen hatte ... selbst wenn er seine Geschichte einen »Mythos« nannte. Und dann kehrte auch meine Furcht vor dem Römer zurück, nicht wegen dem, was er mir oder Eric angetan hatte, oder sogar Alexej, sondern wegen dem, was er uns allen antun könnte, wenn er sich dazu entschloss. Ich hatte mich stets bemüht, nach dem Guten im Menschen zu suchen. Doch das Beste, was ich über Appius sagen konnte, war, dass er zumindest immer einen guten Geschmack bei der Auswahl seiner Vampirkinder bewiesen hatte.
Während ich vor mich hin grübelte, erzählte Appius Eric, wie einfach es für ihn im Keller des Ipatjew-Hauses in Jekaterinburg gewesen war. Alexej hatte durch seine Wunden schon fast alles Blut verloren, und so musste er dem Jungen nur noch einen großen Schluck seines eigenen Blutes geben - mit blitzartiger Geschwindigkeit und deshalb unsichtbar für das Erschießungskommando. Dann beobachtete er aus den Schatten heraus, wie die Leichen in einen Wald geschafft und dort in eine Senke geworfen wurden. Am nächsten Tag wurde die Zarenfamilie dort jedoch wieder herausgeholt, da die Mörder einen Aufruhr befürchteten und die Spuren ihrer Tat noch gründlicher beseitigen wollten.
»Ich folgte ihnen, sobald am nächsten Tag die Sonne untergegangen war«, sagte Appius. »Sie hatten eine Grube ausgehoben, um sie wieder zu verscharren. Alexej und eine seiner Schwestern ...«
»Maria«, ergänzte Alexej leise, und ich fuhr zusammen. Er war völlig lautlos wieder ins Wohnzimmer gekommen und stand hinter Appius. »Es war Maria.«
Kurz herrschte Schweigen. Appius wirkte sehr erleichtert. »Ja, natürlich, mein lieber Junge«, sagte er, und es gelang ihm sogar, sich den Anschein von Anteilnahme zu geben. »Deine Schwester Maria war schon richtig tot, aber in dir glühte noch ein winziger Funke.« Alexej legte seine Hand auf Appius Livius' Schulter, und Appius Livius tätschelte sie.
»Sie hatten mehrmals auf ihn geschossen«, erklärte er Eric. »Zweimal in den Kopf. Ich gab mein Blut direkt in die Schusswunden.« Er drehte sich nach dem hinter ihm stehenden Jungen um. »Mein Blut wirkte so gut, weil du schon so viel von deinem verloren hattest.« Es klang, als würde er sich an glückliche Zeiten erinnern. Unglaublich, oder? Dann drehte der Römer sich wieder zu Eric und mir um. Er lächelte stolz. Aber ich konnte Alexejs Gesicht sehen.
Appius Livius sah sich tatsächlich als Alexejs Retter. Ich war mir allerdings nicht so sicher, dass Alexej das genauso sah.
»Wo ist Ihr Bruder?«, fragte Appius Livius plötzlich, und ich zählte sofort eins und eins zusammen und sprang auf, um nach ihm zu sehen. Erics Schöpfer wollte sichergehen, dass Alexej Jason nicht das Blut ausgesaugt und ihn draußen im Hof liegen gelassen hatte.
Doch in diesem Augenblick kam auch Jason ins Wohnzimmer zurück; er stopfte gerade sein Handy in die Hosentasche. Unsere Blicke trafen sich. Jason war nicht der Typ Mann, dem Subtilitäten auffielen, doch es blieb ihm nicht verborgen, wenn ich mir Sorgen machte, »'tschuldige«, sagte er. »Hab mit Michele telefoniert.«
»Hmmm«, machte ich und merkte mir, dass es Appius Livius beunruhigte, wenn Alexej mit Menschen allein war. Was mich nicht weniger beunruhigen sollte. Die Nacht schritt immer weiter voran, und ich wollte noch ein paar andere Dinge erfahren. »Ich wechsele nicht gern einfach so das Thema, aber es gibt noch einiges, das ich wissen muss.«
»Was denn, Sookie?«, fragte Eric und sah mich zum ersten Mal, seit der Große Meister aufgetaucht war, direkt an. Er mahnte mich über unsere Blutsbande zur Vorsicht.
»Ich habe nur ein paar Fragen«, sagte ich und lächelte so reizend, wie ich konnte. »Sind Sie schon länger in diesem Bezirk hier?«
Ich sah ihm noch einmal in seine uralten dunklen Augen. Es war irgendwie schwierig, Appius zu fassen zu kriegen. Ich konnte ihn einfach nicht greifen als ein und dasselbe Individuum. Er jagte mir eine Heidenangst ein.
