Kapitel 1

APRIL

Ich liebe den Frühling aus all den naheliegenden Gründen. Ich liebe es, wenn die Blumen blühen (was früh geschieht hier in Louisiana); ich liebe die zwitschernden Vögel; ich liebe es, wenn die Eichhörnchen über meinen Hof flitzen.

Und ich liebe das Heulen der Werwölfe in der Ferne.

Nein, war nur ein Scherz. Aber der kürzlich verstorbene Tray Dawson hatte mir erzählt, dass der Frühling die liebste Jahreszeit der Werwölfe ist. Dann gibt es mehr Beute, sodass die Jagd schnell vorbei ist und mehr Zeit fürs Fressen und Spielen bleibt. Und da ich an Werwölfe gedacht hatte, überraschte es mich nicht, von einem zu hören.

An jenem sonnigen Frühlingsmorgen Mitte April saß ich mit meinem zweiten Becher Kaffee und einer Zeitschrift auf meiner vorderen Veranda, immer noch in Schlafanzughose und Superwoman-Shirt, als der Leitwolf des Shreveporter Rudels mich auf dem Handy anrief.

»Nanu«, rief ich, als ich die Nummer erkannte. Ich klappte das Telefon auf. »Hallo«, sagte ich verhalten.

»Sookie«, erwiderte Alcide Herveaux. Ich hatte Alcide seit Monaten nicht gesehen. Alcide war im letzten Jahr an einem einzigen, ziemlich gewalttätigen Abend zum Leitwolf aufgestiegen. »Wie geht es dir?«»Blendend«, sagte ich und meinte es beinahe ernst. »Ich bin quietschvergnügt. Fit wie ein Turnschuh.« In ungefähr fünf Meter Entfernung sah ich einen Hasen durch das kleedurchwachsene Gras hoppeln. Frühling.

»Bist du noch mit Eric zusammen? Ist er der Grund für deine gute Laune?«

Jeder wollte es wissen. »Ich bin noch mit Eric zusammen. Was auf jeden Fall dazu beiträgt, dass ich glücklich bin.« Eric sagte mir allerdings dauernd, dass »zusammen sein« eigentlich der falsche Ausdruck sei. Ich selbst betrachtete mich nicht als verheiratet, da ich ihm einfach bloß einen Zeremoniendolch überreicht hatte (Eric hatte mein Unwissen als Teil seiner meisterhaften Strategie genutzt), aber die Vampire taten es. Eine Ehe von Vampir und Mensch ist nicht genau dasselbe wie eine unter Menschen, die »sich lieben, achten und ehren« wollen, doch Eric war davon ausgegangen, dass die Heirat für mich in der Vampirwelt von Vorteil sein würde. Und seitdem waren die Dinge ja auch ziemlich gut gelaufen, auf Vampirseite jedenfalls. Abgesehen von Victors Riesenlapsus, als er Eric verbot, mir zu Hilfe zu eilen, während ich beinahe starb - Victor, der wirklich unbedingt sterben musste.

Mit einer Entschlossenheit, die man nur durch lange Übung erwarb, wandte ich meine Gedanken ab von diesen düsteren Gefilden. Na also. Das war schon besser. Inzwischen sprang ich wieder jeden Tag mit (fast) meiner alten Lebensenergie aus dem Bett. Am letzten Sonntag war ich sogar in die Kirche gegangen. Wirklich!

»Was ist denn los, Alcide?«, fragte ich.

»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte er, was mich nicht allzu sehr überraschte.

»Was kann ich für dich tun?«

»Könnten wir für unseren Vollmond-Auslauf morgen Nacht dein Land benutzen?«

Ich hielt mich einen Augenblick zurück, um über seine Bitte nachzudenken, statt einfach automatisch ja zu sagen. Ich lerne eben doch aus Erfahrung. Das Gelände, das die Werwölfe brauchten, hatte ich, das war nicht das Problem. Ich besaß immer noch etwa zehn Hektar Land rund um mein Haus, auch wenn meine Großmutter den Großteil der alten Farm verkauft hatte, als sie die finanzielle Last, meinen Bruder und mich aufzuziehen, irgendwie schultern musste. Der Friedhof »Trautes Heim« schlug zwar eine Schneise in das Land zwischen Bills und meinem Grundstück, aber es war immer noch genug Platz - vor allem, wenn auch Bill ihnen Zutritt zu seinem Land gewährte. Und ich erinnerte mich daran, dass das Rudel schon einmal hier gewesen war.

