12 - Die Höhle des Löwen

 

 

Nach fast zwei Stunden staubiger Fahrt erschienen endlich die ersten Umrisse einer Kleinstadt am Horizont. Angel und Dog hielten aufgrund der fehlenden Seitenfenster seit einiger Zeit Augen und Mund geschlossen, um nicht am Sand zu ersticken. Cassidy hätte sie am liebsten dafür ausgelacht, denn dank ihrer Sonnenbrille mit integrierten Seitenschutzblenden genoss sie beinahe den Komfort einer Taucherbrille. Erst als Jiao die Geschwindigkeit drosselte, wagten sie einen Blick durch die Frontscheibe.

Im Gegensatz zum Wohnblockstil der südlichen Wastelands bestand Arnac größtenteils aus ein- und zweistöckigen Flachbauten mit eingezäunten Dachterrassen. Die einzigen Ausnahmen bildeten hohe Wassertürme und vereinzelte Gebäude im Stadtzentrum.  Aus der Ferne konnte man die Häuser kaum auseinanderhalten. Jahrzehnte voller Sandstürme hatten sie in ein Einheitsgrau geschliffen. Der Ort war klein genug, um von den Sicarii komplett kontrolliert zu werden, weswegen sie die Ruinen der untergegangenen Zivilisation nach ihren Vorstellungen neu aufbauten.

Vor der Stadtmauer aus Maschendrahtzäunen und Sandsäcken wartete eine Menschentraube auf Einlass, von denen Soldaten jeden einzelnen zu kontrollieren schienen. Die Gruppe wurde bei deren Anblick sichtlich nervös, was Jiao mit ihrem misstrauischen Stirnrunzeln zusätzlich verstärkte. Sie erklärte, dass die Provinz Cor Decat, in der sich Arnac befand, noch relativ jung war und seit der Eroberung offiziell das Kriegsrecht galt, das vom sicariianischen Legionskommandeur Thomas Reece durchgesetzt wurde. Es dauerte mitunter Jahre, bis die imperiale Legion verfeindete Gangs vollständig unterworfen und sie in die Zivilbevölkerung eingegliedert hatten. Dennoch waren derartige Einlasskontrollen ihrer Aussage nach nicht normal.

»Johnny sorgt wohl schon für mehr Chaos, als wir gebrauchen können«, grummelte Angel.

»Ich versuch mal rauszufinden, was da los ist«, entschied Jiao und ließ den Wagen stehen. »Ihr bleibt am besten hier.«

Mit flinken Schritten kämpfte sie sich durch die Menschenmenge und war kurz darauf verschwunden. Angel bat Cassidy, sich vorsichtshalber hinter das Steuer des Pick-ups zu setzen, falls sie überstürzt die Flucht antreten müssten. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis Jiao mit besorgtem Blick zurückkehrte.

»Die suchen nach geflohenen Gefangenen aus dem Lager, von dem uns die Händler erzählt haben«, berichtete sie. »Angeblich hat es seit dem häufiger Diebstähle und Sabotageversuche in Arnac gegeben.«

»Und was nun? Was ist mit unseren Waffen und der ganzen Ausrüstung?«, fragte Cassidy. »Damit werden die uns doch nie passieren lassen!«

Jiao überlegte einen Moment und schaute auf die tiefstehende Sonne am Horizont.

»Wir könnten bei Charles übernachten und morgen einen neuen Versuch starten«, schlug sie schulterzuckend vor.

»Sieht das vielleicht so aus, als würde sich die Situation bis morgen ändern?«, grollte Dog vom Rücksitz und blickte Angel herausfordernd an. »Es gibt sicher mehr als einen Weg in die Stadt!«

Inzwischen war die Ochsenkutsche vor ihnen an der Reihe. Vier Legionäre umstellten das Gespann und zwangen den beiden Insassen abzusteigen. Anschließend führten sie eine intensive Durchsuchung der Kisten und Säcke auf der Ladefläche nach blinden Passagieren durch, bei der das kleine Waffenarsenal auf Jiaos geliehenem Pick-up sofort aufgeflogen wäre. Besorgt blickte sie in den Rückspiegel; sie waren schon längst zugeparkt worden.

»Ich werde mich ihnen zu erkennen geben«, entschied sie nach einem tiefen Atemzug. »Vielleicht lässt sich der Kommandant ja mit ein paar Aspirin bestechen.«

Angel hatte sich die ganze Zeit aus der Diskussion herausgehalten und betrachtete stattdessen heimlich Jades Silberamulett. Sollte sie je in Bedrängnis geraten, könne es ihr wohlmöglich weiterhelfen. Mitten in feindlichem Gebiet, umzingelt von einer aufgebrachten Menschentraube und umstellt von sicariianischen Soldaten - das durfte sie wohl als Bedrängnis auslegen.

Ohne ihre Freunde vorzuwarnen, stieß sie die Tür auf, beorderte den Wächter herbei und zeigte ihm den Anhänger. Nach einem erschrockenen Schlucken rief er nach seinem Vorgesetzten, der beim Anblick des Silberamuletts ebenfalls kreidebleich anlief.

»Macht den Weg frei! Lasst sie durch!«, befahl er wild gestikulierend und trieb gleichzeitig das Ochsengespann von der Straße.

Jiao traute ihren Augen kaum. Angels simple Geste sorgte dafür, dass die Sicarii sie nicht einfach nur passieren ließen, sondern die Fahrzeuge und Menschen vor ihnen zur Seite drängten und dem geliehenen Pick-up geradezu den roten Teppich ausrollten. Nun bestanden die Soldaten förmlich darauf, dass sie in die Stadt hineinfuhren, damit sie die Sperre wieder aufbauen konnten.

Um ihr Glück nicht unnötig auf die Probe zu stellen, folgten sie der Hauptstraße quer durch die Provinzhauptstadt, in der sie mit dem zusammengeflickten Transporter völlig in der Menge untergingen. Jiao parkte gegenüber von einem der wenigen mehrstöckigen Häuser, dessen mausgraue Fassade von einer orangeweißen Markise gekühlt wurde.

»Was war denn das?«, fragte sie ungläubig und drehte sich zu Angel um. Sie reichte ihr das Silberamulett, ohne dabei die Augen von Jiaos erstauntem Gesicht zu nehmen.

»Ein Geschenk von Jade. Falls ich Probleme mit den Sicarii bekommen sollte, müsste ich es nur vorzeigen.«

»Ist dir eigentlich klar, was das ist?«

Angel schüttelte schulterzuckend den Kopf. Sie war selbst vom durchschlagenden Erfolg des unscheinbaren Anhängers überrascht.

»Das ist das Erkennungszeichen der Bacchae, mit dem sie Nachrichten versiegeln oder andere in ihrem Namen Befehle erteilen lässt. Die Eule ist das Symbol der griechischen Göttin Athene. Jades Symbol. Damit hast du quasi die Befehlsgewalt über die gesamte Stadt!«, erwiderte Jiao fassungslos.

»Dann kannst du uns vielleicht sagen, was die Inschrift bedeutet?«, sagte Angel.

Jiao setzte sich zurück auf den Fahrersitz und atmete einmal kräftig durch.

»Concordia - Convocatio - Dicio«, antwortete sie, ohne überhaupt einen Blick auf den Rand des Amuletts zu werfen. »Das ist Latein für Einigkeit - Berufung - Macht. Die Doktrin der Bacchae.« Jiao sah Angel argwöhnisch im Rückspiegel an und reichte ihr das Amulett. »Warum hat sie es gerade dir gegeben?«

»Warum hat sie mich nicht umgebracht? Warum hat sie mich zu euch geschickt? Warum hat sie Sharon beinahe erschießen lassen?«, antwortete Angel und riss dabei die Arme hoch. »Wenn ich sie finde, werde ich sie fragen. Verlass dich drauf!«

Jiao seufzte resigniert, da sich bereits eine Gruppe von Bettlern und Straßenhändlern um den Wagen gebildet hatte. Sie holte ihr kleines Geldsäckchen hervor, reichte es Angel und zeigte auf das mehrstöckige Gebäude mit der Markise.

