Kapitel 9
Alcide stieg in ein Paar Stiefel, die er im Pick-up hatte, und legte Krawatte und Mantel ab. Jannalynn zog klugerweise ihre hohen Sandaletten und Annabelle ihre moderateren Pumps aus. Ich gab ihnen beiden Sneakers von mir und Jannalynn auch ein altes T-Shirt, das sie davor schützen würde, im Wald mit ihrem glänzenden silbernen Kleid an allen Büschen und Zweigen hängen zu bleiben. Sie streifte es über den Kopf und sagte sogar »Danke«, auch wenn es nicht sonderlich dankbar klang. Ich holte zwei Schaufeln aus dem Schuppen. Alcide nahm eine, Eric die andere. Jason trug statt einer Taschenlampe eine dieser hell leuchtenden großen Laternen, die sie beim Straßenbau benutzten und die er deshalb immer im Pick-up hatte.
Die Laterne war vor allem für mich, denn Vampire können hervorragend sehen in der Dunkelheit und Werwölfe auch. Und da Jason ein Werpanther war, brauchte auch er eigentlich kein zusätzliches Licht. Ich war das blinde Huhn der Truppe.
»Wissen wir denn, wo wir suchen müssen?«, fragte Alcide.
»Heidi sagte, das Grab sei genau östlich vom Haus, auf einer Lichtung beim Fluss«, erzählte ich, und so stapften wir gen Osten. Ich rannte dauernd in irgendetwas hinein, und nach einer Weile gab Eric Jason seine Schaufel, bückte sich und nahm mich auf den Rücken. Jetzt musste ich nur noch den Kopf einziehen, damit mir nicht ständig Zweige ins Gesicht schlugen. Aber so kamen wir schneller voran.
»Ich wittere es«, sagte Jannalynn plötzlich. Sie war weit vor uns, so als wäre es ihre Aufgabe im Rudel, dem Leitwolf freie Bahn zu verschaffen. Hier draußen im Wald war sie eine andere Frau. Ich konnte zwar nicht besonders gut sehen, aber das sah ich. Flink, sicheren Schrittes und entschlussfreudig lief sie voraus, und nachdem sie noch ein Stück weiter vorgeprescht war, drehte sie sich nach uns um und rief: »Hier ist es!«
Als auch wir dort ankamen, stand sie auf einer kleinen Lichtung vor einem Erdhügel. Hier war vor Kurzem erst gegraben worden, allerdings hatte man versucht, die Anzeichen dafür zu kaschieren.
Eric ließ mich herunter, und ich stellte mich zu Jason, der mit der Laterne den Erdboden ableuchtete. »Es ist doch nicht...?«, murmelte ich, obwohl ich wusste, dass jeder mich verstehen konnte.
»Nein«, erwiderte Eric knapp. »Nicht hier.« Nicht Debbie Pelt. Sie lag woanders, in einem älteren Grab.
»Es gibt nur einen Weg, herauszufinden, wer es ist«, sagte Alcide. Jason und Alcide begannen zu graben, und da sie beide starke Männer waren, ging es relativ schnell. Alexej trat neben mich, und unwillkürlich schoss mir durch den Kopf, dass ein Grab im Wald schlimme Erinnerungen in ihm wecken musste. Ich legte ihm den Arm um die Schultern, als wäre er immer noch ein Mensch, auch wenn ich sah, dass Appius mir einen verächtlichen Blick zuwarf. Alexejs Augen waren auf die Grabenden geheftet, vor allem auf Jason. Mir war klar, dass dieser Junge das Grab mit seinen bloßen Händen genauso schnell freilegen könnte, wie die beiden schaufelten. Aber Alexej wirkte so zart, dass man sich ihn schwer als ebenso stark wie die anderen Vampire vorstellen konnte. Wie viele Menschen mochten genau diesen Fehler in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, fragte ich mich, und wie viele von ihnen waren durch Alexejs kleine Hände gestorben?
Die Erdklumpen flogen nur so um Jason und Alcide herum. Während sie schaufelten, strichen Annabelle und Jannalynn über die kleine Lichtung, wohl um alle Fährten aufzuspüren, die es aufzuspüren gab. Vielleicht war trotz des Regens vor zwei Nächten in den von Bäumen geschützten Bereichen noch etwas zu finden. Heidi hatte ja nicht nach einem Mörder gesucht, sondern nur versucht, herauszufinden, wer mein Land durchquert hatte. Die Einzigen, die nicht durch meinen Wald gestiefelt waren, dachte ich, waren ganz normale alte Menschen. Wenn die Werwölfe logen, könnte ein Werwolf der Mörder sein. Vielleicht war es auch einer von den Elfen gewesen, die ein grausames Volk waren, wie ich selbst hatte erleben müssen. Oder war Bill der Mörder? Heidi hatte den Vampir, den sie wahrnahm, schließlich für meinen Nachbarn gehalten.
Ich hatte die Leiche, solange sie unter der Erde lag, im Gegensatz zu allen anderen nicht gerochen, weil mein Geruchssinn mit dem ihren nicht im Geringsten mithalten konnte. Aber als die herausgeschaufelten Erdhaufen größer und die Grube tiefer wurden, konnte auch ich riechen, dass da etwas war.
Ach, du meine Güte, was für ein Gestank!
Ich hielt mir die Nase zu, was aber überhaupt nichts nützte. Wie hielten die anderen das bloß aus, fragte ich mich, mit ihrem so viel stärker ausgeprägten Geruchssinn. Vielleicht waren sie auch pragmatischer oder einfach besser daran gewöhnt.
Dann hielten die beiden Grabenden inne. »Da liegt etwas Eingewickeltes«, sagte Jason. Alcide beugte sich darüber und zerrte an irgendwas am Boden der Grube herum.
»Ich hab's aufbekommen«, rief Alcide nach einem Moment.
»Gib mir mal die Laterne, Sookie«, bat Jason, und ich reichte sie ihm. Er leuchtete in die Grube hinein. »Den kenn ich nicht«, meinte er.
»Aber ich«, sagte Alcide mit seltsamer Stimme. Annabelle und Jannalynn standen augenblicklich am Rande des Grabes. Ich musste mich zwingen, einen Schritt vorzutreten und in die Grube hineinzuschauen.
Ich erkannte ihn sofort. Die drei Werwölfe warfen die Köpfe in den Nacken und heulten auf.
»Es ist der stellvertretende Leitwolf des Reißzahn-Rudels«, erklärte ich den Vampiren. Ich musste würgen, und es dauerte eine Weile, ehe ich weitersprechen konnte. »Basim al Saud.« Die kurze Zeit unter der Erde hatte ihn schon verunstaltet, aber ich erkannte ihn noch. Die Korkenzieherlocken, um die ich ihn so beneidet hatte, der muskulöse Körper.
»Scheiße!«, schrie Jannalynn, als das Geheul vorüber war.
Und das fasste es ganz gut zusammen.
Als die Werwölfe sich wieder beruhigt hatten, gab es eine Menge zu besprechen.
»Ich bin ihm nur ein einziges Mal begegnet«, sagte ich. »Und da ging es ihm noch bestens. Danach ist er zu Alcide und Annabelle in den Pick-up gestiegen.«
»Er hat mir gesagt, was er auf Sookies Land gewittert hat, und ich habe ihm gesagt, er soll es ihr erzählen«, erklärte Alcide Eric. »Sie hatte ein Recht, es zu erfahren. Auf dem Weg zurück nach Shreveport haben wir über nichts Bestimmtes gesprochen, oder, Annabelle?«
»Nein«, bestätigte sie, und es war unverkennbar, dass sie weinte.
»Ich habe ihn an seinem Apartment abgesetzt. Und als ich ihn am nächsten Morgen anrief und fragte, ob er mich zu einem Treffen mit unserem Abgeordneten begleitet, hat er abgelehnt, weil er arbeiten musste. Er war Webdesigner und hatte eine Besprechung mit einem wichtigen Kunden. Es hat mir eigentlich nicht gepasst, dass er keine Zeit hatte, aber er musste natürlich seinen Lebensunterhalt verdienen.« Alcide zuckte die Achseln.
»Er musste an dem Tag nicht arbeiten«, sagte Annabelle.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.
»Ich war in seinem Apartment, als du anriefst«, fuhr sie fort, und ich konnte hören, welche Mühe sie hatte, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich war schon einige Stunden dort.«
Wow. Unerwartete Enthüllungen. Jason sprang aus der Grube heraus, und wir beide sahen uns erstaunt in die Augen. Das war ja wie in einer von Grans Seifenopern, die sie mit fast religiösem Eifer im Fernsehen angeschaut hatte.
Alcide knurrte. Das rituelle Geheul für den Toten hatte den Wolf in ihm zum Vorschein gebracht.