Ich drehte und wendete die Idee, um sie von allen Seiten zu betrachten. Ein offensichtlicher Nachteil fiel mir nicht auf. »Ihr könnt gern kommen«, sagte ich schließlich. »Aber ihr solltet euch auch mit Bill Compton absprechen.« Bill hatte übrigens auf keine meiner kleinen Nettigkeitsgesten reagiert.

Vampire und Werwölfe neigen nicht dazu, die besten Freunde zu sein, aber Alcide ist ein praktisch veranlagter Mann. »Dann rufe ich Bill heute Abend an«, erwiderte er. »Hast du seine Nummer?«

Ich gab sie ihm. »Warum nehmt ihr eigentlich nicht dein Land, Alcide?«, fragte ich aus reiner Neugier. Er hatte mir in einem zwanglosen Gespräch mal erzählt, dass das Reißzahn-Rudel den Vollmond gern auf der Herveaux-Farm südlich von Shreveport feierte. Das Land der Herveaux bestand zum größten Teil aus Nutzwald, extra wegen der Rudel-Jagden.

»Ham hat heute angerufen und erzählt, dass beim Fluss unten eine Gruppe Einer zeltet.« »Einer«, eingestaltige Geschöpfe, so nannten die zweigestaltigen Wergeschöpfe gewöhnliche Menschen. Ich kannte Hamilton Bond vom Sehen. Seine Farm grenzte an die der Familie Herveaux an, und Ham beackerte auch ein paar Hektar Land für Alcide. Die Familie Bond gehörte schon genauso lange zum Reißzahn-Rudel wie die Herveaux.

»Hast du ihnen denn erlaubt, dort zu zelten?«, fragte ich.

»Sie sagten zu Ham, mein Dad habe ihnen immer erlaubt, dort im Frühling zu angeln. Deshalb hätten sie nicht daran gedacht, mich zu fragen. Das könnte stimmen. Ich kann mich allerdings nicht an sie erinnern.«

»Selbst wenn es stimmt, ist es doch ziemlich unhöflich. Sie hätten dich anrufen sollen«, erwiderte ich. »Sie hätten dich fragen sollen, ob es dir auch passt. Willst du, dass ich mit ihnen rede? Ich kann herausfinden, ob sie lügen.« Jackson Herveaux, Alcides verstorbener Vater, hatte nicht wie die Sorte Mann gewirkt, die Leuten einfach so erlaubte, sein Land regelmäßig zu benutzen.

»Nein danke, Sookie. Ich will dich nicht um noch einen Gefallen bitten. Du bist eine Freundin des Rudels. Wir sollen eigentlich auf dich aufpassen, nicht du auf uns.«

»Mach dir deshalb keine Gedanken. Ihr könnt alle gern hier herauskommen. Und wenn du willst, dass ich diesen angeblichen Freunden deines Dads mal die Hand schüttele, dann tu ich es.« Ich war selbst neugierig, warum sie so kurz vor Vollmond wohl auf der Herveaux-Farm aufgetaucht waren. Neugierig und argwöhnisch.

Alcide meinte, er werde über die Sache mit den Anglern noch mal nachdenken, und dankte mir etwa sechs Mal dafür, dass ich ja gesagt hatte.

»Schon in Ordnung«, erwiderte ich und hoffte, dass das auch der Wahrheit entsprach. Und dann hatte Alcide endlich den Eindruck, dass er sich oft genug bedankt hatte, und wir legten auf.

Ich ging mit meinem Becher Kaffee ins Haus; erst als ich in den Spiegel im Wohnzimmer blickte, bemerkte ich, dass ich lächelte. Ja, gestand ich mir ein, ich freute mich auf das Kommen der Werwölfe. Es würde schön sein, sich nicht so ganz allein zu fühlen mitten im Wald. Ziemlich peinlich, wie?

Meine wenigen gemeinsamen Abende mit Eric liefen gut, doch er verbrachte immer noch Unmengen an Zeit mit seinen Vampirangelegenheiten. Was mich langsam ein wenig nervte. Okay, nicht nur ein wenig. Wenn man der Boss ist, sollte man doch wohl in der Lage sein, sich hin und wieder mal frei zu nehmen, richtig? Das ist einer der Vorteile davon, der Boss zu sein.