»Da drin bekommt ihr etwas zu essen. Eine normale Mahlzeit kostet fünf Sicar pro Person, also lasst euch nicht über den Tisch ziehen. Es gibt auch Fleisch auf dem Marktplatz, aber das würde ich euch nicht empfehlen.«

»Und wo gehst du hin?«, fragte Cassidy erstaunt.

»Ich treffe mich mit unserem Kontakt in der Stadt. Es hat Gründe, warum ich allein kommen soll. Wenn er uns zusammen sieht, verschwindet er spurlos«, erklärte sie und nickte wiederholt auf das Gebäude zu. »Amüsiert euch, aber versucht um Himmels willen nicht noch mehr aufzufallen!«

Die drei wirkten zunächst etwas hilflos, nachdem Jiao davongefahren war. Sie standen nun inmitten ihrer Feinde, die völlig ahnungslos an ihnen vorbeiliefen, sich über alltägliche Dinge wie die Ernte oder die mit jedem Jahr schwieriger werdende Wasserversorgung unterhielten. Die schweren Waffen hatten sie im Pick-up zurückgelassen und mit ihrer verschmutzten Kleidung fielen sie niemandem auf.

Sprachlos beobachteten sie die Einwohner wie Touristen aus einem fernen Land. Viele der Menschen trugen Basecaps, Cowboyhüte oder Kopftücher gegen die Sonneneinstrahlung. Generell schien es keine Grenzen oder Modestile in der Garderobe zu geben. Angel scherzte, dass hier nicht einmal Kim auffallen würde, vorausgesetzt, dass sie sich vor dem Betreten der Stadt kurz im Sand gewälzt hätte. Nur die Legionäre konnte man leicht an ihren Militäruniformen erkennen, die ebenfalls von einem halben Dutzend verschiedener Armeen stammen mussten. Einige waren olivfarben, andere mit hellen Brauntönen der Wüste angepasst. Wie schon in Brackwood trugen alle Soldaten identische, scharlachrote Baretts mit silbernen Emblemen in Form des imperialen Adlers. Zwischen all den Menschen gab es jedoch keine Kinder. Die jüngsten Einwohner waren Babys, die von ihren Müttern auf dem Rücken getragen wurden, gefolgt von Teenagern in Cassidys Alter.

Lumpensammler standen an beinahe jeder Straßenecke und boten ihre Kleider an. Es war ein krisensicherer Beruf. Wenn sie ihre Beute nicht gerade verkauften, folgten sie der Armee, freischaffenden Söldnern oder einfach dem Leichengeruch in den Städten und zogen den Toten ihre Sachen aus. Erfahrene Sammler, die etwas auf sich hielten, wuschen sie vor dem Verkauf sogar. Eine ordnungsgemäße Reinigung war die Grundvoraussetzung für den Handel mit den Freien Enklaven gewesen.

Auf der Straße fuhr ein Eselgespann, dessen zweiköpfige Besatzung an jeder Ecke Müllcontainer auf dem Anhänger entleerte. Ein paar kräftige Männer wuchteten Kohlesäcke von einem Ochsenwagen und trugen sie in die umliegenden Häuser hinein. Von einigen Ständen duftete es verführerisch nach frisch gegrillten Fleischspießen, aufgehängtem Trockenfisch und Schüsseln voller Dörrobst.

Unter einem Sonnenschirm mit vier Standbeinen hatte eine Gruppe grimmig blinzelnder Händler ein beeindruckendes Waffenarsenal ausgebreitet. Die einfachen Bürger durften die Gewehre und Pistolen jedoch scheinbar nur begutachten und nicht kaufen. Im Vorbeigehen erfuhr Angel, dass sie aufgrund des Kriegsrechts lediglich Kopfgeldjäger und Söldner aus anderen Provinzen versorgten. Dog nahm die passende Munition für sein Maschinengewehr unter die Lupe, aber bevor er nach dem Preis fragen konnte, zerrte Angel ihn davon. Ihr Amulett hätte vermutlich als Genehmigung genügt, doch sie wollte ihr Glück nicht unnötig auf die Probe stellen.

Plötzlich rief ein Fleischhändler hinter Angel nach den Wachen, woraufhin sie reflexartig ihre Pistole zog und neben einem Fass voller Jagdflinten in Deckung ging. Dog war ebenso überzeugt, dass sie aufgeflogen seien, und bereitete sich darauf vor, die herbeieilenden Legionäre zu Boden zu schicken. Da hetzte auf einmal ein junger Mann mit einem Grillspieß im Mund an ihnen vorbei, den er offensichtlich von dem Markthändler gestohlen hatte. Angel konnte in Cassidys Augen sehen, wie sie der ausgemergelten Gestalt helfen wollte, und Dog würde ohnehin jede Chance begrüßen, sich mit den sicariianischen Soldaten anzulegen. Im letzten Moment zog sie die beiden unter den Sonnenschirm des Waffenstands und ließ die Legionäre passieren.

»Nicht auffallen!«, raunte sie.

Schon an der nächsten Straßenecke erwischten die Wachen den Dieb, der bereits während der Flucht die ersten Fleischstücke heruntergewürgt hatte. An eine Warenrückgabe war nun nicht mehr zu denken.

»Was meinst du? Zwei Wochen?«, fragte einer der Waffenhändler und hielt sich dabei den Bauch vor Lachen.

»Ach was! Wenigstens einen Monat!«

»Hast Recht. Als Sklave muss man sich schließlich um ihn kümmern. Er wird darum betteln!«, erwiderte der Erste höhnisch. »Verdammte Schmarotzer!«

Niemand schien Notiz von Angels gezückter Pistole genommen zu haben. Die Waffenhändler hatten beim ersten Anzeichen von Unruhe ihre eigenen Gewehre angelegt und hielten die kleine Gruppe nun offenbar für Söldner, die sich für ihre Ware interessierte.

»Was darf‘s denn sein, Freunde?«

Nun musste Angel so tun, als suchte sie nach einer neuen Waffe, wenn sie nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen wollte.

»Ich suche ein Scharfschützengewehr«, sagte sie trocken und war glücklich, nicht vor dem benachbarten Stand für bunte Kleider in Deckung gegangen zu sein. »Reichweite sechshundert, panzerbrechend und wenn‘s geht ohne zerkratzte Zieloptik.«

»Oh! Eine Frau, die weiß, was sie will!«, scherzte der Erste. »So etwas haben wir hier aber nicht. Viel zu gefährlich mit all den Unruhen in letzter Zeit.«

»Willst du nicht erstmal ihre Genehmigung checken?«, fragte der Zweite.

»Sehen die vielleicht aus wie das hiesige Gesindel?«, grunzte der Erste zurück, ehe er sich wieder an Angel wendete. »Geht nach Persephone zu meinem Bruder Donald. Der kann euch weiterhelfen!«

Angel nickte ihm mit einem professionellen Gesichtsausdruck zu und stampfte auf dem Bürgersteig davon, als wüsste sie genau, wovon der Händler geredet hatte. Erst als sie ein paar Blöcke entfernt waren, blieb sie stehen und wischte sich erleichtert den Schweiß von der Stirn.

»Nicht schlecht«, brummte Dog. »Sie hat schon die erste Waffenquelle für unseren Krieg entdeckt!«

»Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wo dieses Persephone liegt«, fügte Cassidy anerkennend hinzu.