»Ich weiß«, erwiderte Annabelle. »Wir reden später darüber. Ich werde die Strafe, die ich verdiene, auf mich nehmen. Aber Basims Tod ist wichtiger als mein Betrug. Es ist meine Pflicht, dir zu erzählen, was passiert ist. Vor deinem Anruf hatte Basim bereits einen anderen bekommen, und er wollte nicht, dass ich mitkriege, worum es geht. Doch ich verstand genug, um zu begreifen, dass er mit jemandem sprach, der ihn bezahlte.«
Alcides Knurren wurden lauter. Jannalynn stand dicht neben ihrer Rudelschwester, und ich kann es nicht anders ausdrücken: Sie hatte es auf Annabelle abgesehen. Leicht vorgebeugt stand sie da, die Arme ausgebreitet, als würden ihre Hände sich jeden Moment in Klauen verwandeln.
Alexej hatte sich dicht an Jason gedrängt, und als die Anspannung immer weiter wuchs, legte Jason dem Jungen den Arm um die Schultern. Jason hatte dasselbe Problem wie ich, Illusion und Realität auseinanderzuhalten.
Annabelle wich zurück vor Alcides Knurren, sprach aber weiter. »Und dann hat Basim mich mit einer Ausrede aus dem Apartment komplimentiert und ist losgefahren. Ich versuchte ihm zu folgen, habe ihn aber verloren.«
»Du hattest einen Verdacht«, sagte Jannalynn, »hast aber den Leitwolf nicht informiert. Oder mich. Oder überhaupt irgendwen. Wir haben dich aufgenommen und dich zu einem Rudelmitglied gemacht, und du hast uns verraten.« Dann schlug sie Annabelle ganz plötzlich mit der Faust gegen den Kopf, wobei sie geradezu einen Luftsprung vollführte, um den Schlag zu platzieren. Annabelle ging zu Boden. Ich hielt den Atem an, und da war ich nicht die Einzige.
Aber ich war die Einzige, die bemerkte, dass Jason Mühe hatte, Alexej zurückzuhalten. Die gewalttätige Atmosphäre hatte irgendetwas in dem Jungen freigesetzt. Wenn er ein bisschen größer gewesen wäre, hätte Jason bereits auf dem Boden gelegen. Ich stieß Eric in die Seite und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Rangelei. Mit einem Satz war Eric bei Jason und half ihm, den Jungen zu bändigen, der strampelte und fauchte in ihren Armen.
Schweigen breitete sich aus auf der dunklen Lichtung, als alle zusahen, wie die beiden gegen Alexejs Tobsuchtsanfall ankämpften. Appius Livius wirkte tieftraurig, bahnte sich aber schließlich einen Weg in das Gewirr von Gliedmaßen und schlang seine Arme um sein Kind. »Schhhhhh«, machte er. »Sei still, mein Sohn.« Langsam beruhigte sich Alexej wieder.
Alcides Stimme ähnelte sehr einem Grollen, als er sagte: »Jannalynn, du bist meine neue Stellvertreterin. Annabeile, steh auf. Das ist eine Sache des Rudels, wir werden das auf einer Rudelversammlung klären.« Damit wandte er uns den Rücken zu und machte Anstalten davonzugehen.
Die Werwölfe wollten einfach aus dem Wald marschieren und wegfahren. »Entschuldigung!«, rief ich scharf. »Aber da ist immer noch das klitzekleine Problem, dass auf meinem Land eine Leiche liegt. Darüber kann man doch verdammt noch mal nicht einfach so hinweggehen.«
Die Werwölfe blieben stehen.
»Stimmt«, sagte Eric. Und dieses eine Wort war von großem Gewicht. »Sookie und ich werden an Ihrer Rudelversammlung teilnehmen müssen, Alcide.«
»Nur für Rudelmitglieder«, schnauzte Jannalynn. »Keine Einer, keine Untoten.« Sie war noch so schmächtig wie zuvor, aber durch ihre überraschende Beförderung schien sie härter und stärker geworden zu sein. Jannalynn war ein rücksichtsloses kleines Ding, daran bestand kein Zweifel. Sam war entweder enorm mutig, dachte ich, oder enorm töricht.
»Alcide?«, hakte Eric leise nach.
»Sookie kann mit Jason kommen, da er zweigestaltig ist«, knurrte Alcide. »Sie ist zwar ein Einer, aber eine Freundin des Rudels. Keine Vampire.«
Eric sah meinen Bruder an. »Jason, wirst du deine Schwester begleiten?«
»Klar«, erwiderte Jason.
Damit war es beschlossen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Annabelle sich schwankend wieder aufrichtete und zu orientieren versuchte. Jannalynn hatte ihr ziemlich eins verpasst.
»Was wollt ihr mit der Leiche machen?«, rief ich Alcide hinterher, der jetzt endgültig weiterging. »Sollen wir die wieder eingraben, oder was?«
Zögernd folgte Annabelle Jannalynn und Alcide. Na, das würde ja eine fröhliche Rückfahrt nach Shreveport werden. »Er wird heute Nacht noch abgeholt«, rief Jannalynn mir über die Schulter zu. »Es wird also einiges los sein in Ihrem Wald. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.« Als Annabelle sich noch einmal umdrehte, sah ich, dass sie aus einem Mundwinkel blutete. Ich spürte, wie die Aufmerksamkeit der Vampire stieg. Alexej trat sogar einen Schritt von Jason weg und wäre ihr gefolgt, wenn Appius Livius den Jungen nicht fest im Griff gehabt hätte.
»Wollen wir ihn wieder eingraben?«, fragte Jason.
»Wenn sie Leute schicken, die ihn holen, ist das vergebene Liebesmüh«, sagte ich. »Ich bin so froh, dass du mir Heidi geschickt hast, Eric. Sonst...« Ich dachte noch mal scharf nach. »Hört mal, wenn Basim auf meinem Land begraben wurde, dann doch wohl, damit er hier gefunden wird, oder? Es ist also völlig unklar, wann jemand den Tipp bekommt, doch hier mal nach ihm zu suchen.«
Der Einzige, der meiner Argumentation folgen konnte, war Jason, denn er sagte: »Okay, dann müssen wir ihn hier wegschaffen.«
Ich wedelte mit den Armen, es konnte mir gar nicht schnell genug gehen. »Los, los«, rief ich. »Wir müssen ihn nur irgendwo unterbringen. Warum nicht einfach auf dem Friedhof!«
»Nee, zu dicht dran«, meinte Jason.
»Wie wär's mit dem Teich hinter deinem Haus?«, fragte ich.
»Da doch nicht, verdammt! Die Fische! Dann kann ich ja nie wieder von den Fischen essen.«
»Aaargh«, stieß ich aus. Also wirklich!
»Ist sie eigentlich die ganze Zeit so, wenn du mit ihr zusammen bist?«, fragte Appius Livius Eric, der klug genug war, nicht zu antworten.
»Sookie«, begann er stattdessen. »Es ist zwar nicht gerade angenehm, aber ich könnte ihn huckepack nehmen und irgendwo mit ihm hinfliegen. Du müsstest mir nur sagen, wohin.«
Mir war, als würden all meine Gedanken durch einen Nebel rennen und immer nur in Sackgassen enden. Ich schlug mir mit der Hand an den Kopf, damit endlich eine Idee herauspurzelte. Es funktionierte. »Jetzt hab ich's, Eric. Bring ihn in den Wald auf der gegenüberliegenden Straßenseite von meiner Auffahrt. Dort ist noch der Rest einer alten Auffahrt vorhanden, aber kein Haus mehr. Und an der Abzweigung zur Auffahrt können die Werwölfe dann gleich erkennen, wo er liegt, wenn sie ihn holen kommen. Denn irgendwer wird ihn holen kommen, und zwar bald.«
Ohne weitere Diskussion sprang Eric in die Grube und wickelte Basim wieder in das Laken, oder was auch immer es war. Im Schein der Laterne sah ich die Abscheu in seinem Gesicht, doch er hievte die verwesende Leiche heraus und erhob sich mit ihr in die Lüfte. Im Nu war er aus unserem Blickfeld verschwunden.
»Verdammt!«, rief Jason beeindruckt. »Cool.«
»Schaufeln wir die Grube wieder zu«, sagte ich, und wir machten uns ans Werk. Appius Livius sah zu. Es kam ihm offenbar nicht mal in den Sinn, dass es mit seiner Hilfe viel schneller gehen würde. Dafür warf Alexej große Klumpen Erde hinein, was ihm richtig Spaß zu machen schien. Es war vermutlich das Normalste, was der Dreizehnjährige seit langer Zeit getan hatte.
Endlich war das Loch gefüllt. Doch es sah immer noch aus wie ein Grab. Der Zarewitsch begann, mit seinen schmalen Händen in der aufgehäuften Erde zu wühlen. Ich wollte schon protestieren, aber dann verstand ich seine Absicht. Er ebnete den Erdhügel ein, bis er nur noch aussah wie eine unregelmäßige Erhebung im Boden, die vom Regen oder auch einem eingestürzten Maulwurfhügel herrührte. Als er fertig war, strahlte er uns an, und Jason klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Jason nahm einen Ast zur Hand und fuhr damit über die Fläche, und dann warfen wir noch Blätter und Zweige darauf. Auch das machte Alexej viel Spaß.
Schließlich hörten wir auf. Mehr gab es nicht zu tun.