Aber irgendetwas war los bei den Vampiren; die Anzeichen waren mir leider nur allzu vertraut. Mittlerweile hätte das neue Regime gefestigt und Erics neue Rolle innerhalb des Systems klar definiert sein müssen. Victor Madden war König Felipes Repräsentant in Louisiana und hätte eigentlich mit der stellvertretenden Leitung des Königreichs unten in New Orleans völlig ausgelastet sein sollen. Und es hätte allein Erics Aufgabe sein sollen, den Bezirk Fünf auf die ihm eigene effiziente Weise zu leiten.

Doch Erics blaue Augen begannen stählern zu funkeln, wann immer Victors Name fiel. Meine wahrscheinlich auch. Denn so wie die Dinge zurzeit standen, hatte Victor Macht über Eric, und es gab nicht allzu viel, was wir dagegen tun konnten.

Ich hatte Eric gefragt, ob Victor einfach die Behauptung aufstellen könne, Erics Leistungen im Bezirk Fünf seien nicht zufriedenstellend, eine schreckliche Vorstellung.

»Ich bewahre Unterlagen auf, um das Gegenteil beweisen zu können«, sagte Eric. »Und ich bewahre sie an verschiedenen Stellen auf.« Das Leben all seiner Leute, und vielleicht auch mein eigenes Leben, hing davon ab, dass Eric festen Fuß fasste im neuen Regime. Ich wusste, wie sehr es darauf ankam, dass er seine Position unangreifbar machte, und ich wusste, dass ich nicht jammern sollte. Aber es ist nicht immer leicht, die Gefühle zu empfinden, die man empfinden sollte.

Alles in allem wäre etwas Wolfsgeheul rund ums Haus also eine nette Abwechslung. Zumindest wäre es mal was Neues und irgendwie anders.

Als ich an diesem Tag zur Arbeit kam, erzählte ich Sam von Alcides Anruf. Echte Gestaltwandler sind selten. Und weil es in dieser Gegend keine anderen gab, verbrachte Sam manchmal Zeit mit denen, die zwei Gestalten hatten. »Hey, warum kommst du nicht auch raus zu mir?«, schlug ich vor. »Du als echter Gestaltwandler könntest dich doch auch in einen Wolf verwandeln, oder? Und dann mischst du dich einfach unter die anderen.«

Sam lehnte sich in seinen alten Drehstuhl zurück, froh darüber, erst mal keine Formulare mehr ausfüllen zu müssen. Sam ist dreißig und damit drei Jahre älter als ich.

»Ich habe mich ein paar Mal mit einer Frau aus dem Rudel getroffen, könnte also Spaß machen«, sagte er und dachte über den Vorschlag nach. Doch schon im nächsten Moment schüttelte er den Kopf. »Das wäre ja, als würde ich mit schwarz angemaltem Gesicht für die Gleichberechtigung der Schwarzen demonstrieren. Quasi als Imitation des Originals. Deshalb habe ich mich auch nie den Panthern angeschlossen, obwohl Calvin mir immer sagt, ich sei jederzeit willkommen.«

»Oh«, sagte ich, peinlich berührt. »Daran habe ich nicht gedacht, tut mir leid.« Ich fragte mich, mit welcher Frau aus dem Rudel er sich getroffen haben mochte - aber auch hier galt: Es ging mich nichts an.

»Ach, mach dir keine Gedanken.«

»Ich kenne dich nun schon seit Jahren und sollte etwas mehr über dich wissen«, erwiderte ich. »Über deine Kultur, meine ich.«

»Meine eigene Familie lernt das alles gerade erst kennen. Du weißt schon mehr als sie.«

Sam hatte sich geoutet, als die Wergeschöpfe an die Öffentlichkeit getreten waren. Und seine Mutter auch, an demselben Abend noch. Seine Familie hatte sich ziemlich schwergetan mit dieser Eröffnung. Sams Stiefvater hatte sogar auf Sams Mutter geschossen, und jetzt ließen sie sich scheiden - keine allzu große Überraschung.

»Wie steht's denn mit der Hochzeit deines Bruders?«, fragte ich.