»Sagt mal, habt ihr sie noch alle?«, fuhr Angel die beiden an. »Das hätte ebenso gut in die Hosen gehen können!« Sie zog Cassidy an ihrem Hemdkragen heran. »Wir helfen hier keinen Ladendieben, klar? Jeder von denen würde uns für ein halbes Brot an die Wachen verraten!« Nun wendete sie sich an Dog. »Und du tust gefälligst nicht so, als wolltest du dich mit jedem dahergelaufenen Legionär anlegen, verstanden?«

Mit einem zornigen Knurren ließ sie von den beiden ab. Cassidy blickte ihr eingeschüchtert nach, bis Dog ihr aufmunternd auf die Schulter klopfte.

»Nimm‘s nicht persönlich«, sagte er und folgte Angel mit einem verschmitzten Grinsen auf den Lippen. Anschließend führte sie ihr Weg in großem Bogen über den Marktplatz auf die andere Seite der Hauptstraße, von wo aus sie die Taverne hoffentlich unbemerkt erreichen würden. Angel bereute bereits, die Schänke nicht sofort betreten zu haben.

Einige der Hausfassaden waren von unschönen Graffitis entstellt worden. Die meisten zeugten von Langeweile oder simplem Frust über die entbehrungsreichen Lebensumstände, manche hingegen zeigten ganz klar eine tiefe Abneigung gegen die sicariianische Besatzung. Besonders Legionskommandeur Thomas Reece war wiederholt in erniedrigenden Posen verewigt worden. Wenn man den Zeichnungen Glauben schenken konnte, bevorzugte er Ziegen als Sexualpartner und sah einer ungesunden Zukunft mit einem Messer im Rücken entgegen. Offenbar hatten nicht alle Bewohner von Cor Decat das Imperium wie Charles willkommen geheißen.

Auf den Gehsteigen liefen ein paar Männer mit Bauchläden umher und verkauften alles von Fladenbrot über Heilsalben bis hin zu Rasierbesteck. Vieles davon erinnerte Angel an ihre Tage als Schatzsucherin im Auftrag der Ranger. Ähnlich wie die Lumpensammler schien es auch unter den Sicarii Spezialisten für die Beschaffung von alten Waschbrettern zu geben.

Ein Marktschreier verkündete zudem lautstark die neuesten Nachrichten. Um ihn herum hatte sich eine Menschentraube gebildet, die ständig Fragen nach der Gefängnisrevolte stellte, die von dem fetten Mann aber völlig ignoriert wurden. Er spulte sein Programm unbeeindruckt wie ein Tonband ab.

 

»Der Zug aus Alexandria wird morgen Nachmittag auf dem Bahnhof vor Arnac erwartet! Für die Rückfahrt sind noch immer Plätze frei! Es sind keine Sklaven oder Unfreie ohne Begleitung gestattet!«

 

»Der Zug bringt außerdem die Ärzte aus Alexandria zu ihrem regelmäßigen Besuch nach Arnac! Alle Behandlungsgesuche müssen bis heute Abend eingereicht werden!«

 

»Beim großen Wagenrennen in Isis ging das Team aus Cor Decat als Drittes ins Ziel! Damit hat sich unser Fahrer für das Finale in der Hauptstadt Sicariia qualifiziert!«

 

»Der Legionskommandeur lässt euch daran erinnern, dass die Ausgangssperre noch immer von Mitternacht bis Sonnenaufgang besteht! Wer in dieser Zeit auf den Straßen von Arnac gesichtet wird, hat mit einer mehrwöchigen Gefängnisstrafe zu rechnen!«

 

Die letzte Nachricht löste Hohn und Spott unter der Bevölkerung aus. Die Gefängnisse der Sicarii seien ohnehin dermaßen überfüllt, dass kaum jemand für ein minderes Vergehen wie das Verletzen der Ausgangssperre dorthin geschickt werden würde.

Angel, Cassidy und Dog hatten dem Marktschreier interessiert zugehört. In den Freien Enklaven waren Botschaften ähnlich verteilt worden, wenn auch weniger laut. Nachdem der Mann mit seinen Zetteln unter dem Arm verschwunden war und sich die Menschentraube aufgelöst hatte, übernahm Angel die Führung und betrat die zweistöckige Taverne Zum Schweinespieß. Der Name allein ließ ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Schon im Türrahmen rümpfte sie aufgrund des widerlichen Biergeruchs die Nase, kämpfte sich anschließend mit Hilfe ihres eingefahrenen Kampfstabs an einer Gruppe verschwitzter Männer vorbei und wäre beinahe mit der fetten Kellnerin zusammengestoßen. Ein betrunkener Gast versuchte im Vorbeigehen den Arm um sie zu legen, woraufhin Dog ihm mit einer Hand die Luft abdrückte und grollend zu verstehen gab, dass er damit gerade sein Leben gerettet hatte. Er wusste aus eigener Erfahrung, was Angel mit Kerlen anstellte, die sich an ihr vergreifen wollten.

Die Scharfschützin musste unterdessen auf ihr gesamtes Repertoire an Beobachtungskunst zurückgreifen, um einen freien Tisch in einer dunklen Ecke der Taverne zu erspähen. Die Schänke erfreute sich in den frühen Abendstunden außerordentlicher Beliebtheit bei den einfachen Bürgern, die ausgelassen mit Bierkrügen in den Händen zu den Klängen einer Gitarre sangen. Die Liedtexte erzählten hauptsächlich vom Leid der Menschen, bevor die Sicarii Recht und Ordnung zurückbrachten, und schienen bei fast jedem Refrain den Imperator Marcus Avianos zu preisen.

»Das sind also die brillanten Genies, die uns vom Erdboden gefegt haben«, murmelte Angel ungläubig, als sie im Sitzen die sturzbetrunken herumtorkelnden Gestalten betrachtete. »Kann mir das mal einer erklären?«

»Unsere Leute waren auch ständig sternhagelvoll«, erwiderte Dog und winkte bereits nach der Kellnerin, wie er es sich von den anderen Gästen abgeschaut hatte. »Du solltest am besten wissen, dass man nur ein paar fähige Anführer braucht, um erfolgreich zu sein!«

Das Kompliment erzielte die gewünschte Wirkung und ließ Angel etwas aufatmen.

»Was darf's sein?«, fragte die ungeduldige Bedienung, auf deren Namensschild Betty stand und die schon an unzähligen weiteren Tischen erwartet wurde. Weder Angel noch ihre Freunde hatten je in einer Taverne gegessen, in der man sein Gericht bestellte, anstatt es sich direkt vom Grill zu holen.

»Fleisch!«, entschied Dog für die gesamte Gruppe. »Hauptsache Fleisch! Und Bier!«

»Drei Mal Schwein vom Spieß und drei Krüge Bier. Kommt sofort«, erwiderte Betty, wenngleich in ihrer Stimme mitschwang, dass es sich genauso gut um Stunden handeln konnte.

»Du weißt doch genau, dass ich keinen Alkohol trinke!«, fauchte Angel.

»Wer sagt denn, dass ich für euch mitbestellt habe?«, antwortete Dog und zog hämisch die Mundwinkel hoch.

»Vergiss bloß nicht, warum wir hier sind!«

»Die Kleine hat gesagt, wir sollen nicht auffallen! Schau dich doch mal um. Wer von uns wird wohl eher Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Ich mit einem Bierkrug oder du als nüchterne Spionin?«

Widerwillig gab Angel zu, dass seine Argumentation einer gewissen Logik folgte. Cassidy hatte die beiden bis zu diesem Zeitpunkt lediglich still beobachtet, wendete sich nun aber grinsend ab. All ihre Vorsicht konnte sie jedoch nicht vor einem trotzigen Tritt ans Schienbein bewahren, bevor Angel aufgrund ihrer übertriebenen Behutsamkeit selber lachen musste.