Verdreckt und verschreckt schulterte ich eine der beiden Schaufeln und bereitete mich innerlich auf den Weg aus dem Wald hinaus vor. Jason nahm die andere Schaufel in seine rechte Hand, und Alexej ergriff seine linke, als wäre er noch jünger, als er ohnehin aussah. Mein Bruder ließ ihn nicht los, auch wenn sein Gesicht ein Bild für die Götter war. Appius Livius machte sich wenigstens jetzt nützlich, indem er uns einen sicheren Weg durch die Bäume und das Unterholz bahnte.
Eric war schon im Haus, als wir ankamen. Er hatte seine Kleider in den Müll geworfen und stand unter der Dusche. Unter anderen Umständen hätte ich mich nur allzu gern zu ihm gesellt, aber es war einfach unmöglich, sich in dieser Situation irgendwie sexy zu fühlen. Ich fühlte mich schmutzig und scheußlich. Doch ich war immer noch die Gastgeberin, also wärmte ich noch einmal TrueBlood für die beiden Vampirgäste an und zeigte ihnen das große Badezimmer unten für den Fall, dass sie sich waschen wollten.
Jason kam in die Küche und sagte mir, dass er sich jetzt auf den Weg machen würde.
»Und sag mir Bescheid, wann diese Versammlung ist«, fügte er ein wenig gedämpft hinzu. »Du weißt ja, dass ich Calvin das alles berichten muss.«
»Ich weiß«, erwiderte ich, zu Tode genervt von Politik aller Art. Wusste Amerika eigentlich, worauf es sich einließ, wenn es die Registrierungspflicht für Wergeschöpfe einführte? Amerika wäre wirklich besser dran, wenn es diesen Mist nicht auch noch ertragen müsste. Die Politik der Menschen war schon anstrengend genug.
Jason verschwand durch die Hintertür, und einen Moment später hörte ich seinen Pick-up davonfahren. Appius Livius und Alexej hatten ihre Drinks fast geleert, als Eric stark nach meinen Aprikosenduschgel riechend und frisch angezogen (er hatte immer Kleidung zum Wechseln in meinem Haus) aus meinem Schlafzimmer kam. Da sein Schöpfer in der Nähe war, konnten Eric und ich kaum offen miteinander sprechen, falls er das überhaupt gewollt hätte. Er verhielt sich nämlich gar nicht mehr so wie mein Schatz, jetzt, da sein Vater im Haus war. Das konnte vielerlei Gründe haben. Mir gefiel allerdings kein einziger davon.
Kurz darauf fuhren die drei Vampire nach Shreveport. Appius Livius dankte mir auf so gleichmütige Art für meine Gastfreundschaft, dass ich nicht wusste, ob es nicht der reine Sarkasmus war. Eric war schweigsam wie ein Stein. Und Alexej, der wieder so ruhig und reizend war, als wäre er nie ausgerastet, schloss mich kühl in die Arme. Es fiel mir äußerst schwer, das alles gelassen hinzunehmen.
Drei Sekunden, nachdem sie aus der Tür waren, hing ich am Telefon.
»Fangtasia, hier werden all Ihre blutigsten Träume wahr«, ertönte eine gelangweilte Frauenstimme.
»Pam. Hör zu.«
»Der Hörer klebt quasi an meinem Ohr. Sprich.«
»Appius Livius Ocella ist aufgekreuzt.«
»Ach du heilige Zombiescheiße!«
Ich war nicht sicher, ob ich mich nicht verhört hatte. »Ja, er war hier bei mir. Er ist dein Großvater, oder? Ach egal, er hat einen neuen Protégé dabei, und sie sind jetzt auf dem Weg zu Eric, wo sie den Tag verbringen wollen.«
»Was will er?«
»Das hat er noch nicht gesagt.«
»Wie geht's Eric?«
»Er ist total angespannt. Und es ist jede Menge passiert, aber das wird er dir alles selbst erzählen.«
»Danke für die Warnung. Ich fahre gleich zu Eric. Du bist meine Lieblingsatmende.«
»Oh. Hm... großartig.«
Pam legte auf. Ich fragte mich, ob sie irgendwelche Vorbereitungen treffen wollte. Mussten jetzt alle Vampire und Menschen, die in dem Shreveporter Nachtclub arbeiteten, in einer Art Putzwahn Erics Haus auf Vordermann bringen? Ich hatte dort bislang nur Pam und Bobby Burnham gesehen, obwohl ich annahm, dass von Zeit zu Zeit auch mal einige der Mitarbeiter vorbeikamen. Oder wollte Pam ein paar willige Menschen hinfahren, so quasi als Betthupferl?
Ich war zu angespannt, um auch nur daran zu denken, ins Bett zu gehen. Was immer Erics Schöpfer hier auch wollte, es würde mir sicher nicht gefallen. Und dass Appius Livius' Anwesenheit schlecht für unsere Beziehung war, wusste ich bereits. Während ich unter der Dusche stand - und bevor ich die feuchten Handtücher aufsammelte, die Eric auf dem Boden liegen gelassen hatte -, dachte ich noch einmal gründlich nach.
Die Pläne von Vampiren können ziemlich verworren sein. Aber ich versuchte mir vorzustellen, welchen Sinn der überraschende Besuch des Römers haben könnte. Er war ja wohl kaum nach Amerika, nach Louisiana, nach Shreveport gekommen, um den neuesten Klatsch und Tratsch zu hören.
Vielleicht brauchte er ein Darlehen. Das wäre nicht allzu schlimm. Eric könnte sicher noch mehr Geld verdienen. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie Eric finanziell dastand, aber ich hatte einen kleinen Notgroschen auf der Bank, seit mir aus Sophie-Annes Nachlass das Geld ausgezahlt worden war, das sie mir geschuldet hatte. Und das, was Claudine auf ihrem Bankkonto gehabt hatte, würde noch dazukommen. Wenn Eric es brauchte, konnte er es haben.
Aber was, wenn es nicht um Geld ging? Vielleicht musste Appius Livius sich ja verkriechen, weil er anderswo in Schwierigkeiten geraten war. Vielleicht waren irgendwelche Bolschewiken-Vampire hinter Alexej her! Interessant. Dann könnte ich immerhin darauf hoffen, dass sie Appius Livius irgendwann schnappten ... solange es nicht in Erics Haus geschah.
Oder vielleicht war Erics Schöpfer von Felipe de Castro und Victor Madden umschmeichelt worden. Wollten sie Eric etwas abluchsen, das er nicht aufzugeben bereit war, und sollte Appius Livius dabei die Fäden ziehen?
Am wahrscheinlichsten erschien mir aber dieses Szenario: Appius Livius Ocella war mit seinem neuen Lustknaben einzig und allein hier vorbeigekommen, um Eric aufzumischen. Darauf hätte ich wetten können. Appius Livius war schwer einzuschätzen. In manchen Momenten schien er ganz in Ordnung zu sein, und es wirkte, als würde er Eric und auch Alexej wirklich mögen. Und was die Beziehung von Erics Schöpfer und Alexej anging: Der Junge wäre schließlich gestorben, wenn Appius Livius nicht eingeschritten wäre. Doch wäre es angesichts der Umstände - Alexej hatte die Ermordung seiner ganzen Familie samt Dienern und Freunden miterlebt - nicht vielleicht ein Segen gewesen, wenn er den Zarewitsch hätte sterben lassen?
Ich war sicher, das Appius Livius Sex mit Alexej hatte, konnte aber überhaupt nicht einschätzen, ob Alexej sich so passiv verhielt, weil er in einer aufgezwungenen sexuellen Beziehung steckte oder weil er dadurch, dass viele Male auf seine Familie geschossen und mit Bajonetten eingestochen wurde, dauerhaft traumatisiert war. Mich schauderte. Ich trocknete mich ab, putzte mir die Zähne und hoffte, dass ich trotz allem würde schlafen können.
Dann fiel mir ein, dass ich noch einen weiteren Anruf machen sollte. Sehr widerwillig rief ich Bobby Burnham an, Erics Mann für den Tag. Bobby und ich hatten uns noch nie gemocht. Bobby war seltsamerweise eifersüchtig auf mich, obwohl er sich von Eric sexuell überhaupt nicht angezogen fühlte. Bobbys Ansicht nach lenkte ich Erics Aufmerksamkeit und Energie zu sehr vom eigentlichen Zentrum ab, das Bobby selbst und die Geschäftsangelegenheiten waren, die er für Eric während dessen Tagesruhe erledigte. Und ich hatte was gegen Bobby, weil er mich nicht einfach nur insgeheim ablehnte, sondern aktiv versuchte, mir das Leben schwer zu machen, was noch mal eine ganz andere Dimension war. Aber wir hatten eben beide mit Eric zu tun.
»Bobby, hier spricht Sookie.«
»Mein Telefon hat Anruferkennung.«
Mr Mürrisch. »Bobby, ich glaube, Sie sollten wissen, dass Erics Schöpfer in der Stadt ist. Seien Sie vorsichtig, wenn Sie zu Eric gehen und sich Ihre Anweisungen abholen.« Bobby wurde normalerweise, kurz bevor Eric sich zur Tagesruhe begab, instruiert, außer wenn Eric bei mir zu Hause blieb.