»Craig und Deidra gehen zur Paarberatung. Ihre Eltern waren ziemlich schockiert, dass sie in eine Familie mit Leuten wie mir und Mom einheiraten will. Sie verstehen einfach nicht, dass die Kinder von Craig und Deidra sich überhaupt nicht in Tiere verwandeln könnten. Das können nur die Erstgeborenen eines vollblütigen Gestaltwandlerpaars.« Er zuckte die Achseln. »Aber ich glaube, die beiden werden es durchziehen. Ich warte eigentlich nur darauf, dass sie einen neuen Termin festsetzen. Hast du immer noch Lust, mich zu begleiten?«

»Klar«, sagte ich, obwohl ich ein ungutes Gefühl hatte bei der Vorstellung, Eric erzählen zu müssen, dass ich mit einem anderen Mann den Bundesstaat verlassen wollte. Zu der Zeit, als ich Sam versprach, mit ihm auf die Hochzeit zu gehen, hatte sich die Sache zwischen Eric und mir noch nicht zu einer Beziehung entwickelt. »Glaubst du, Deidras Eltern würden es als Zumutung auffassen, wenn du mit einer Gestaltwandlerin kämst?«

»Ehrlich gesagt«, begann Sam, »die Große Offenbarung lief in Wright längst nicht so gut für die Wergeschöpfe wie hier in Bon Temps.«

Ich wusste aus den Lokalnachrichten, dass Bon Temps Glück gehabt hatte. Die Bewohner hatten nur kurz geblinzelt, als die Werwölfe und die anderen Gestaltwandler es den Vampiren gleichtaten und bekannt gaben, dass sie existierten. »Sag mir einfach Bescheid, wie sich's entwickelt«, sagte ich. »Und komm morgen Abend raus zu mir, wenn du deine Meinung noch ändern solltest und doch mit dem Rudel los willst.«

»Der Leitwolf hat mich nicht eingeladen«, erwiderte Sam lächelnd.

»Aber die Eigentümerin des Landes.«

Wir sprachen nicht mehr darüber während meiner restlichen Schicht, sodass ich annahm, Sam werde sich etwas anderes überlegen für die Vollmondnacht. Die monatliche Verwandlung erstreckte sich eigentlich über drei Nächte - drei Nächte, in denen alle Zweigestaltigen, wenn sie konnten, in ihrer Tiergestalt durch die Wälder (oder über die Straßen) rannten. Die meisten Zweier - die, die mit ihrer zweiten Natur geboren wurden - können sich auch zu anderen Zeiten verwandeln, aber der Vollmond ... das ist etwas Besonderes für sie alle, einschließlich jener, die diese zweite Natur durch Bisse erworben haben. Es gibt, wie ich höre, ein Medikament, mit dem man die Verwandlung unterdrücken kann; Wergeschöpfe in der Armee zum Beispiel, aber auch andere, müssen es einnehmen. Doch das tun sie alle nur mit großem Widerwillen, und soweit ich weiß, ist es kein Vergnügen, sie in solchen Nächten um sich zu haben.

Glücklicherweise hatte ich am nächsten Tag frei. Wenn ich spätabends vom Merlotte's nach Hause gekommen wäre, hätte der kurze Weg vom Auto ins Haus ziemlich nervenaufreibend werden können wegen all der frei herumlaufenden Wölfe. Ich bin nicht sicher, wie viel ihres menschlichen Bewusstseins erhalten bleibt, wenn sie sich in Werwölfe verwandeln, und auch nicht alle Mitglieder aus Alcides Rudel sind gute Freunde von mir. Da ich also zu Hause sein würde, sah ich meiner Rolle als Gastgeberin mehr oder weniger gelassen entgegen. Denn wenn die Besucher nur zur Jagd in den Wäldern kamen, gab's nichts weiter vorzubereiten. Ich musste nicht kochen und noch nicht mal das Haus putzen.

Aber Besuch auf dem Grundstück war eine gute Motivation, endlich einige der Arbeiten draußen zu erledigen. Und weil wieder wunderschönes Wetter war, zog ich meinen Bikini an, streifte Sneakers und Gartenhandschuhe über und machte mich ans Werk. Zweige, Blätter und Kiefernzapfen wanderten in die Feuertonne, zusammen mit den Heckenabfällen. Ich sorgte dafür, dass alle Gartenwerkzeuge in den Schuppen geräumt waren, und schloss ihn ab. Ich rollte den Gartenschlauch auf, mit dem ich die an den Stufen zur hinteren Veranda aufgestellten Kübelpflanzen gegossen hatte. Ich überprüfte den Klemmverschluss der großen Abfalltonne. Diese Tonne hatte ich extra gekauft, damit die Waschbären den Müll nicht durchwühlten. Aber Wölfe würden sich vielleicht auch dafür interessieren.