Die Gäste, die sie kurz nach dem Betreten der Schänke noch argwöhnisch als Fremde begutachtet hatten, waren in der Tat zu ihren eigenen Gesprächen zurückgekehrt. Eine Gruppe von Pokerspielern blinzelte einander misstrauisch zu. Kleine Häufchen von Münzen wiesen darauf hin, dass es sich bei ihrem Spielchen nicht nur um das reine Vergnügen drehte. Die größte Anzahl lag dabei ausgerechnet vor einer Frau in brauner Ledermontur, die zudem eine schwarze Pistole an ihrem Gürtel trug. An der Wand hinter ihr lehnte zusätzlich eine Schrotflinte, so dass sie unmöglich zu den Bürgern von Arnac zählen konnte, denen ja keine Langwaffen erlaubt waren.

An einem anderen Tisch stritten sich zwei Kerle über den Preis für ein Ersatzteil eines Autos, das der potentielle Käufer mit Argusaugen untersuchte. Als er von der Qualität überzeugt war, schob er seinem Partner ein paar Münzen zu und rief anschließend nach je einem Krug Bier für ihn und sich selbst, um das abgeschlossene Geschäft zu begießen.

Ein halbwegs anständig gekleideter Mann schien vor dem Aufgang zur zweiten Etage mit einer halbnackten Frau zu verhandeln. Zunächst hörte sie ihm vergleichsweise aufmerksam zu, rollte wenig später mit den Augen und riss ihm am Ende sein komplettes Geldsäckchen mit einem gehauchten Kuss auf die Wange aus der Hand. Als sie im Anschluss daran vor seiner Nase die Treppe hinaufstieg und ihm dabei ihren Hintern vors Gesicht hielt, stolperte er dem obszönen Minirock willenlos nach.

Dann endlich kehrte die Bedienung mit den drei Krügen zurück, von denen keiner dem anderen glich. Einer war sogar größer als einen halben Liter, dafür aber nur zu zwei Dritteln gefüllt.

»Das macht sechs Sicar.«

Nun begann das große Suchen in dem kleinen Lederbeutel. Dog bemerkte schnippisch, dass Angel ja auch nicht vorher hätte wissen können, dass man nach einer Bestellung die Rechnung begleichen müsse; was ironischerweise den Tatsachen entsprach. Als Bettys Ungeduld unübersehbar und die Rufe der wartenden Gäste unüberhörbar wurden, drückte ihr Angel wahllos sechs Münzen in die Hand und hoffte, dass ein Sicar die kleinste Einheit war.

»Danke!«, sagte die verschwitzte Frau überrascht und machte sogar einen Knicks. »Euer Essen kommt sofort!«

»Was hast du der denn gegeben?«, fragte Dog verwirrt. Angel untersuchte die Kupferstücke genauer und stellte fest, dass sie mehr als das doppelte bezahlt hatte.

»Du konntest noch nie vernünftig handeln!«, witzelte der Hüne und verschluckte sich kurz darauf aufgrund eines schmerzhaften Tritts an sein Knie. Zwar hatten die Vultures kein Geld gekannt und nur äußerst selten Tauschgeschäfte mit anderen Gangs abgeschlossen, dafür verhandelten sie hin und wieder um zeitweilige Allianzen oder Gebietsansprüche. Angel war dabei nie mit besonderem Fingerspitzengefühl aufgefallen, sondern hatte häufig neue Kriege angezettelt, wenn sie alte beenden sollte.

»Willst du mir nicht langsam erzählen, was dich an der Schlucht so überrascht hat?«, fragte Dog, während er sein Bier herunterschüttete und auf das Essen wartete. Cassidy versuchte sich ebenfalls an dem bitteren Gebräu, schüttelte sich jedoch schon nach dem ersten Schluck und entschied, dass es auf ewig ihr letzter bleiben würde. Sie holte stattdessen ihre Feldflasche hervor, die Jiao mit süßer Cola gefüllt hatte.

Angel rutschte auf ihrem Sitz hin und her, blickte zu den anderen Tischen und wollte offenbar sichergehen, dass sie niemand belauschte.

»Das war Shawn Summers«, hauchte sie. »Scharfschütze bei Ranger-Team Vier.«

»Das war einer von euch?«, platzte es aus Dog heraus, so dass Angel ihm auf den Fuß stampfen musste, um ihn zur Ruhe zu bringen.

»Sshhh!«, zischte sie. »Team Vier gilt seit fast drei Monaten als vermisst. Seit die Sicarii Sienna zerstört haben. Frank und ich sind davon ausgegangen, dass Shawn zusammen mit seinem Team getötet wurde.«

»Wieso arbeitet der plötzlich für die?«, raunte Dog und rieb sich über den schmerzenden Fußrücken.

Angel zuckte mit den Schultern.

»Shawn war nie das, was Frank einen Patrioten nennen würde. Er hat für den Kampf gelebt und sich nicht um die Enklaven gekümmert«, überlegte sie und blickte Dog blinzelnd an. »Ihr zwei hättet euch gut verstanden.«

»Sollten die Ranger nicht auch als Botschafter für die Allianz dienen?«, fragte Cassidy, die sich an ihre kurze Ausbildung erinnerte. »Wieso hat General Monroe ihn behalten?«

»Weil er verdammt gut war!«, erklärte Angel. Nach einer Pause fügte sie mit unterschwelligem Stolz hinzu, »Schließlich hab ich ihn selbst ausgebildet.«

 »Und zum Dank geht der einfach auf dich los!?«, raunte Dog.

»Er hat doch gar nicht auf mich geschossen«, erwiderte sie kopfschüttelnd. »Sein Auftrag war Sharon. Nur einer von uns konnte sie auf so große Distanz bei Nacht wiedererkennen. Jade muss ihn irgendwie dazu gebracht haben.«

»Warum hast du uns das nicht schon an der Schlucht gesagt?«, fragte Cassidy.

»Weil sie dieser verwöhnten Göre mit ihren Hightech-Spielzeugen nicht über den Weg traut!«, antwortete ihr Dog und schnitt Angel damit das Wort ab.

»Jiao scheint Verbindungen zu allen Seiten zu haben«, pflichtete sie ihm widerwillig bei. »Zu ihrem Vater und dieser Ärztin Karen, die sich mit Yuen nicht versteht. Außerdem kennt sie Jade weitaus besser als jeder von uns, schweigt sich aber darüber aus, was zwischen ihnen vorgefallen ist. Dann hat sie auf einmal Quellen mitten im Sicariigebiet wie Charles, der ihr bereitwillig seinen Wagen überlässt, oder ihren Kontaktmann, den sie natürlich allein treffen muss.« Angel schüttelte ernst den Kopf. Sie verstand, wie sehr Cassidy die impulsive Rebellin mit ihrer Zauberwelt, in der das Wasser aus der Wand kam und in sprudelnden Zuckersirup verwandelt wurde, als Freundin gewinnen wollte. »Ehe wir nicht wissen, auf wessen Seite sie wirklich steht, sollten wir vorsichtig damit sein, was wir ihr erzählen.«

In diesem Moment mussten sie das Gespräch abbrechen, da Betty sich mit drei dampfenden Keramikschüsseln durch die hungrigen Gäste kämpfte, ohne auf deren Rufe zu reagieren. Stattdessen bewirtete sie Angel und ihre Kameraden mit geradezu liebevoller Hingabe. Niemand sonst bekam saubere Tischservietten oder blitzblank poliertes Silberbesteck. Sogar einen Korb mit frischen Brotscheiben stellte sie dazu und wünschte den großzügigen Besuchern freundlich lächelnd einen guten Appetit. Die Vorzugsbehandlung blieb freilich nicht unbemerkt. Bis auf die komatösen Alkoholiker drehten sich nun alle Köpfe zu den unbekannten Neuankömmlingen um.