Bobby ließ sich Zeit mit seiner Antwort - vermutlich weil er herauszufinden versuchte, ob ich ihm einen raffinierten Streich spielen wollte.
»Wird er mich beißen wollen?«, fragte er. »Der Schöpfer?«
»Ich weiß nicht, was er wollen wird, Bobby. Ich dachte nur, ich sollte Sie vorwarnen.«
»Eric wird nicht zulassen, dass er mich verletzt«, sagte Bobby zuversichtlich.
»Nur als generelle Info - wenn dieser Typ sagt: >Spring<, muss Eric fragen: >Wie hoch?<«
»Nie im Leben!«, entgegnete Bobby. Für Bobby war Eric das mächtigste Geschöpf unter dem Mond.
»Doch, im Vampirleben. Vampire müssen ihrem Schöpfer bedingungslos gehorchen. Das ist keine Lüge.«
Das musste eigentlich auch Bobby schon mal gehört haben. Ich wusste, dass es einige Webseiten und Internetforen für menschliche Vampirassistenten gab. Dort wurden sicher alle möglichen praktischen Tipps darüber ausgetauscht, wie man am besten mit seinem Arbeitgeber umging. Egal, aus welchem Grund auch immer, Bobby diskutierte nicht und warf mir auch nicht vor, dass ich ihn zu täuschen versuchte, was mal eine ganz nette Abwechslung war.
»Okay«, sagte er. »Ich stell mich drauf ein. Was... Was für ein Mensch ist Erics Schöpfer denn?«
»Von Mensch kann da überhaupt keine Rede mehr sein«, erwiderte ich. »Und er hat einen dreizehn Jahre alten Lustknaben, der zur russischen Zarenfamilie gehörte.«
Nach einem langen Schweigen sagte Bobby: »Danke. Es ist gut, dass ich darauf vorbereitet bin.«
Das war das Netteste, was er je zu mir gesagt hatte.
»Gern geschehen. Gute Nacht, Bobby.« Und mit diesen Worten legte ich auf. Es war uns tatsächlich gelungen, ein absolut höfliches Gespräch miteinander zu führen. Amerika, durch Vampire vereint!
Ich zog mir ein Nachthemd an und kroch ins Bett. Trotz aller Aufregung musste ich versuchen, etwas zu schlafen, doch es dauerte eine ganze Weile, bis es so weit war. Ich sah immer noch das Licht der Laterne auf der Waldlichtung tanzen, während die Erdhaufen zu beiden Seiten von Basims Grab höher und höher wurden. Und ich sah das Gesicht des toten Werwolfs vor mir. Doch irgendwann verschwammen die Konturen seines Gesichts und Dunkelheit umfing mich.
Am nächsten Morgen erwachte ich recht spät aus schwerem Schlaf. Doch als ich erst mal wach war, wusste ich sofort, dass in der Küche jemand kochte. Ich forschte mit meinem zusätzlichen Sinn nach und fand heraus, dass es Claude war, der Frühstücksspeck und Eier briet. Und in der Kanne war Kaffee, doch das merkte ich auch ganz ohne Telepathie. Ich konnte es riechen. Der Duft des Morgens.
Nach einem Abstecher ins Badezimmer wankte ich die Diele entlang in die Küche. Claude saß am Tisch und aß. Ich sah in die Kaffeekanne. Ein Glück, es war auch für mich noch genug drin.
»Da ist auch was zu essen.« Claude zeigte auf den Herd.
Mit einem Teller und einem Becher setzte ich mich zu ihm. Dieser Tag begann ja recht vielversprechend. Ich sah auf die Uhr. Es war Sonntag, und das Merlotte's machte erst nachmittags auf. In letzter Zeit versuchte Sam es wieder am Sonntag, mit eingeschränkten Öffnungszeiten, obwohl alle Angestellten gehofft hatten, es würde sich finanziell nicht lohnen. Während Claude und ich in schweigsamer Eintracht frühstückten, fiel mir auf, was für ein wunderbarer Friede mich erfüllte, weil Eric seine Tagesruhe hielt. Das heißt, ich spürte ihn nicht ständig mit mir herumlaufen. Und auch sein problematischer Schöpfer und sein neuer »Bruder« waren außen vor. Ich seufzte vor Erleichterung.
»Ich habe gestern Nacht Dermot gesehen«, sagte Claude.
Scheiße! Tja, so viel zum Frieden. »Wo?«, fragte ich.
»Er war im Club. Und hat mich sehnsüchtig angestarrt«, erwiderte Claude.
»Dermot ist schwul?«
»Nein, glaub ich nicht. Er hat nicht an meinen Schwanz gedacht. Er wollte in der Nähe eines anderen Elfen sein.«
»Ich hatte so gehofft, dass er weg ist. Niall hat Jason und mir erzählt, dass Dermot beim Mord an meinen Eltern geholfen hat. Wäre er bloß in die Elfenwelt verschwunden, als sie versiegelt wurde.«
»Er wäre sofort getötet worden.« Claude nahm einen Schluck Kaffee, ehe er fortfuhr. »Keiner in der Elfenwelt versteht Dermots Verhalten. Er hätte von Anfang an auf Nialls Seite stehen sollen, weil sie miteinander verwandt sind und weil er halb Mensch ist. Niall wollte doch den Umgang mit den Menschen. Aber Dermots Selbstverachtung - zumindest kann ich es mir nur so erklären - führte dazu, dass er sich auf die Seite jener Elfen schlug, die ihn verachtet haben, und die Seite hat verloren.« Was Claude glücklich zu machen schien. »Dermot hat sich ins eigene Fleisch geschnitten. Hach, ich liebe diese Redewendung. Manche Formulierungen der Menschen sind wirklich sehr gelungen.«
»Glaubst du, er will meinem Bruder und mir immer noch etwas antun?«
»Ich glaube, das wollte er nie«, sagte Claude nach kurzem Nachdenken. »Ich glaube, Dermot ist verrückt, auch wenn er viele Jahrzehnte lang ein angenehmer Typ war. Ich weiß nicht, ob's seine menschliche Hälfte ist, die durchgedreht ist, oder seine Elfenhälfte, die von zu vielen Giften aus der Welt der Menschen durchtränkt ist. Ich kann mir nicht mal seine Beteiligung am Mord deiner Eltern erklären. Der Dermot, den ich kannte, hätte so was nie getan.«
Sollte ich Claude darauf hinweisen, dass richtig Verrückte anderen etwas antun können, ohne es zu wollen oder auch nur zu bemerken, dass sie es tun? Nein, ich ließ es bleiben. Dermot war mein Großonkel, und alle, die ihn kannten, sagten, er gleiche meinem Bruder fast bis aufs Haar. Ich war auch neugierig auf ihn, zugegeben. Und ich wunderte mich über das, was Niall mir über Dermot erzählt hatte, nämlich dass er es sei, der die Autotür meiner Eltern geöffnet hatte, sodass Neave und Lochlan sie herausziehen und ertränken konnten. Meine eigenen Beobachtungen passten nicht zu dieser grauenhaften Handlung. Würde Dermot mich als Verwandte betrachten? Waren Jason und ich Elfen genug, um ihn anzuziehen? Ich hatte Bills Versicherung, dass er sich aufgrund meines Elfenbluts in meiner Nähe gleich besser fühle, angezweifelt.
»Claude, spürtst du eigentlich, dass ich nicht zu hundert Prozent ein Mensch bin? Wo wäre ich denn angesiedelt auf so einer Elfenskala?«
»Aus einer Menschenmenge könnte ich dich mit verbundenen Augen herauspicken und als Verwandte erkennen«, erwiderte Claude, ohne zu zögern. »Aber inmitten des Elfenvolkes wärst du ein Mensch für mich. Es ist ein schwer fassbarer Geruch. Die meisten Vampire würden denken: >Sie riecht gut<, und sich freuen, wenn sie in deiner Nähe waren. Das ist dann die Auswirkung. Wenn sie erst mal wissen, dass du Elfenblut hast, führen sie diese Freude darauf zurück.«
Bill tat meine winzige Spur Elfenblut also tatsächlich gut, zumindest jetzt, da er meinen Geruch einzuordnen wusste. Ich stand auf, spülte meinen Teller ab und goss mir noch einen Becher Kaffee ein. Im Vorbeigehen griff ich auch nach Claudes leerem Teller, ohne das er sich dafür bedankte.
»Schön, dass du Frühstück gemacht hast«, sagte ich. »Wir haben noch gar nicht besprochen, wie wir das mit den Einkäufen und anderen Haushaltsdingen regeln wollen.«
Claude wirkte überrascht. »Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht.«
Na, immerhin war er ehrlich. »Ich erzähle dir mal, wie Amelia und ich es gehandhabt haben«, sagte ich und umriss in ein paar Sätzen die Grundregeln. Etwas verblüfft willigte Claude ein.
Ich öffnete den Kühlschrank. »Diese beiden Fächer da sind deine, und der Rest gehört mir.«
»Verstehe«, erwiderte er.