Und so verbrachte ich einen angenehmen Nachmittag in der Sonne, werkelte herum und sang schief und fröhlich vor mich hin, wann immer ich Lust dazu hatte.

Als es zu dämmern begann, kamen auch schon die ersten Autos. Ich trat ans Fenster. Die Werwölfe waren anscheinend klug genug gewesen, sich zu Fahrgemeinschaften zusammenzutun, denn in jedem Wagen saßen mehrere Leute. Doch meine Auffahrt würde trotzdem bis zum nächsten Morgen blockiert sein. Wie gut, dass ich sowieso zu Hause bleiben wollte, dachte ich. Einige der Rudelmitglieder kannte ich gut, andere nur vom Sehen. Hamilton Bond, der mit Alcide zusammen aufgewachsen war, kam herangefahren, blieb aber erst mal in seinem Pick-up sitzen und telefonierte mit dem Handy. Mein Blick wanderte weiter zu einem dünnen, lebhaften jungen Mädchen mit einer Vorliebe für Glitzermode, so Sachen, die bei mir nur MTV-Klamotten hießen. Sie war mir zum ersten Mal in der Bar Hair of the Dog in Shreveport aufgefallen. Als Alcide den Werwolfkrieg gewonnen hatte, war ihr die Aufgabe übertragen worden, die verletzten Feinde zu exekutieren; Jannalynn hieß sie, glaube ich. Und ich erkannte auch zwei Frauen aus dem angreifenden Rudel, die sich nach Beendigung der Kämpfe ergeben hatten. Inzwischen hatten sie sich also ihren einstigen Feinden angeschlossen. Damals hatte sich auch noch ein junger Marin ergeben, aber er hätte jeder aus dem Dutzend sein können, das mittlerweile ruhelos vor meinem Haus herumlief.

Schließlich kam Alcide in seinem mir vertrauten Pick-up an. Zwei weitere Leute saßen bei ihm in der Fahrerkabine.

Alcide selbst ist groß und kräftig, so wie die meisten Werwölfe. Er ist ein attraktiver Mann mit schwarzem Haar und grünen Augen, und er ist natürlich ziemlich stark. Alcide ist normalerweise sehr höflich und rücksichtsvoll - aber er hat ganz sicher auch eine harte Seite. Von Sam und Jason hatte ich Gerüchte gehört, dass diese harte Seite seit seinem Aufstieg zum Leitwolf sehr viel öfter zum Vorschein kam. Mir fiel auf, dass Jannalynn sich extra bemühte, an der Autotür zu stehen, als Alcide aus dem Pick-up stieg.

Die Frau, die nach ihm ausstieg, war Ende zwanzig und hatte ausgeprägte Hüften. Sie trug ihr braunes Haar zu einem kleinen Knoten zurückgebunden, und ihr tarnfarbenes ärmelloses Top ließ erkennen, wie muskulös und fit sie war. Einen Augenblick lang sah Tarnfarbe sich vor meinem Haus um, als käme sie von der Steuerbehörde. Der Mann, der auf der anderen Seite des Pickups ausstieg, war ein wenig älter und wirkte sehr viel hartgesottener.

Auch wenn man keine Gedanken lesen kann, erkennt man manchmal auf den ersten Blick, dass ein Mensch ein hartes Leben hat. Dieser Mann hier hatte eins. Allein schon die Art, wie er sich bewegte, sagte mir, dass er jederzeit mit Schwierigkeiten rechnete. Interessant.

Ich behielt ihn im Auge, das war wohl auch nötig. Er hatte schulterlanges dunkelbraunes Haar, das ihm in einer Wolke von Korkenzieherlocken um den Kopf stand. Unwillkürlich starrte ich es neidisch an. Solches Haar hatte ich mir immer gewünscht.

Als ich meinen Haar-Neid überwunden hatte, fiel mir auf, dass seine Haut braun wie Mokkaeiscreme war. Und obwohl er nicht so groß war wie Alcide, hatte er doch dickbepackte Schultern auf einem aggressiv muskulösen Körper.