»Nicht auffallen, hm?«, kommentierte Dog schadenfroh das Ergebnis von Angels völlig aus dem Ruder gelaufener Aufklärungsmission. Angel vergrub ihr Gesicht inzwischen hinter einem Bierkrug; natürlich ohne daraus zu trinken.

»Vielleicht wird sie uns ja nun ein paar Fragen beantworten?«, schlug Cassidy vor. Die Kellnerin bewirtete mittlerweile wieder die anderen Gäste, behielt ihre Vorzugskunden dabei aber ständig im Auge, falls die spendable Gruppe noch einen weiteren Wunsch haben sollte. Als Angel ihr zuwinkte, kam sie sofort herbeigeeilt.

»Wir würden gern etwas mehr über die Gegend erfahren«, begann sie, woraufhin die Frau misstrauisch das Gesicht verzog. »Wir überlegen, vielleicht hierherzuziehen.«

»Pah!«, antwortete Betty augenrollend. »Wer will schon freiwillig in diesem Dreckloch wohnen!«

Angel fürchtete bereits, dass sie ihren ungeschickten Bluff durchschauen und zu ihrer Arbeit zurückkehren würde, doch stattdessen setzte sie sich ungefragt an den Tisch und begann theatralisch über Arnac herzuziehen.

»Hier gibt's nicht als Bauern und Säufer! Seit der Krieg im Süden begonnen hat, haben wir nichts als Ärger! Erst besetzen die Legionäre unsere Stadt und verlangen unbezahlte Dienste, dann nehmen sie uns die Kinder weg und vor einem halben Jahr hauen sie plötzlich ab und schicken uns so viele Gefangene, dass die Arbeitslager überlaufen. Nun ist eins davon geplatzt, weshalb sich die Mistkerle wie eine Seuche ausbreiten und unsere Höfe überfallen, so dass wir fast verhungern. Und wo sind die glorreichen Legionen jetzt?«

Die fette Frau sah keineswegs aus, als nage sie am Hungertuch. Trotzdem täuschte Angel ein verständnisvolles Nicken vor.

»Was haben die Soldaten denn mit euren Kindern gemacht?«, wollte Cassidy mit einem leicht erschrockenen Unterton wissen. Sie erinnerte sich an die Geschichten über die Snakes, die Kinder entführten, um sie als ihre eigenen großzuziehen, nachdem sie alle Erwachsenen ermordet hatten. Betty kniff die Augen zusammen und schien zu überlegen, ob sich das junge Ding über sie lustig machte oder ihr eine Fangfrage stellte.

»Mein Sohn Nico ist natürlich da, wo alle unsere Kinder sind. In Alexandria!«, sagte sie mit Bedacht. »Der Lümmel sollte mir hier eigentlich zur Hand gehen! Stattdessen drückt er in dieser großen, sicariianischen Musterstadt die Schulbank und wird von vorne bis hinten verhätschelt!«

In diesem Moment reichten ihr die verärgerten Rufe der anderen Gäste. Sie drehte sich um und brüllte in Richtung der Theke, dass der zweite Kellner seinen fetten Arsch bewegen solle, der seit einiger Zeit mit einer leicht bekleideten Frau flirtete, anstatt zu arbeiten.

»Wann kommt er denn zurück?«, fragte Cassidy.

Betty überlegte einen Augenblick und benutzte dabei ihre dicken Finger zum Rechnen.

»Einen Monat und siebzehn Tage. Dann darf ich ihm zum dritten Mal beibringen, was es bedeutet, für einen vollen Bauch schuften zu müssen!«

Cassidy wollte gerne mehr über den Verbleib der Kinder wissen, bevor sie jedoch nachfragen konnte, hielt Angel sie mit einem strengen Kopfschütteln zurück. Betty wirkte ohnehin schon misstrauisch genug.

»Was seid ihr eigentlich für Leute?«, fragte sie neugierig. Angel wusste, dass sie vor der wahrscheinlich größten Schwätzerin von ganz Arnac saß und dementsprechend vorsichtig sein musste.

»Wir ... sind Händler. Aus dem Westen«, antwortete sie gewohnt ungeschickt, was Dog zu einem resignierten Augenrollen verleitete.

»Pah!«, erwiderte Betty lachend. »Wenn ihr Händler seid, dann bin ich die Frau des Imperators!«

Sie blickte verstohlen in den Raum und beugte anschließend ihren Kopf über den Tisch, um im Flüsterton weiterzureden.

»Ich hab von eurer Ankunft gehört!«

Das genügte Angel, um ihren Kampfdolch unbemerkt aus dem Unterschenkelholster zu ziehen. Auch Dog verstand die plötzliche Wendung und machte sich bereit, als Rammbock für einen schnellen Abgang zu sorgen.

»Wir alle kennen die Gerüchte über den drohenden Aufstand und die Verräter, die dahinterstecken! Ihr seid doch bestimmt hier, um die zu jagen!«

Zum Glück hatte Angel tausende Male ihr Pokerface vor dem Spiegel geübt. Andernfalls wären ihr in diesem Augenblick wohl sämtliche Gesichtszüge entgleist.

»Du scheinst eine Menge zu wissen«, flüsterte Dog so konspirativ er nur konnte. Daraufhin erschrak die fette Kellnerin so sehr, dass Angel beinahe zugestochen hätte, um sie an einer lautstarken Flucht zu hindern.

»Ich bin eine loyale Bürgerin!«, protestierte Betty und holte zur Bestätigung einen hölzernen Anhänger mit dem Konterfei des Imperators zwischen ihren riesigen Brüsten hervor. Dabei musste sich Dog unglaublich zusammenreißen, um auf das Schmuckstück und nicht in den freigelegten Ausschnitt zu starren.

»Vielleicht weißt du dann ja, wo wir die wahren Verräter finden können«, sagte Angel und trat gleichzeitig ihrem Liebhaber ans Schienbein.

»Nadim, der Händler, hat viel mehr Geld, als sein kleiner Gewürzladen abwerfen kann«, antwortete die Kellnerin mit erhobenem Zeigefinger. »Ich habe gehört, dass bei ihm ständig Leute ein und ausgehen, ohne jemals etwas zu kaufen!«

»Wo finden wir diesen Nadim?«

»Tagsüber in seinem Haus, aber die Abende verbringt er häufig in der Arena«, erwiderte Betty und zeigte dabei auf eine Treppe, die zu einem Hinterausgang der Taverne auf Höhe des zweiten Stocks führte. »Ihr erkennt ihn an seiner schwarzen Haut und dem Turban, den er in der Öffentlichkeit nie ablegt!«

Angel hatte genug gehört und wollte aufbrechen. Sie steckte ihr Messer zurück und holte abgezählte dreißig Sicar hervor, die sie der Bedienung in die Hand drückte und dabei möglichst verschwörerisch zu wirken versuchte.

»Für deine Dienste«, hauchte sie ihr zu.

Kaum war Betty mit dem Geschirr verschwunden, bahnten sich die drei ihren Weg durch die völlig überfüllte Taverne und die Treppe hinauf. Vor der Tür standen zwei muskelbepackte Kerle mit verschränkten Armen, von denen einer wie selbstverständlich die Hand aufhielt.

»Fünf Sicar«, grunzte er. Angel griff abermals in den Lederbeutel und stellte dabei beunruhigt fest, dass sich ihre Geldreserven dem Ende zuneigten.