Irgendwie zweifelte ich daran. Claude klang, als würde er nur so tun, als ob er einwilligte und verstand. Es war gut möglich, dass wir dieses Gespräch schon bald erneut führen mussten. Als er die Treppe hinaufging, kümmerte ich mich um den Abwasch - er hatte schließlich gekocht -, und nachdem ich mich angezogen hatte, wollte ich eigentlich eine Weile lesen. Doch ich war zu rastlos, um mich auf ein Buch konzentrieren zu können.
Ich hörte Autos auf meiner Auffahrt durch den Wald kommen und sah aus dem Fenster. Zwei Polizeiwagen.
Im Grunde hatte ich schon darauf gewartet. Aber mein Herz rutschte mir trotzdem in die Hose. Manchmal hasse ich es, recht zu haben. Wer immer Basim umgebracht hatte, hatte seine Leiche auf meinem Land verscharrt, um mich in die Sache zu verwickeln. »Claude«, rief ich die Treppe hinauf. »Zieh dich an, wenn du's noch nicht getan hast. Die Polizei ist hier.«
Neugierig wie immer kam Claude die Treppe heruntergeeilt. Er trug Jeans und T-Shirt, wie ich. Gemeinsam gingen wir auf die vordere Veranda hinaus. Bud Dearborn, der Sheriff (der normale Sheriff der Menschen), saß im ersten Wagen, Andy Bellefleur und Alcee Beck im zweiten. Der Sheriff und gleich zwei Detectives - ich musste eine gefährliche Kriminelle sein.
Bud stieg langsam aus seinem Wagen aus, so wie er die meisten Dinge heutzutage tat. Aus seinen Gedanken wusste ich, dass Bud an voranschreitender Arthritis litt, und wegen seiner Prostata machte er sich auch Sorgen. Buds fleischiges Gesicht ließ seine körperlichen Schmerzen nicht erkennen, als er auf die Veranda zukam. Sein schwerer Gürtel ächzte unter dem Gewicht all der daran hängenden Dinge.
»Was gibt's denn, Bud?«, fragte ich. »Nicht, dass ich mich freuen würde, euch zu sehen.«
»Wir haben einen anonymen Anruf bekommen, Sookie«, sagte Bud. »Wie Sie wissen, kämen wir Gesetzeshüter nicht weit ohne anonyme Tipps. Aber ich persönlich habe keinen Respekt vor Menschen, die nicht sagen, wer sie sind.«
Ich nickte.
»Wer ist denn dein Freund?«, fragte Andy, der zusammen mit Alcee Beck dem Sheriff gefolgt war. Er sah mitgenommen aus. Ich hatte gehört, dass seine Großmutter, die ihn aufgezogen hatte, auf dem Sterbebett lag. Armer Andy. Er wäre vermutlich sehr viel lieber bei ihr als hier gewesen. Alcee Beck, der andere Detective, konnte mich nicht leiden. Hatte es noch nie gekonnt, und für seine Ablehnung hatte er eine gute Begründung gefunden - seine Frau war mal von einem Werwolf angegriffen worden, der hinter mir her war. Ich hatte den Kerl zwar umgebracht, aber Alcee hatte trotzdem was gegen mich. War er vielleicht einer der wenigen Menschen, die der Geruch meines Elfenbluts abstieß? Nein, ich war ihm vermutlich einfach bloß egal. Es hatte keinen Sinn, ihn auf meine Seite ziehen zu wollen. Ich nickte ihm kurz zu, worauf er jedoch nicht reagierte.
»Das ist mein Cousin Claude Crane aus Monroe«, sagte ich.
»Und über wen seid ihr verwandt?«, fragte Andy. Alle drei von ihnen kannten das Gewirr von Blutsverwandtschaften, das quasi den ganzen Landkreis miteinander verband.
»Es ist etwas peinlich«, schaltete sich Claude ein. (Nichts wäre Claude je peinlich, aber er tat erfolgreich so.) »Ich stamme aus einer unehelichen Verbindung.«
Ausnahmsweise konnte ich Claude mal dankbar sein, diese Last hatte er mir abgenommen. Ich schlug die Augen nieder, als könnte ich es nicht ertragen, über so etwas Beschämendes zu sprechen. »Claude und ich lernen uns gerade erst kennen. Wir wissen noch nicht allzu lange, dass wir verwandt sind.«
Ich konnte sehen, wie diese Information in ihren Gedanken abgeheftet wurde. »Aber aus welchem Grund sind Sie alle denn hier?«, fragte ich. »Was hat der anonyme Anrufer gesagt?«
»Dass Sie im Wald eine Leiche vergraben haben.« Bud wandte den Blick ab, als wäre es ihm unangenehm, etwas so Unerhörtes auszusprechen. Aber ich wusste es besser. Nach langen Jahren im Polizeidienst wusste Bud sehr genau, wozu Menschen fähig waren, sogar die völlig normal wirkenden. Und auch junge Blondinen mit großem Busen. Die vielleicht sogar erst recht.
»Sie haben aber gar keine Spürhunde dabei«, fiel Claude auf. Ich hatte gehofft, dass er den Mund kein zweites Mal aufmachen würde, sah jetzt aber, dass mir dieser Wunsch nicht erfüllt worden war.
»Ich denke, eine einfache Durchsuchung wird reichen«, meinte Bud. »Uns wurde eine ziemlich genaue Stelle genannt.« (Und es war teuer, Spürhunde zu mieten, dachte er.)
»Ach du meine Güte«, rief ich ehrlich überrascht. »Wie konnte diese Person behaupten, selbst nichts damit zu tun zu haben, wenn sie wusste, wo genau die Leiche liegt? Das verstehe ich nicht.« Ich hatte gehofft, Bud würde mir noch mehr erzählen, aber den Gefallen tat er mir nicht.
Andy zuckte die Achseln. »Wir sollten uns auf die Suche machen.«
»Viel Erfolg«, sagte ich absolut zuversichtlich. Wären sie mit Spürhunden aufgetaucht, hätte ich Blut und Wasser geschwitzt, dass sie Debbie Pelt oder die Grube, in der Basim gelegen hatte, finden würden. »Sie werden Verständnis haben, dass ich hier im Haus bleibe, während Sie durch den Wald stiefeln. Ich hoffe, Sie kriegen nicht zu viele Zecken ab.« Zecken lauerten im Unterholz und im Unkraut, nahmen den Geruch und die Körperwärme der Menschen wahr und ließen sich dann voll Zutrauen auf sie fallen. Ich sah, wie Andy seine Hose in die Stiefel stopfte, und Bud und Alcee sprühten sich mit irgendetwas ein.
Als die Männer im Wald verschwunden waren, sagte Claude: »Kannst du mir mal erzählen, warum du keine Angst hast?«
»Wir haben die Leiche gestern Nacht woanders hingeschafft«, antwortete ich, ging ins Haus zurück und setzte mich an den Tisch mit dem Computer, den ich aus Hadleys Apartment mitgebracht hatte. Sollte Claude das doch erst mal allein verdauen! Nach kurzer Zeit hörte ich ihn die Stufen wieder hinauflaufen.
Weil ich sowieso warten musste, bis die Männer aus dem Wald zurückkamen, konnte ich zwischendurch auch meine E-Mails abrufen. Eine Menge weitergeleitete Nachrichten, die meisten religiösen oder patriotischen Inhalts, von Hoyts Mutter Maxine Fortenberry. Ich löschte sie alle, ohne sie auch nur zu öffnen. Aber eine E-Mail von Halleigh, Andy Bellefleurs schwangerer Ehefrau, las ich. Ein seltsamer Zufall, dass ich ihre Nachricht gerade in dem Moment las, da ihr Ehemann auf einem vergeblichen Unterfangen hinter meinem Haus durch den Wald streifte.
Halleigh schrieb, dass sie sich großartig fühle. Einfach großartig! Aber Andys Großmutter Caroline werde zusehends schwächer, und Halleigh fürchtete, dass Miss Caroline die Geburt ihres Urenkels nicht mehr erleben werde.
Caroline Bellefleur war schon sehr alt. Andy und Portia waren beide in Miss Carolines Haus aufgewachsen, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Miss Caroline war bereits länger Witwe, als sie verheiratet gewesen war. Ich hatte keine Erinnerung an Mr Bellefleur und war ziemlich sicher, dass auch Andy und Portia ihn nicht allzu lange gekannt hatten. Andy war älter als Portia, und Portia war ein Jahr älter als ich, deshalb ging ich davon aus, dass Miss Caroline, die einst die beste Köchin im Landkreis Renard gewesen war und den besten Schokoladenkuchen der Welt gemacht hatte, mindestens neunzig war.
»Jedenfalls«, schrieb Halleigh weiter, »ist es für sie wichtiger als alles andere auf der Welt, die Familienbibel zu finden. Du weißt ja, dass sie immer irgendeine fixe Idee hat, und jetzt geht es darum, diese Bibel aufzutreiben, die schon seit Urzeiten keiner mehr gesehen hat. Und da hatte ich eine etwas verrückte Idee. Sie glaubt, dass die Familie Bellefleur vor längerer Zeit mal mit einem Zweig der Comptons verschwägert war. Würde es Dir viel ausmachen, Deinen Nachbarn Mr Compton zu bitten, doch mal in seinem Haus nach dieser alten Bibel zu suchen? Es scheint mir ein Hirngespinst zu sein, aber sie ist noch ganz die Alte, nur körperlich wird sie immer schwächer.«
Das war wirklich eine nette Art, auszudrücken, dass Miss Caroline andauernd von dieser Bibel sprach.