Hätte es auf dem gepflasterten Weg zu meiner vorderen Veranda einen Gangster-Alarm gegeben, wäre er in dem Moment losgegangen, als Korkenzieher seinen Fuß daraufsetzte. »Alarmstufe rot, Captain Kirk«, sagte ich laut vor mich hin. Ich hatte Tarnfarbe und Korkenzieher noch nie zuvor gesehen. Schließlich stieg auch Hamilton Bond aus seinem Pick-up aus und kam herüber zu der kleinen Gruppe, blieb aber vor den Stufen stehen und trat nicht zu Alcide, Korkenzieher und Tarnfarbe auf die Veranda. Ham hielt sich zurück. Jannalynn gesellte sich zu ihm. Das Reißzahn-Rudel hatte anscheinend nicht nur seine Reihen vergrößert, sondern auch seine Hackordnung neu festgelegt.

Als ich auf ein Klopfen hin die Tür öffnete, hatte ich mein Gastgeberinnen-Lächeln aufgesetzt. Der Bikini hätte die falschen Signale ausgesandt (Mmmh, zum Anbeißen lecker!), deshalb trug ich eine alte abgeschnittene Jeans und ein Fangtasia-Shirt. Ich stieß die Fliegengittertür auf. »Alcide!« Ich freute mich wirklich, ihn zu sehen, und wir umarmten uns kurz. Er fühlte sich enorm warm an, wohl weil ich in letzter Zeit vor allem von dem nicht mal Zimmertemperatur erreichenden Eric umarmt worden war. Ich nahm eine Art Gefühlsaufwallung wahr und bemerkte, dass unsere Umarmung für Tarnfarbe, auch wenn sie mich anlächelte, kein willkommener Anblick gewesen war. »Hamilton!«, sagte ich und nickte ihm zu, da er zu weit weg stand, um auch ihn zu umarmen.

»Sookie«, begann Alcide, »ich möchte dir einige neue Mitglieder vorstellen. Das ist Annabelle Bannister.«

So hieß Tarnfarbe also mit richtigem Namen. Ich hatte noch nie eine Frau getroffen, die weniger wie eine »Annabelle« aussah als diese. Aber natürlich gab ich ihr die Hand und sagte ihr, dass ich mich freute, sie kennenzulernen.

»Ham kennst du ja, und Jannalynn hast du, glaube ich, auch schon mal gesehen, oder?«, fragte Alcide und deutete mit einem Kopfnicken hinter sich.

Ich nickte den beiden am Fuße der Stufen zu.

»Und das ist Basim al Saud, mein neuer Stellvertreter«, sagte Alcide und deutete auf Korkenzieher. Es wurde »bah-ßIEHM« ausgesprochen, und der Name kam Alcide so leicht über die Lippen, als würde er mir ständig Araber vorstellen. Okay. »Halli-hallo, Basim«, sagte ich und reichte ihm die Hand. Als »Stellvertreter« wurden, soweit ich wusste, unter anderem Leute bezeichnet, die jeden in Angst und Schrecken versetzen konnten, und für den Job schien Basim bestens qualifiziert. Etwas zögernd streckte er mir seine Hand entgegen. Ich schüttelte sie und war gespannt, was ich über ihn erfahren würde. Die Gedanken der Wergeschöpfe sind wegen ihrer zweifachen Natur oft sehr schwer zu entziffern. Jedenfalls bekam ich selten einzelne Gedanken zu fassen, meistens nur ein wirres Durcheinander von Misstrauen, Aggression und Begierde.

Komisch, das war ziemlich genau das, was ich von der Annabelle mit dem unpassenden Namen auffing. »Wie lange sind Sie schon in Shreveport?«, fragte ich höflich und sah von Annabelle zu Basim, um die Frage gleich an beide zu richten.

»Ein halbes Jahr«, erwiderte Annabelle. »Ich wurde vom Elchtöter-Rudel in South Dakota transferiert.« Dann war sie also bei der Luftwaffe. Sie war in South Dakota stationiert gewesen und dann auf den Luftwaffenstützpunkt Barksdale in Bossier City gleich bei Shreveport versetzt worden.

»Ich bin seit zwei Monaten hier«, sagte Basim. »Und ich gewöhne mich langsam ein.« Obwohl er exotisch aussah, hatte er nur einen ganz leichten Akzent, und seine Aussprache war sehr viel präziser als meine. Urteilte man allein nach der Frisur, war er definitiv kein Armeeangehöriger.