»Für jeden von euch!«, fügte der andere Türsteher hinzu, und da sie nicht noch mehr auffallen wollte, bezahlte Angel kurzerhand den Preis. Ihre Großzügigkeit schien sich schnell herumgesprochen zu haben, denn die beiden Muskelprotze grinsten einander freudig an, als sie den Fremden die Tür öffneten.

Ein schmaler Spalt genügte bereits, um das euphorische Geschrei dutzender Zuschauer und die schmatzenden Schläge der Kontrahenten zu hören. Die obere Etage des Anbaus diente als Besuchertribüne, während sich im ersten Stockwerk der kreisrunde Arenaring befand. Das Dach musste vor Jahren eingestürzt sein. Inzwischen war es Nacht geworden und eine Vielzahl Fackeln erfüllte die Umgebung mit einem warmen, flackernden Licht. Umgeben von einer drei Meter hohen Bretterpalisade kämpften gerade zwei verschwitzte Männer gegeneinander. Der eine glatzköpfig, groß und fett, der andere einen Kopf kleiner und schmächtiger, aber dafür deutlich flinker auf den Beinen. Das Publikum bestand gleichermaßen aus Männern und Frauen, die fast ausschließlich den dicken Brocken anzufeuern schienen.

Der Kleinere versuchte seinen Gegner zu ermüden, in dem er immer wieder schnelle Schläge in dessen Fettschichten jagte, die dabei über den ganzen Oberkörper schwabbelten. Als der Glatzkopf nur noch schwach dagegen ankämpfte, sah er seine Chance, setzte zum ersten echten Angriff an und trat ihm direkt in die Wampe. Auf diesen Moment hatte der Fettsack jedoch nur gewartet. Er ergriff das Bein und hämmerte mit voller Wucht darauf ein. Die plötzlich aufkommende Panik in dem schmächtigen Kämpfer machte jedem Betrachter klar, dass unter den Fettschichten des Dickwanstes brutale Kraft steckte. Er versuchte sich loszureißen, doch war gefangen wie eine Fliege im klebrigen Netz einer Spinne. Der Glatzkopf schleuderte ihn gegen die Bretterwand, schlug ihm zwei Mal direkt ins Gesicht und ließ ihn bewusstlos auf den feinsandigen Boden stürzen. Kaum hob er seine Hände zum Sieg, sprang das Publikum von der Tribüne auf und jubelte ihm begeistert zu, während der Ansager bereits nach einem neuen Herausforderer für den Champion verlangte.

Dog hatte den Kampf fasziniert mitverfolgt und erinnerte sich wehmütig an die Grubenkämpfe bei den Vultures. Cassidy verstand langsam, was Jiao mit Barbarei meinte, und wäre am liebsten sofort wieder gegangen. Nur Angel schien der ganze Trubel völlig unberührt zu lassen. Mit ihrem geschulten Blick suchte sie die Tribüne nach Turbanen ab, entdeckte aber stattdessen die junge Asiatin, die sich durch die Menge hindurch auf sie zu kämpfte.

»Wie war euer Fleisch?«, brüllte sie Angel an. Aufgrund der lauten Atmosphäre war keine andere Kommunikationsform möglich.

»Teuer!«, antwortete die Lateinamerikanerin und gab ihr den kleinen Lederbeutel zurück. Ungläubig zählte Jiao die bemitleidenswerte Anzahl der Münzen nach.

»Ihr habt fast sechzig Sicar für ein Essen in dem Saustall ausgegeben?«

Angel nickte ihr verlegen zu.

»Wir haben Informationen erhalten. Irgendwas von einem bevorstehenden Aufstand und Verrätern unter den Sicarii!«

»Dasselbe hat mir unser Mann auch erzählt«, erwiderte Jiao nickend. »Er will sich mit euch treffen.«

»Wo ist Dog?«, fragte Cassidy, als die anderen beiden gehen wollten.

»Wir haben einen neuen Herausforderer!«, schmetterte der Ansager dem begeisterten Publikum zu.

Angel schwante bereits Schlimmes, bevor sich die Tür zur Arena überhaupt öffnete. Frustriert rieb sie sich mit Daumen und Zeigefinger in den Augenhöhlen, als ihr Liebhaber mit erhobenen Händen wie ein Superstar in den Ring trat.

»Welchen Teil von nicht auffallen habt ihr eigentlich nicht verstanden?«, brüllte Jiao, woraufhin Angel nur beschämt mit den Schultern zucken konnte. Ändern ließ sich die Situation ohnehin nicht mehr. Aber sie nahm sich vor, ihn bei lebendigem Leibe zu häuten, sollte er den Kampf verlieren.

Der Fettsack hatte sich inzwischen erholt und musterte seinen neuen Gegner mit einer Mischung aus Übermut und Verachtung, ohne sich dabei vom Fleck zu rühren. Dog hingegen ließ seine Muskeln spielen, tigerte ein paar Runden um den Glatzkopf herum und hoffte, dass er aus Dummheit zuerst angreifen würde. Als das nicht geschah, versuchte es der Hüne mit Tritten aus der Entfernung. Anstatt den Fehler seines Vorgängers zu wiederholen, beließ er es jedoch bei niedrigen Stößen, die nicht über die Knie hinausgingen. Dadurch blieb es dem verschwitzten Fleischberg verwehrt, ihn zu packen und nach Belieben umherzuschleudern. Stattdessen musste er dem Fremden immer häufiger ausweichen, verlor dabei schließlich die Geduld und stürmte wie eine schnaufende Dampframme auf Dog zu. Hämisch lachend trat der Ex-Vulture einen Schritt zur Seite, wodurch der Fettsack scheppernd in die Bretterpalisade krachte.

Unter dem begeisterten Lachen der Zuschauer ließ ihn der Hüne aufstehen und erneut zum Angriff übergehen. Diesmal versuchte es der Glatzkopf selbst mit tiefen Tritten, denen Dog aber problemlos ausweichen konnte. Als sich der Fettsack erschöpft auf seinen Knien abstützte, fragte sich Dog, ob er wieder simulierte oder ob er wirklich am Ende seiner Kräfte war. Mit gehörigem Abstand tänzelte er um ihn herum, bis er direkt hinter seinem Rücken stand und ihm den Gnadentritt versetzen wollte. In diesem Augenblick drehte sich der Glatzkopf um, ergriff Dogs rechtes Bein und rammte ihn schnaufend in die Bretterwand. Dort angekommen schlug er wie wahnsinnig auf den Rippenansatz des Hünen ein, der daraufhin aufheulte, allerdings gleichzeitig stinksauer wurde. Was nun folgte, war ein Duell der Schmerzgrenzen, denn Dog hämmerte mit seinem Ellenbogen im selben Takt auf das Rückgrat des Fettsacks, wie dessen Fäuste auf seine Hüften trafen.

Aber er wäre nicht über ein Jahrzehnt Erics rechte Hand geblieben, wenn er sich von körperlichen Schmerzen besiegen lassen würde. Nach einem kurzen Schlagabtausch, den das Publikum mit deutlichem Wehklagen und halb geschlossenen Augen verfolgte, stieß Dog seinem Gegner das Knie in den Magen und anschließend noch einmal mitten ins Gesicht. Der Fettsack ließ stöhnend von ihm ab und stürzte röchelnd in den blutverkrusteten Sand.

»Nicht schlecht«, kommentierte Jiao mit verschränkten Armen seinen Sieg. »Barbarisch und unzivilisiert, aber nicht schlecht.«

Kaum war Dog zu ihnen zurückgekehrt, schlug Angel ihm die Faust über das verschwitzte Gesicht, was zum Glück niemand mehr mitzubekommen schien, da bereits der nächste Kampf lief.