Jetzt war ich in einer Zwickmühle. Ich wusste, dass sich die Bibel drüben im Haus der Comptons befand. Und ich wusste, dass Miss Caroline, wenn sie hineinsah, herausfinden würde, dass sie eine direkte Nachfahrin von Bill Compton war. Wie sie damit zurechtkommen würde, konnte man nur vermuten. Sollte ich das Weltbild der alten Dame noch auf den Kopf stellen, wenn sie schon auf dem Sterbebett lag?
Andererseits, war nicht ... Ach, zur Hölle, ich hatte es satt, immer alles auszutarieren, und ich hatte einen ganzen Haufen eigene Sorgen. Also leitete ich in einem Anfall von Leichtsinn Halleighs E-Mail einfach an Bill weiter. Ich hatte erst spät begonnen, überhaupt E-Mails zu schreiben, und traute der Sache noch immer nicht so ganz. Na, immerhin hatte ich den Ball so in Bills Spielfeld geworfen. Und wenn er ihn zurückspielen wollte, okay.
Nachdem ich mich noch eine Zeit lang auf eBay herumgetrieben und mich gewundert hatte, was die Leute alles zu verkaufen versuchten, hörte ich Stimmen vor dem Haus. Ich blickte aus dem Fenster und sah, dass Bud, Alcee und Andy sich Staub und kleine Zweige aus den Kleidern klopften. Andy rieb sich den Nacken, er hatte wohl einen Insektenstich abbekommen.
Ich ging hinaus. »Und, haben Sie eine Leiche gefunden?«
»Nein«, sagte Alcee Beck. »Wir haben nur gesehen, dass dort draußen Leute gewesen sein müssen.«
»Nun, sicher. Aber keine Leiche?«, hakte ich nach.
»Wir werden Sie nicht länger belästigen«, beendete Bud kurzerhand das Gespräch.
Sie verschwanden in einer Wolke von Staub, während ich ihnen hinterherblickte - und zitterte. Ich fühlte mich, als wäre das Fallbeil einer Guillotine auf mich herabgesaust und hätte mir den Kopf nur deshalb nicht abgetrennt, weil das Seil zu kurz war.
Zurück am Computer schickte ich Alcide eine E-Mail, in der nur stand: »Die Polizei war hier.« Das musste reichen. Ich wusste, dass ich sowieso nichts von ihm hören würde, bis ich zur Rudelversammlung nach Shreveport kommen sollte.
Es erstaunte mich, dass es drei Tage dauerte, bis ich von Bill eine Rückmeldung bekam. Bemerkenswert an diesen Tagen war eigentlich nur, von wie vielen Leuten ich nichts hörte. Ich hatte nichts von Remy gehört, was nicht allzu ungewöhnlich war. Nicht ein Mitglied des Reißzahn-Rudels hatte mich angerufen, weshalb ich nur vermuten konnte, dass sie Basims Leiche aus dem anderen Waldstück geholt hatten und mir schon rechtzeitig mitteilen würden, wann die Rudelversammlung stattfand. Falls noch jemand in meinen Wald gekommen sein sollte, um nachzusehen, warum Basims Leiche verschwunden war, so bekam ich davon nichts mit. Und ich hörte auch nichts von Pam und Bobby Burnham, was ein wenig beunruhigend war, aber dennoch... keine große Sache.
Was mich wirklich wurmte, war, dass ich nichts von Eric hörte. Okay, sein (Schöpfer, Meister, Vater) Mentor Appius Livius Ocella war in der Stadt... aber Herrgott noch mal.
Zwischen meinen Grübelphasen las ich im Internet einiges über römische Namen und fand heraus, dass »Appius« sein ganz normaler Vorname war. »Livius« war sein Familienname, der vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde und besagte, dass er ein Mitglied der Familie oder des Clans der Livii war. Und »Ocella« war sein Cognomen, ein Beiname, der entweder darauf verwies, aus welchem Zweig der Livii genau er stammte, oder ihm ehrenhalber für Verdienste im Krieg verliehen wurde (ich wusste allerdings nicht, welcher Krieg das hätte sein sollen), oder - dritte Möglichkeit für den Fall, dass er adoptiert war - an seine Herkunftsfamilie erinnerte.
Namen gaben ganz schön viel preis im Römischen Reich.
Ich verschwendete eine Menge Zeit darauf, alles über Appius Livius Ocellas Namen herauszufinden, hatte aber immer noch keine Ahnung, was er plante oder was er Eric antun wollte. Dabei war das doch gerade wichtig. Ich muss gestehen, dass ich ziemlich gekränkt, grimmig und verdrossen war. Nicht gerade ein hübsches Sträußchen an Gefühlen, doch ich bekam nicht mal ein Upgrade auf Lustlosigkeit hin.
Cousin Claude machte sich auch rar. Ich kriegte ihn in den ganzen drei Tagen nur ein einziges Mal zu Gesicht, und zwar, als ich ihn durch die Küche und zur Hintertür hinausgehen hörte und noch rechtzeitig aus dem Bett sprang, um ihn in sein Auto steigen zu sehen.
Das erklärt, warum ich mich so freute, als Bill am dritten Tag nach der E-Mail von Halleigh abends an meiner Hintertür erschien. Bill sah nicht merklich besser aus als beim letzten Mal, aber er trug einen Anzug mit Krawatte, und sein Haar war sorgfältig gekämmt. Er hatte die Bibel unter dem Arm.
Ich verstand, warum er so schick gekleidet war und was er vorhatte. »Gut«, sagte ich.
»Komm mit«, bat er. »Es ist leichter, wenn du dabei bist.«
»Aber sie werden glauben ...« Doch dann hielt ich inne. Es war doch geradezu verabscheuungswürdig, zu fürchten, die Bellefleurs könnten in Bill und mir wieder ein Paar sehen, wenn Miss Caroline kurz davor stand, auf ihren Schöpfer zu treffen.
»Wäre das so schrecklich?«, fragte Bill mit schlichter Würde.
»Nein, natürlich nicht. Ich war stolz darauf, deine Freundin zu sein«, sagte ich und drehte mich um, um in mein Schlafzimmer zu gehen. »Komm doch bitte herein, ich muss mich kurz umziehen.« Ich hatte im Merlotte's die Lunch-Schicht gehabt und war danach zu Hause einfach nur in Shorts und T-Shirt herumgelaufen.
Weil ich es eilig hatte, entschied ich mich für einen schwarzen Rock, der knapp über dem Knie endete, und eine weiße Bluse mit kurzen angeschnittenen Ärmeln, die ich im Ausverkauf bei Stage erstanden hatte. Ich zog einen roten Ledergürtel durch die Rockschlaufen und holte ein Paar rote Sandalen ganz hinten aus dem Schrank. Einmal durchs Haar gefahren, und fertig.
Wir nahmen mein Auto, das langsam mal wieder überholt werden musste.
Es war keine lange Fahrt bis zur Villa der Bellefleurs; in Bon Temps gab es keine großen Entfernungen. Wir parkten auf der Auffahrt vor dem Haupteingang, auch wenn ich eine Menge Autos hinter dem Haus stehen sah, als wir zu den Bellefleurs abbogen. Andys Wagen und auch Portias hatte ich dort entdeckt. Und außerdem einen alten grauen Chevy Chevette, der unauffällig im Hintergrund parkte, sodass ich mich fragte, ob Miss Caroline eine 24-Stunden-Pflegerin hatte.
Wir stiegen die Stufen zu der großen Doppeltür hinauf. Bill fand es nicht angemessen (»schicklich« war das Wort, das er benutzte), zur Hintertür zu gehen, und unter diesen Umständen gab ich ihm recht. Bill ging langsam, es bereitete ihm sichtlich Mühe. Mehr als einmal wollte ich ihm anbieten, ihm die schwere Bibel abzunehmen. Doch ich wusste, dass er das nicht zulassen würde, und so sparte ich mir die Worte.
Halleigh kam an die Tür, Gott sei Dank. Es verblüffte sie, Bill zu sehen, doch sie hatte sich rasch wieder gefasst und begrüßte uns.
»Halleigh, Mr Compton bringt die Familienbibel, die Andys Großmutter sehen möchte«, sagte ich, nur für den Fall, dass Halleigh vorübergehend blind geworden war und den dicken Folianten noch nicht bemerkt haben sollte. Halleigh wirkte ziemlich erledigt. Ihr braunes Haar war verstrubbelt, und ihr grüngeblümtes Kleid sah in etwa so mitgenommen aus wie ihre müden Augen. Vermutlich war sie noch zu Miss Caroline herübergekommen, nachdem sie den ganzen Tag Grundschüler unterrichtet hatte. Halleigh war unübersehbar schwanger, was Bill, einem flüchtigen Ausdruck in seinem Gesicht nach zu urteilen, anscheinend nicht gewusst hatte.