»Basim hat sein altes Rudel in Houston verlassen«, sagte Alcide leichthin, »und wir freuen uns, dass er jetzt zu uns gehört.« »Wir« schloss Hamilton Bond nicht mit ein. Ich konnte Hams Gedanken vielleicht nicht so klar lesen wie die eines Menschen, aber ein großer Fan von Basim war er nicht. Ebenso wenig Jannalynn, die Basim zwar mit Begierde, aber auch mit Abneigung zu betrachten schien. Überhaupt wogte eine Menge Begierde durch das Rudel heute Abend. Sah man sich Basim und Alcide an, war das allerdings auch nicht allzu unverständlich.

»Amüsieren Sie beide sich gut hier heute Nacht, Basim, Annabelle«, sagte ich, bevor ich mich wieder an Alcide wandte. »Alcide, mein Land erstreckt sich im Osten ungefähr einen halben Hektar über den Fluss hinaus, etwa zweieinhalb Hektar nach Süden bis zu dem Feldweg, der zu der Ölquelle führt, und im Norden um den alten Friedhof herum.«

Der Leitwolf nickte. »Ich habe Bill gestern Abend noch angerufen, und er hat nichts dagegen, wenn wir in seinen Wald vordringen. Er wird bis zum Morgengrauen gar nicht zu Hause sein, sodass wir ihn nicht stören werden. Und was ist mit dir, Sookie? Fährst du heute Abend nach Shreveport oder bleibst du zu Hause?«

»Ich bleibe hier. Wenn ich irgendwas für euch tun kann, kommt einfach an die Tür.« Ich lächelte ihnen allen zu.

Ganz bestimmt nicht, Blondchen, dachte Annabelle.

»Aber vielleicht brauchen Sie das Telefon«, sagte ich zu ihr, und sie schreckte zusammen. »Oder auch Erste Hilfe. Man weiß schließlich nie, Annabelle, was einem da draußen zustößt.« Ich hatte zwar mit einem Lächeln im Gesicht begonnen, doch davon war nichts mehr übrig, als ich fertig war.

Die Leute sollten sich wirklich bemühen, etwas höflicher zu sein.

»Danke noch mal, dass wir dein Land benutzen dürfen. Wir machen uns jetzt auf den Weg in den Wald«, sagte Alcide rasch. Es wurde immer dunkler, und ich konnte sehen, wie manche Werwölfe sich bereits in den Schutz der Bäume zurückzogen. Eine der Frauen warf ihren Kopf zurück und heulte auf. Und auch Basims Augen wurden schon runder und goldener.

»Eine schöne Nacht«, sagte ich, trat einen Schritt zurück und klinkte die Fliegengittertür wieder ein. Die drei Werwölfe stiegen die Verandastufen hinab. Alcides Stimme wehte noch zu mir herüber. »Ich habe dir doch gesagt, dass sie Gedanken lesen kann«, belehrte er Annabelle, als sie quer über meine Auffahrt auf den Wald zuliefen, Ham im Schlepptau. Jannalynn begann plötzlich, auf die Baumreihen zuzurennen, so begierig war sie darauf, sich zu verwandeln. Es war Basim, der sich umdrehte und mir noch einen letzten Blick zuwarf, als ich die Haustür schloss. Es war die Art Blick, die einem Tiere im Zoo zuwerfen.

Und dann war es vollkommen dunkel.

Die Werwölfe enttäuschten mich allerdings ein bisschen. Sie machten längst nicht so viel Lärm, wie ich erwartet hatte. Ich blieb natürlich im Haus, verriegelte alle Türen und zog meine Vorhänge zu, was ich normalerweise nicht tat. Schließlich wohnte ich mitten im Wald. Ich sah etwas fern, und ich las ein wenig. Etwas später, beim Zähneputzen, hörte ich darin Wolfsgeheul. Es schien mir von weit her zu kommen, aus dem Osten vielleicht, vom Rand meines Landes.

Früh am nächsten Morgen, die Sonne ging gerade erst auf, wachte ich von Motorenlärm auf. Die Werwölfe fuhren wieder ab. Ich hatte mich schon fast umgedreht, um weiterzuschlafen, als ich bemerkte, dass ich auf die Toilette musste. Als das erledigt war, fühlte ich mich etwas wacher. Ich trottete die Diele entlang zum Wohnzimmer und spähte durch einen Spalt in den Vorhängen. Ham Bond kam gerade aus dem Wald; er sah ein wenig mitgenommen aus und unterhielt sich mit Alcide. Ihre Pickups waren die letzten Autos, die noch dastanden. Einen Augenblick später tauchte auch Annabelle auf.