»Nein«, erwiderte er sanft. »Wir sind aus dem Südwesten hierhergekommen, aus Oklahoma, und sind gerade erst in Louisiana eingetroffen.«
»Dann wissen Sie also nichts über die frische Leiche, die in meinem Wald begraben liegt?«
»Nein, nichts. Möchten Sie, dass wir sie ausgraben? Unangenehm, aber machbar. Möchten Sie wissen, wer es ist?«
Das war ein unerwartetes Angebot. Eric sah mich auf sehr seltsame Weise an. »Tut mir leid, Schatz«, sagte ich zu ihm. »Ich wollte es dir gerade erzählen, als plötzlich unsere Gäste kamen.«
»Nicht Debbie?«, fragte er.
»Nein. Heidi sagt, es gibt noch ein neues Grab. Und wir müssen wissen, wer darin liegt und wer die Leiche dort begraben hat.«
»Die Werwölfe«, sagte Eric sofort. »Das ist der Dank, den man erntet, wenn man ihnen sein Land zur Verfügung stellt. Ich rufe Alcide an, wir müssen das besprechen.« Eric wirkte geradezu erfreut, dass er Gelegenheit bekam, sich in Boss-Pose zu werfen. Er zog sein Handy hervor und wählte Alcides Nummer, ehe ich auch nur ein Wort sagen konnte.
»Eric«, meldete er sich, als der Anruf angenommen wurde. »Alcide, wir müssen reden.« Ich konnte vom anderen Ende der Leitung Geräusche hören.
Einen Augenblick später sagte Eric: »Das ist nicht gut, Alcide, und es tut mir leid zu hören, dass Sie Ärger haben. Aber mir geht es um etwas anderes. Was haben Sie auf Sookies Land gemacht?«
Ach du heilige Scheiße.
»Dann sollten Sie besser herkommen. Ich glaube, dass einige Ihrer Leute hier für ein richtiges Problem gesorgt haben. Sehr gut. Okay, ich sehe Sie in zehn Minuten. Ja, bei Sookie.«
Mit triumphierendem Blick legte er auf.
»Ist Alcide gerade in Bon Temps?«, fragte ich.
»Nein, aber er ist auf der Autobahn und in der Nähe unserer Ausfahrt«, erklärte Eric. »Er ist auf der Rückfahrt von irgendeinem Geschäftstreffen in Monroe. Die Rudel aus Louisiana wollen versuchen, der Regierung als geeinte Front entgegenzutreten. Da sie aber noch nie organisiert waren, wird das kaum funktionieren.« Eric schnaubte verächtlich. »Die Werwölfe sind immer - was hast du letztens über die Katastrophenhilfe der FEMA gesagt, Sookie? >Um Haaresbreite zu spät dran<, oder? Wenigstens ist er in der Nähe, und sobald er hier ist, werden wir der Sache auf den Grund gehen.«
Ich seufzte, und zwar diskret und leise, wie ich hoffte. Wer hätte denn ahnen können, dass die Dinge sich so schnell so weit entwickeln würden. Ich fragte Eric, Appius Livius und Alexej, ob sie noch mehr TrueBlood wollten, aber sie lehnten ab. Jason wirkte gelangweilt. Ich warf einen Blick auf die Uhr.
»Ich habe leider nur einen für Vampire geeigneten Platz. Wo sollen denn alle schlafen, wenn die Sonne aufgeht? Ich muss es nur wissen, damit ich herumtelefonieren und nach Unterkünften suchen kann.«
»Sookie«, erwiderte Eric sanft, »ich werde Ocella und seinen Sohn mit zu mir nach Hause nehmen. Sie können die Gästesärge dort haben.«
Eric schlief normalerweise in seinem Bett, weil sein Schlafzimmer keine Fenster hatte. Im Gästezimmer standen jedoch einige Särge aus hochglänzendem Kunststoff, die wie eine Art Kajak aussahen und unter den Betten verstaut waren. Eigentlich eine ganz gute Lösung, nur für mich nicht. Denn wenn Alexej und Appius Livius mit zu Eric gingen, würde ich definitiv zu Hause bleiben.
»Mir scheint, deine Liebste würde nur zu gern tagsüber vorbeikommen und uns einen Pfahl ins Herz stoßen«, sagte Appius Livius, als hätte er einen gelungenen Scherz gemacht. »Wenn Sie glauben, dass Sie das schaffen, junge Frau, dann können Sie es gern ausprobieren.«
»Aber nicht doch«, erwiderte ich, vollkommen unaufrichtig. »Ich würde nicht im Traum daran denken, Erics Dad so etwas anzutun.« Eigentlich gar keine schlechte Idee.
Eric zuckte am ganzen Körper, was komisch aussah, wie ein Hund, der im Traum rannte. »Sei höflich.« In seiner Stimme lag nicht die geringste Komik. Er hatte mir einen Befehl erteilt.
Ich holte einmal tief Luft. Es lag mir auf der Zunge, Eric die Erlaubnis, sich in meinem Haus aufzuhalten, zu entziehen. Er würde gehen müssen, und Appius Livius und Alexej vermutlich auch. Es war dieses »vermutlich«, das mich dann doch schweigen ließ. Die gruselige Vorstellung, auch nur eine Sekunde lang mit Appius Livius allein zu sein, übertrumpfte die witzige Fantasie, wie die drei Vampire rückwärtsgehend das Haus verlassen müssten.