»Oh.« Man sah Halleigh die Erleichterung nur zu deutlich an. »Mr Compton, bitte kommen Sie doch herein. Sie ahnen ja gar nicht, wie oft Miss Caroline danach gefragt hat.« Halleighs Reaktion ließ deutlich erkennen, wie oft.
Gemeinsam betraten wir die Eingangshalle. Die breite Treppenflucht vor uns und zu unserer Linken schwang sich elegant in den zweiten Stock hinauf. Viele Bräute aus Bon Temps hatten auf dieser Treppe ihre Hochzeitsfotos machen lassen. Ich war sie auch schon auf hohen Absätzen und in einem langen Kleid heruntergekommen, als ich auf Halleighs und Andys Hochzeit kurzfristig für eine krank gewordene Brautjungfer einspringen musste.
»Ich fände es sehr schön, wenn Bill Miss Caroline die Bibel selbst geben könnte«, sagte ich, damit das Schweigen nicht zu Verlegenheit führte. »Es gibt da eine familiäre Verbindung.«
Jetzt Schwächelten sogar Halleighs exzellente Manieren. »Oh ... wie interessant.« Ihre Haltung wurde ganz starr, und ich sah Bill die Rundung ihres Schwangerschaftsbauchs bewundern. Ein flüchtiges Lächeln umspielte seinen Mund. »Das wäre ganz wunderbar«, fuhr Halleigh fort, die sich gleich wieder gefangen hatte. »Gehen wir doch nach oben.«
Wir stiegen hinter ihr die Treppe hinauf, und ich musste mich zwingen, nicht nach Bills Ellbogen zu greifen, um ihn ein wenig zu stützen. Ich würde irgendetwas tun müssen, um Bill zu helfen. Sein Zustand besserte sich offensichtlich gar nicht. Ein Anflug von Furcht beschlich mein Herz.
Im ersten Stock gingen wir noch ein Stück den Korridor entlang bis zur Tür des großen Schlafzimmers, die diskret nur ein paar Zentimeter offen stand. Halleigh ging hinein.
»Sookie und Mr Compton haben die Familienbibel gefunden«, sagte sie. »Dürfen sie hereinkommen, Miss Caroline?«
»Ja, natürlich, herein mit ihnen«, erwiderte eine schwache Stimme, und Bill und ich traten ins Schlafzimmer.
Miss Caroline war die Königin des Zimmers, daran bestand kein Zweifel. Andy und Portia standen rechts vom Bett, und sie blickten besorgt drein, als sie Bill und mich sahen. Mir fiel auf, dass Portias Ehemann Glen nicht da war. Links vom Bett saß eine Afroamerikanerin mittleren Alters in einem Sessel. Sie trug die hellen, weiten Hosen und die bunte Tunika, die Krankenpflegerinnen heutzutage so gern anhatten. Das Muster wirkte, als arbeitete sie sonst auf einer Kinderstation. Aber in einem Zimmer, das ganz in gedeckten Creme- und Pfirsichtönen gehalten war, konnte so ein Farbtupfer nicht schaden. Die Pflegerin war dünn und groß und trug eine unglaubliche Perücke, die mich an den Film >Kleopatra< erinnerte. Sie nickte uns zu, als wir uns dem Bett näherten. Caroline Bellefleur lag wie die starke, schöne Dame, die sie immer gewesen war, auf Dutzende von Kissen gebettet in einem Himmelbett. Dunkle Schatten der Erschöpfung umspielten ihre alten Augen, und ihre Hände lagen zu faltigen Fäusten geballt auf der Bettdecke. Doch in ihren Augen blitzte ein Funke Interesse auf, als sie uns sah.
»Miss Stackhouse, Mr Compton, ich habe Sie beide seit der großen Hochzeit nicht mehr gesehen«, sagte sie mit deutlich erkennbarer Mühe und dünner Stimme.
»Das war ein wunderbares Fest, Mrs Bellefleur«, erwiderte Bill mit fast ebenso großer Mühe. Ich nickte nur. Dieses Gespräch musste nicht ich führen.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz«, bat Miss Caroline. Bill zog sich einen Stuhl ans Bett. Ich setzte mich ein wenig dahinter.
»Mir scheint, die Bibel ist so groß, dass ich selbst sie nicht mehr halten kann«, sagte die alte Dame mit einem Lächeln. »Es ist so freundlich von Ihnen, sie mir zu bringen. Ich habe lange darauf gehofft, sie zu finden. War sie auf Ihrem Dachboden? Ich weiß, dass uns nicht viel mit den Comptons verbindet, aber dieses alte Buch wollte ich unbedingt einmal sehen. Halleigh war so nett, ein paar Nachforschungen für mich anzustellen.«
»Um genau zu sein, lag dieses Buch auf meinem Wohnzimmertisch«, entgegnete Bill sanft. »Mrs Bellefleur - Caroline - mein zweites Kind war eine Tochter, Sarah Isabelle.«
»Ach du meine Güte«, sagte Miss Caroline, um zu zeigen, dass sie zuhörte. Sie schien nicht zu wissen, worauf das alles hinauslaufen würde, aber sie schenkte Bill ihre Aufmerksamkeit.
»Als ich nach Bon Temps zurückkehrte, las ich auf der Familienseite dieser Bibel, dass meine Tochter Sarah vier Kinder bekommen hatte, auch wenn eines tot geboren wurde.«
»Das kam damals oft vor«, warf die alte Dame ein.
Ich sah zu den Bellefleur-Enkeln hinüber. Portia und Andy freuten sich nicht, dass Bill hier war, ganz und gar nicht, aber auch sie hörten zu. Sie hatten noch nicht einen einzigen Blick für mich übrig gehabt, aber das war mir egal. Denn beide rätselten zwar, warum Bill hier sein mochte, doch all ihre Gedanken waren auf die Frau gerichtet, die sie aufgezogen hatte und die nun so sichtlich dahinschwand.
»Die Tochter meiner Sarah hieß Caroline«, erzählte Bill, »nach ihrer Großmutter... meiner Ehefrau.«
»So wie ich?« Miss Caroline klang erfreut, auch wenn ihre Stimme noch etwas schwächer wurde.
»Ja, so wie Sie. Und meine Enkelin Caroline heiratete einen Cousin, Matthew Phillips Holliday.«
»Wie, das sind doch meine Mutter und mein Vater.« Sie lächelte, was ihr faltiges Gesicht in noch viel mehr Falten legte. »Dann sind Sie also... Wirklich?« Und dann lachte Caroline Bellefleur zu meiner Überraschung einfach.
»Ihr Urgroßvater, ja.«
Portia gab ein Geräusch von sich, als würde sie an den Ausdünstungen einer Stinkbombe ersticken. Miss Caroline achtete gar nicht auf ihre Enkelin, und sie sah auch Andy nicht an - zum Glück, denn der war so knallrot wie der Kehllappen eines Truthahns angelaufen.
»Na, wenn das nicht lustig ist«, sagte sie. »Ich bin so knittrig wie ungebügeltes Leinen, und Sie sind so glatt wie ein frischer Pfirsich.« Es amüsierte sie tatsächlich. »Urgroßpapa!«
Und dann kam der alten Dame plötzlich ein Gedanke. »Waren Sie das, der uns zu genau dem richtigen Zeitpunkt jenen unverhofften Geldsegen beschert hat?«
»Das Geld hätte für keinen besseren Zweck verwendet werden können«, erwiderte Bill galant. »Das Haus sieht wunderschön aus. Wer wird nach Ihrem Tod darin wohnen?«
Portia schnappte nach Luft, und Andy wirkte ziemlich bestürzt. Ich warf der Pflegerin einen Blick zu. Sie nickte einmal knapp. Miss Carolines Zeit neigte sich rasch ihrem Ende entgegen, und die alte Dame war sich dessen vollkommen bewusst.
»Nun, ich glaube, Portia und Glen werden hier wohnen«, sagte Miss Caroline. Man merkte, dass sie schnell ermüdete. »Halleigh und Andy möchten ihr Baby in ihrem eigenen Haus aufziehen, und daraus mache ich ihnen keinen Vorwurf. Wollen Sie sagen, dass Sie Interesse an diesem Haus haben?«
»Oh nein, ich habe mein eigenes«, versicherte Bill ihr. »Ich war nur froh, meiner Familie die erforderlichen Mittel geben zu können, um dieses Haus zu renovieren.
Ich möchte, dass auch in Zukunft meine Nachfahren hier wohnen und noch viele glückliche Jahre hier verleben.«
»Ich danke Ihnen«, flüsterte Miss Caroline, deren Stimme kaum noch zu hören war.
»Sookie und ich müssen jetzt gehen«, sagte Bill. »Ruhen Sie sanft.«
»Das werde ich«, flüsterte sie und lächelte, obwohl ihre Augen sich schlossen.
Ich stand so leise wie möglich auf und verließ noch vor Bill das Zimmer. Portia und Andy würden sicher noch etwas zu Bill sagen wollen, dachte ich mir. Auf jeden Fall wollten sie ihre Großmutter nicht stören und folgten Bill hinaus auf den Korridor.
»Ich dachte, du bist jetzt mit einem anderen Vampir zusammen«, sagte Andy zu mir, nicht mehr ganz so scharfzüngig wie früher.