Das frühe Morgenlicht fiel schräg auf das taufeuchte Gras, als die drei Werwölfe langsam über die Wiese gingen, angezogen wie am Abend zuvor, nur die Schuhe in den Händen. Sie wirkten erschöpft, aber glücklich. Ihre Kleider waren nicht blutbefleckt, nur ihre Gesichter und Arme. Sie hatten offenbar eine erfolgreiche Jagd hinter sich. Die armen Bambis, fuhr es mir durch den Kopf, doch ich unterdrückte den Gedanken gleich wieder. Das hier war auch nicht viel anders, als aus dem Hinterhalt mit einem Gewehr auf Tiere zu schießen.

Einen Augenblick später trat Basim aus dem Wald. In dem schräg herabfallenden Sonnenlicht sah er aus wie eine Gestalt des Waldes, sein Haar steckte voller Laub und kleiner Zweige. Basim al Saud hatte etwas Altertümliches an sich. Wie er im wolflosen Arabien wohl zum Werwolf geworden war, fragte ich mich, und während ich noch hinaussah, entfernte Basim sich von den anderen drei und kam auf meine vordere Veranda. Er klopfte, leise, aber bestimmt.

Ich zählte bis zehn, dann öffnete ich die Tür. All das Blut, herrje. Ich versuchte nicht hinzusehen. Offensichtlich hatte er sich das Gesicht im Fluss gewaschen und dabei den Hals vergessen.

»Miss Stackhouse, guten Morgen«, begann Basim höflich. »Alcide sagt, ich soll Ihnen mitteilen, dass noch andere Geschöpfe Ihr Land durchquert haben.«

Ich konnte spüren, wie sich zwischen meinen Augenbrauen eine Falte bildete, als ich die Stirn runzelte. »Was für Geschöpfe, Basim?«

»Mindestens einer war ein Elf«, erwiderte er. »Vielleicht auch mehr als ein Elf, aber einer auf jeden Fall.«

Das war aus ungefähr sechs verschiedenen Gründen höchst unwahrscheinlich. »Sind die Fährten... oder Spuren ... frisch? Oder schon ein paar Wochen alt?«

»Sehr frisch«, sagte er. »Außerdem riecht es stark nach Vampir. Eine üble Mischung.«

»Das ist eine unerfreuliche Neuigkeit, aber etwas, das ich wissen muss. Vielen Dank, dass Sie mir Bescheid gesagt haben.«

»Und da draußen liegt eine Leiche.«

Ich starrte ihn an und zwang mich zu einer ausdruckslosen Miene. Ich habe jede Menge Übung darin, nicht zu zeigen, was ich denke; das muss jeder Telepath bestens beherrschen. »Wie alt ist die Leiche?«, fragte ich, als ich mir wieder sicher war, dass ich meine Stimme unter Kontrolle hatte.

»Ungefähr anderthalb Jahre, vielleicht nicht ganz so alt.« Basim machte kein großes Aufhebens davon, dass sie eine Leiche gefunden hatten. Er ließ mich einfach nur wissen, dass sie eben da war. »Sie liegt ziemlich weit draußen, sehr tief vergraben.«

Ich sagte gar nichts. Herrgott, das musste Debbie Pelt sein. Seit Eric sich wieder an die Geschehnisse jener Nacht erinnern konnte, hatte ich ihm diese eine Frage immer noch nicht gestellt: wo er ihre Leiche vergraben hatte, nachdem ich sie getötet hatte.

Basims dunkle Augen musterten mich höchst aufmerksam. »Alcide möchte, dass Sie anrufen, falls Sie Hilfe oder Rat brauchen.«

»Sagen Sie Alcide, dass ich ihm für das Angebot danke. Und vielen Dank noch einmal, dass Sie mir Bescheid gesagt haben.«

Er nickte, und dann war er auch schon fast bei dem Pick-up, in dem Annabelle saß, den Kopf auf Alcides Schulter gelegt.

Ich hob winkend die Hand, als Alcide den Motor anließ, und schloss die Haustür fest hinter mir, als sie abfuhren.

Ich musste jetzt erst mal über so einiges nachdenken.