»Nicht auffallen!«, wiederholte sie die Anweisung.

»Du bist doch nur neidisch!«, erwiderte er leicht gekrümmt und mit einem prall gefüllten Geldbeutel in der Hand. »Wenn wir den Krieg gewonnen haben, könnte ich mich hier glatt zur Ruhe setzen!«

Nun reichte es Jiao. Räuspernd erinnerte sie die beiden daran, warum sie eigentlich mitgekommen waren und führte sie eine zweite Treppe hinab zum Hinterausgang der Arena.

»Nadim wartet vor der Tür auf uns. Er sagt, er hat Informationen über den Verbleib eurer Leute«, erklärte Jiao nervös auf dem Weg. Das Treppenhaus war gefüllt mit halb betrunkenen Schaulustigen, von denen nur noch wenige geradestehen konnten.

»Nadim?«, wiederholte Angel und hielt sie am Arm fest. »Von dem hat uns die Kellnerin in der Taverne erzählt. Sie dachte, wir wären Sicarii, und wollte uns beim Aufspüren eines Verräters helfen.«

Jiao schien nicht überrascht, sondern senkte nachdenklich den Kopf und setzte ihren Weg in beschleunigtem Tempo fort. Kaum traten sie aus der schäbigen Holztür kam ihnen ein dunkelhäutiger Mann mit orangefarbenem Turban entgegen. Vom Hals abwärts war er in hellbraune Tücher gehüllt, die er mit der rechten Hand verschlossen hielt. Er wirkte unruhig und blickte immer wieder über seine Schultern.

»Na endlich«, beschwerte er sich und trat nah an Jiao heran. »Sind das deine Freunde?«

»Die wissen Bescheid!«, antwortete sie ihm, ohne auf seine Frage zu antworten. »Wir holen deine Informationen und bringen dich anschließend hier raus!«

Auch Nadim zeigte keinerlei erstaunte Reaktionen, zog sich nun aber seine Robe bis vor die Nase. Er nickte Jiao zu und führte sie an der Arena vorbei, über die große Hauptstraße und durch eine Vielzahl enger Gassen, die von brennenden Stahlfässern in ein schummrig flackerndes Licht getaucht wurden. Die Anti-Sicarii Graffitis nahmen in den Nebenstraßen zu und zeugten von der wahren Einstellung der eroberten Menschen gegenüber dem Imperium. Die Bewohner von Arnac standen zwischen ihren Häusern und tuschelten mit Blick auf die rasch an ihnen vorbeiziehenden Fremden.

Es kam Angel vor, als beobachtete sie die ganze Stadt. Ein paar Leute schienen sogar direkt auf Nadim zu zeigen, weshalb sie den vermeintlichen Gewürzhändler zur Eile antrieb. Die Informationen lägen in seinem Haus, berichtete er hinter vorgehaltener Hand. Unter seinem Bett im zweiten Stock. Angel spürte, wie sich jeder Muskel in ihrem leidgeprüften Körper zusammenzog. Sie fühlte sich gefangen in einem Tunnel, dessen Wände langsam aber unaufhörlich näherkamen.

Häufig stieß Nadim auf seinem hastigen Weg mit anderen Menschen auf den dicht besiedelten Straßen zusammen; und die meisten schien das nicht zu kümmern. Plötzlich warf jedoch irgendwer eine Decke über das brennende Fass zehn Meter vor ihnen, woraufhin es augenblicklich stockdunkel wurde. Angel zog mit der rechten Hand ihre Pistole und griff mit der linken nach Jiaos Schulter, um sie zum Umkehren zu bewegen. Da hörte sie Nadim gereizt stöhnen, wie er es bei jedem heftigeren Zusammenstoß getan hatte, doch kurz darauf sackte er zu Boden, obwohl rings um ihn herum niemand mehr zu sehen war. Nur aus den Augenwinkeln erkannte Angel einen Schatten, der schnellen Schrittes von einer Seitengasse verschlungen wurde. Eine oberflächliche Abtastung von Nadims Brust bestätigte ihren Verdacht. Blut trat aus einem Loch in seiner Robe aus.

»Holt euch die Informationen!«, befahl sie und zog anschließend Dog am Kragen zu sich herunter. »Du bringst die beiden hier lebendig raus, klar?«

Bevor Jiao oder er etwas entgegnen konnten, verschwand sie bereits in der Dunkelheit und hetzte dem vermeintlichen Angreifer nach.

 

***

 

»Angel? Angel!«, knisterte es aus ihrem Ohrstöpsel, doch sie durfte nicht antworten. Ihre Nackenhaare standen hoch wie die Nadeln auf dem Rücken eines Stachelschweins, wenn es angegriffen wird. Sie fühlte die Präsenz des Attentäters ganz in ihrer Nähe. Zu allen Seiten der Kreuzung loderten brennende Fässer, an denen sich der Mörder nicht ungesehen vorbeischleichen konnte. Er musste noch hier sein.

Angel verharrte regungslos in einem Türrahmen entlang der Gasse. Die Menschen hatten den Vorfall inzwischen bemerkt. Frauen kreischten, Männer riefen nach den Wachen. Die Bewohner im Umkreis der Tat waren in ihren Häusern verschwunden. Angel blieb mit dem Angreifer allein. All ihre Sinne warteten auf ein Signal. Den Geruch von Angstschweiß, den Windhauch eines heranzischenden Messers, das Geräusch einer entsichernden Pistole oder ein Schatten, der plötzlich lebendig wurde.

Auf einmal geschah es. Im Fensterrahmen im zweiten Stockwerk auf der gegenüberliegenden Straßenseite blitze das Mündungsfeuer einer schallgedämpften Pistole auf, dessen Geschoss das Holz der Tür neben Angels Kopf zersplitterte. Sofort erwiderte sie das Feuer. Ungezielt, aber der Attentäter zog sich fluchtartig zurück und sprang in die hell erleuchtete Gasse zu ihrer linken. Bei der Verfolgung fiel Angel Jades Amulett auf, das aus ihrer Uniform herausgerutscht war und nun an ihrem Hals hin und her baumelte. Durch dessen Reflexion musste der Schütze sie entdeckt haben.

Nach zwei weiteren Hausblöcken schien Angel ihr Ziel endlich in einer Sackgasse gestellt zu haben. Sie hielt ihre Pistole mit beiden Händen fest und zielte auf den nervösen Schatten, der aufgeregt hin und her zappelte und nach einem Ausweg suchte.

»Die Waffe runter!«, rief Angel keuchend. Aber anstatt ihrem Befehl folge zu leisten, wirbelte der Attentäter seinen Arm herum und drückte ab. Im letzten Moment sprang Angel hinter eine Hausecke, um dem Beschuss zu entgehen. Sie vernahm das vertraute Klicken eines ausgeworfenen Magazins und zögerte keine Sekunde, drehte sich um die Ecke und schoss. Zwei Mal, drei Mal, vier Mal. Ihre ungezielten Kugeln prallten in der Dunkelheit funkenschlagend von den Wänden ab, doch der Schatten verschwand auf einmal direkt zwischen zwei Häusern. Sofort setzte Angel nach und sah, dass die beiden Gebäude weniger als einen halben Meter voneinander entfernt standen und sich der unbekannte Schütze zwischen ihnen hindurchquetschte. Bevor sie abzudrücken vermochte, kam ihr der verhüllte Angreifer bereits zuvor. Die mausgrauen Wände blitzten bei den schallgedämpften Schüssen taghell auf und Angel musste sich erneut in Sicherheit bringen. Sie hielt ihre Waffe in den Spalt und drückte blind ab, doch ihre Pistole war leer. Das Ersatzmagazin hing griffbereit an ihrem Gürtel, aber ehe sie es benutzen konnte, vernahm sie das Klicken eines halben Dutzends Kalaschnikows um sie herum. Eine grelle Taschenlampe leuchtete ihr direkt ins Gesicht und eine grunzende Männerstimme forderte sie auf, die Waffe fallenzulassen.