»Bin ich auch«, erwiderte ich. »Aber Bill und ich sind immer noch gute Freude.«
Portia hatte sich kurze Zeit mal für Bill interessiert, wenn auch nicht, weil sie ihn süß fand oder so. Aber das trug sicher zu ihrer Verlegenheit bei, als sie Bill jetzt die Hand reichte. Portia musste definitiv noch an ihrer Vampir-Etikette arbeiten. Bill wirkte ein wenig erstaunt, schüttelte ihr aber die Hand. »Portia«, sagte er. »Andy. Ich hoffe, das alles ist Ihnen nicht zu unangenehm.«
Ich war unglaublich stolz auf Bill. Es war deutlich zu erkennen, woher Caroline Bellefleur ihre Liebenswürdigkeit hatte.
»Wenn ich gewusst hätte, woher das Geld stammt«, sagte Andy, »hätte ich es nicht angenommen.« Offenbar war er direkt von der Arbeit hierhergekommen, denn er trug noch seine ganze Ausrüstung: seine Dienstmarke, am Gürtel baumelnde Handschellen, eine Pistole im Halfter. Das machte ihn zu einer ziemlich imposanten Erscheinung, aber mit Bill konnte er trotzdem nicht mithalten, so krank dieser auch war.
»Andy, ich weiß, dass Sie kein Fan der Fangzähne sind. Aber Sie sind ein Mitglied meiner Familie, und ich weiß, dass Sie dazu erzogen wurden, Ältere zu achten.«
Andy wirkte betroffen.
»Das Geld war dazu da, um Caroline glücklich zu machen, und diesen Zweck hat es, glaube ich, auch erfüllt«, fuhr Bill fort. »Ich habe sie noch besuchen und ihr von unserer Verwandtschaft erzählen können, und sie hat die Bibel bekommen. Jetzt werde ich Sie nicht länger mit meiner Gegenwart belästigen. Ich möchte Sie nur bitten, die Beerdigung bei Nacht abzuhalten, damit ich daran teilnehmen kann.«
»Wer hat denn je von einer Beerdigung bei Nacht gehört?«, warf Andy ein.
»Ja, das werden wir tun.« Portia klang zwar nicht gerade herzlich und einladend, aber absolut entschlossen. »Das Geld hat ihre letzten Lebensjahre zu einer sehr glücklichen Zeit gemacht. Es war ihr eine Freude, das Haus bestmöglich renovieren lassen zu können und uns die Hochzeit hier auszurichten. Und die Familienbibel ist noch das Tüpfelchen auf dem i. Vielen Dank.«
Bill nickte den beiden zu, und dann verließen wir ohne weiteres Aufheben die Villa Belle Rive.
Caroline Bellefleur, Bills Urenkelin, starb in den frühen Morgenstunden.
Bill saß auf der Beerdigung bei der Familie, die zum großen Erstaunen der Bewohner von Bon Temps in der folgenden Nacht stattfand.
Ich saß ganz hinten neben Sam.
Es war kein Anlass für großes Tränenvergießen, denn Caroline Bellefleur hatte zweifellos ein langes Leben gehabt - ein Leben nicht ohne Kummer, aber wenigstens voll glücklicher Augenblicke, die diesen wieder wettmachten. Sie hatte nur noch sehr wenige Altersgenossen, und die, die noch lebten, waren fast alle zu gebrechlich, um auf ihre Beerdigung zu kommen.
Die Trauerfeier verlief in gewohnten Bahnen, bis wir hinaus zu dem alten Friedhof fuhren, der - natürlich - keine Nachtbeleuchtung hatte. Zwar waren in der Friedhofsparzelle der Bellefleurs rund um das neue Grab Laternen aufgestellt worden, doch es war ein seltsamer Anblick. Der Priester hatte große Schwierigkeiten, seine Grabrede abzulesen, bis einer der Trauergäste seine eigene Taschenlampe direkt auf das Papier hielt.
All die hellen Lichter in der Dunkelheit erinnerten mich unangenehm an jene Nacht, in der wir Basim al Sauds Leiche ausgegraben hatten. Es war schwer, sich angemessen auf Miss Carolines Leben und Vermächtnis zu konzentrieren bei all den Spekulationen, die in meinen Gedanken herumschwirrten. Warum war bislang noch nichts geschehen? Mir war, als wartete ich nur darauf, dass die nächste Katastrophe über mich hereinbrach. Erst als Sam mich etwas erschreckt ansah, bemerkte ich, dass ich seinen Arm umklammert hielt. Ich musste mich geradezu zwingen, meine Finger zu lockern, und neigte den Kopf zum Gebet.
Die Familie, hörte ich, würde nach der Trauerfeier noch zu einem gemeinsamen Essen mit Büfett in die Villa Belle Rive fahren. Na, hoffentlich hatten sie auch daran gedacht, Bills Lieblingssorte TrueBlood zu besorgen, dachte ich. Bill sah furchtbar aus. Am Grab stützte er sich sogar auf einen Stock. Wenn er selbst schon nichts unternahm, musste eben ich versuchen, seine Vampirschwester irgendwie aufzutreiben. Solange die Chance bestand, dass das Blut dieser Vampirin ihm helfen könnte, war es alle Mühe wert.
Ich war mit Sam zum Friedhof gefahren, und da mein Haus ganz in der Nähe lag, sagte ich ihm, dass ich nach der Beerdigung zu Fuß nach Hause gehen würde. Ich hatte eine kleine Taschenlampe in der Handtasche, und ich erinnerte Sam daran, dass ich den Friedhof wie meine Westentasche kannte. Also blieb ich, als alle anderen Trauergäste, einschließlich Bill, zum Essen in der Villa Belle Rive aufbrachen, in den dunklen Schatten stehen, bis die Friedhofsangestellten begannen, das Grab zuzuschaufeln, und machte mich dann auf den Weg durch den Wald zu Bills Haus.
Den Schlüssel hatte ich immer noch.
Ja, ich weiß, schrecklich, immer musste ich mich überall einmischen. Und vielleicht tat ich wirklich das Falsche. Aber Bill siechte dahin, und ich konnte nicht einfach ruhig danebensitzen und zusehen.
Ich schloss die Eingangstür auf und ging in Bills Büro, das früher das vornehme Esszimmer der Comptons gewesen war. Bill hatte seinen Computer und alle sonstigen technischen Geräte auf einem großen Tisch aufgestellt und sich bei Office Depot einen Drehstuhl gekauft. Ein kleinerer Tisch diente ihm als Poststation, wo Bill die CDs mit seiner Vampir-Datenbank eintütete, um sie an die Käufer zu versenden. Er inserierte viel in Vampirzeitschriften - in >Fangzahn< natürlich, und auch in >Untote live<, die in mehreren Sprachen erschien. Bills neueste Marketingidee war es, Vampire anzuheuern, die viele verschiedene Sprachen beherrschten und all die Informationen übersetzen würden, sodass er auch vermehrt fremdsprachige Ausgaben seines alle Vampire weltweit umfassenden Registers anbieten konnte. Wie ich noch von früheren Besuchen wusste, stand bei der Poststation immer ein Karton mit einem Dutzend CDs seiner Datenbank. Ich sah zweimal hin, ob ich auch wirklich eine englische Ausgabe erwischt hatte. Denn was hätte es mir genützt, wenn ich eine russische mitnahm?
Was mich natürlich gleich an Alexej erinnerte, und Alexej wiederum erinnerte mich daran, wie besorgt/ wütend/ängstlich ich war wegen Erics Schweigen.
Ich spürte, wie sich mein Mund zu einem richtig unschönen Gesichtsausdruck verzog, als ich an dieses Schweigen dachte. Aber jetzt musste ich mich erst mal um mein eigenes kleines Problem kümmern. Und so eilte ich aus dem Haus, schloss die Tür wieder ab und konnte nur hoffen, dass Bill meinen in der Luft hängenden Geruch nicht bemerken würde.
Ich lief so schnell über den alten Friedhof, als wäre es heller Tag. Als ich wieder in meinem eigenen Haus war, sah ich mich nach einem guten Versteck um. Schließlich hatte ich den Wäscheschrank im großen Badezimmer als geeigneten Platz ausgeguckt und schob die CD unter einen Stapel frischer Handtücher. Nicht mal Claude würde fünf neue Handtücher brauchen, dachte ich, bevor ich am nächsten Morgen aufstand.
Ich hörte meinen Anrufbeantworter ab und sah auf das Display meines Handys, das ich nicht mit zur Beerdigung genommen hatte. Keine Anrufe, keine SMS. Während ich mich langsam auszog, versuchte ich, mir vorzustellen, was mit Eric wohl los war. Ich hatte beschlossen, ihn nicht anzurufen, ganz gleich, was geschah. Er wusste, wo ich war und wie er mich erreichen konnte. Ich hängte mein schwarzes Kleid zurück in den Schrank, stellte meine schwarzen Pumps auf die Schuhablage und schlüpfte in mein Nachthemd mit Tweety vorne drauf, eins meiner alten Lieblingshemden. Und dann ging ich zu Bett, stinksauer wie selten.
Und mit einer Heidenangst.