Es war vermutlich ein Glück für uns alle, dass es in diesem Augenblick an der Haustür klingelte. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf. Es würde guttun, weitere Atmende um sich zu haben.
Alcide kam im Anzug und hatte eine Frau an jeder Seite; Annabelle, die ein dunkelgrünes Etuikleid und Pumps mit hohen Absätzen trug, und Jannalynn, Sams neue Freundin. Jannalynn hatte in gewisser Weise Stil, auch wenn es ein Stil war, der mich immer wieder sprachlos machte. Sie trug ein glänzendes silbernes Kleid, das kaum den Busen bedeckte, und hochhackige silberne Sandaletten, die vorn geschnürt waren. Silberner Lidschatten über stark mit Kajal umrandeten Augen komplettierten den Look. Und doch sah sie auf schaurige Weise schön aus. Sam hatte definitiv etwas für außergewöhnliche Frauen übrig und auch keine Angst vor starken Persönlichkeiten, ein Gedanke, über den ich später noch mal nachdenken müsste. Hatte das vielleicht etwas mit der Zweigestaltigkeit zu tun? Alcide war genauso.
Ich begrüßte den Leitwolf mit einer Umarmung und sagte hallo zu Annabelle und Jannalynn, die mir kurz zunickten.
»Von welchem Problem hat Eric am Telefon gesprochen?«, fragte Alcide, doch ich trat zur Seite und ließ sie erst mal herein. Als die Werwölfe sahen, dass sie einen Raum voller Vampire betraten, stieg ihre Anspannung merklich. Sie hatten nur mit Eric gerechnet. Ich sah zu den Vampiren hinüber und merkte, dass sie alle aufgestanden waren. Sogar Alexej war in Alarmbereitschaft.
»Alcide, schön, dich zu sehen«, sagte Jason. »Und die Ladys, eine schicker als die andere heute Abend.«
Ich schaltete mich ein. »Hi, alle zusammen!«, rief ich fröhlich. »Es ist wirklich nett, dass ihr so kurzfristig kommen konntet. Eric, du kennst Alcide ja. Alcide, das ist Erics alter Freund Appius Livius Ocella, der zu Besuch hier ist, mit seinem, äh, Protege Alexej. Eric, ich weiß nicht, ob du Alcides Freundin Annabelle schon kennst, ein neues Rudelmitglied, und das ist Jannalynn, sie ist bereits seit Jahren beim Reißzahn-Rudel. Jannalynn, wir hatten noch nie die Gelegenheit, uns mal richtig zu unterhalten, aber Sam spricht natürlich die ganze Zeit von Ihnen. Und ich glaube, ihr alle kennt meinen Bruder Jason.«
Puh. Das war ja der reinste Vorstellungsmarathon gewesen. Aber da es bei Vampiren kein Händeschütteln gab, war damit das Eröffnungsgeplänkel beendet. Ich sorgte dafür, dass alle einen Sitzplatz fanden, und bot auch etwas zu trinken an. Doch alle lehnten ab.
Eric kam gleich zur Sache. »Alcide, eine meiner Fährtenleserinnen hat Sookies Land überprüft, weil Basim al Saud in ihrem Wald Fremde gewittert hatte. Und meine Fährtenleserin hat herausgefunden, dass dort eine frische Leiche begraben liegt.«
Alcide sah Eric an, als spreche er in Zungen.
»Wir haben in der Vollmondnacht dort niemanden getötet«, erwiderte Alcide. »Basim sagte, er habe auf Sookies Land eine alte Leiche, ein oder zwei Elfen und einen Vampir gewittert. Von einer frischen Leiche war keine Rede.« »Dennoch ist dort ein neues Grab.«
»Mit dem wir nichts zu tun haben.« Alcide zuckte die Achseln. »Ihre Fährtenleserin hat die frische Leiche doch erst drei Nächte, nachdem wir dort waren, aufgespürt.«
»Ist das nicht ein etwas zu großer Zufall? Eine Leiche auf Sookies Land, gleich nachdem Ihr Rudel dort war?« Eric wirkte auf nervtötende Weise vernünftig.
»Vielleicht ist es ein noch größerer Zufall, dass sich bereits eine Leiche auf Sookies Land befand.«
Oh, Mist. Darüber wollte ich nun wirklich nicht reden.
Jannalynn ging soweit, Eric tatsächlich anzuknurren. Ein interessanter Anblick, so mit den geschminkten Augen und allem. Annabelle stand mit leicht abgewinkelten Armen da, bereit, sich jederzeit in irgendeine Richtung zu stürzen.
Alexej starrte ins Leere, was die Haltung zu sein schien, auf die er sich immer zurückzog, und Appius Livius wirkte einfach nur gelangweilt.
»Ich finde, wir sollten nachsehen, wer das überhaupt ist«, schlug Jason plötzlich vor.
Ich warf ihm einen zustimmenden Blick zu.
Und so gingen wir in den Wald hinaus, um eine Leiche auszugraben.