Geblendet und desorientiert leistete sie dem Befehl folge. Der Anführer trat näher, hob die Pistole auf und musterte Angel genauer. Dabei fiel sein Blick auf das glänzende Amulett um ihren Hals und von einem Augenblick zum anderen änderte sich sein überheblicher Gesichtsausdruck zu dem eines hilflosen Knaben, der wusste, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte.

»V-verzeihung Herrin«, stammelte er hervor, reichte Angel die Pistole und sank zusammen mit seinen Männern auf die Knie.

»Wo führt dieser Spalt hin?«, brüllte sie ihn wütend an, was ihren unerwarteten Status als Bacchae des Imperiums glaubhaft widerspiegelte.

»Zur Stadtmauer, Herrin«, erwiderte der Soldat reflexartig. Dann erinnerte er sich an das vorherige Feuergefecht, bei dem er Angel unterbrochen hatte, und hob reumütig den Kopf. »Und zur alten Kanalisation!«

»Verdammt!«, fluchte sie und hätte dem Sicarii am liebsten mit der Pistole den Schädel eingeschlagen. Der Mann senkte sofort demütig sein Haupt und rechnete offenbar mit genau dieser Bestrafung. Für einen Moment fühlte sich Angel in ihre Vergangenheit bei den Vultures zurückversetzt. Auf einmal wurde ihr bewusst, wie sehr sie diese Art des Gehorsams und der Unterwürfigkeit bei den Rangern vermisst hatte. Sie musste weder Befehle erklären noch Handlungen rechtfertigen. Sie konnte den Sicarii vermutlich auf der Stelle exekutieren und keiner seiner Kameraden würde sich einmischen.

Ein euphorisches Kribbeln erfasste sie, als plötzlich eine gewaltige Explosion vom anderen Ende der Stadt die Nacht erschütterte. Die Soldaten im Hintergrund erwachten aus ihrer Trance und einige wagten sogar, sich aufzurichten und nach der Herkunft zu suchen.

»Was war das?«, fuhr Angel sie an und deutete auf die in den Himmel schießenden Flammen. »Was liegt da hinten?«

»Hauptsächlich Wohnhäuser. Das Händlerviertel«, erwiderte der Anführer gehorsam. Es überraschte ihn nicht im geringsten, dass die vermeintliche Bacchae keine genaue Ortskenntnis besaß. Er freute sich regelrecht, ihr zumindest in dieser Sache behilflich sein zu können. Vielleicht würde sie zum Dank sein Leben verschonen.

»Wir stehen euch zur Verfügung, Herrin!«, fügte er demütig hinzu. Anstatt auf sein Angebot einzugehen, trat Angel dem noch immer knienden Sicarii gegen die Schulter und schmetterte ihn damit rückwärts zu Boden.

»Ihr habt mir genug geholfen!«, giftete sie, riss seine Pistole an sich und stürmte an den anderen Soldaten vorbei. »Aus dem Weg!«

Kaum war Angel außer Hörweite der Patrouille rief sie nach Dog, doch sie erhielt nur statisches Rauschen als Antwort. Sie glaubte nicht an Zufälle, schon gar nicht, wenn es die Sicarii betraf. Mit einem schweren Stein im Magen hetzte sie die engen Gassen entlang, durch die sie zuvor den Attentäter verfolgt hatte. Die Explosion lockte die Einwohner zurück auf die Straßen, was unweigerlich in immer häufiger werdenden Rempeleien endete. Angel hoffte inständig, nicht noch weitere Wachen anzulocken, obwohl ihr die Reaktion der Soldaten mehr gefallen hatte, als sie zuzugeben bereit war.

Als sie einen Block vor dem zerstörten Gebäude eintraf, konnte sie das zerstörerische Ausmaß der Detonation erkennen. Das zweistöckige Haus bestand hauptsächlich aus Lehm und Holzbalken, die von der Sprengladung regelrecht pulverisiert worden waren. Angel vermochte weder Etagen noch einzelne Räume auszumachen. Lediglich das verbogene Metallbettgestell und ein paar intakte Schranktüren wiesen auf den geringen Komfort des Besitzers hin. Eine große Menschenmenge hatte sich vor den brennenden Holz- und Strohresten versammelt, die als Dämmmaterial genutzt wurden, und versuchte, das Feuer mit Decken und Schaufeln zu ersticken. Wasser war viel zu wertvoll, um es einfach auf die Flammen zu schütten; selbst bei der unmittelbaren Bedrohung der angrenzenden Lehmbauten, von denen einige arg in Mitleidenschaft gezogen worden waren.

Angel zog sich hinter eine Hausecke zurück und wollte gerade Funkkontakt mit den anderen herstellen, da kreischten die Menschen plötzlich auf, als um das Gebäude herum Schüsse fielen.

»Dog. Dog! Seid ihr das?«, rief Angel.

»Nadim ... tot!«, rauschte es extrem verzerrt aus ihrem Ohrstöpsel. Sie konnte nicht einmal erkennen, ob es sich um Cassidy oder Jiaos Stimme handelte. »... Hölle los ... raus!«

Angel spähte um die Ecke und sah, wie die Leute panisch in alle Himmelsrichtungen flüchteten. Im Flammenschein der brennenden Ruine erblickte sie eine einzelne, verhüllte Silhouette, die sich mit einer Pistole gegen Angreifer zur Wehr setzte, die von den Hausresten verborgen wurden. Es konnte nicht der Mörder von Nadim sein. Selbst mit einem Vorsprung dank der übereifrigen Sicariipatrouille war es unmöglich, dass er sich bis zum Haus des Gewürzhändlers durchgeschlagen und einen Sprengsatz gezündet hatte, ohne Angel dabei über den Weg gelaufen zu sein. Trotzdem war der flüchtende Schatten ihre beste Chance auf ein paar Antworten, zumal der Unbekannte seine Angreifer erfolgreich auszuschalten vermochte.

»Dog, wenn du mich hörst: Schaff die beiden hier raus! Sofort!«, befahl Angel beinahe flüsternd, überprüfte ihre zwei Pistolen und folgte dem Schützen in die Dunkelheit.

Anders als Nadims Mörder wusste ihr Ziel nichts von der Verfolgerin auf seinen Fersen. Er schien auch ganz andere Sorgen zu haben; lief vergleichsweise ziellos durch die engen Gassen und versuchte nahezu jede Tür zu öffnen. Im Licht eines größeren Lagerfeuers konnte Angel Blutspuren auf dem Boden erkennen und bei genauerer Betrachtung fiel ihr auf, wie die verhüllte Gestalt ihren linken Arm eng am Körper gepresst hielt. Er war verletzt und brauchte dringend einen Verband. Damit lieferte er Angel einen erstklassigen Verhörvorteil wie auf dem Silbertablett. Jetzt musste sie ihm nur noch in ein verlassenes Haus folgen, wo sie ungestört sein würden.

Die Schüsse in der Umgebung hatten nicht nachgelassen. Die halbe Stadt schien plötzlich aufeinander loszugehen. Von der Hauptstraße hörte Angel die aufheulenden Motorengeräusche bewaffneter Pick-ups, die eilig Schlüsselpositionen von Arnac besetzten. Lautsprecherdurchsagen forderten die Bewohner auf, sich in ihre Häuser zurückzuziehen. Die Ausgangssperre wurde aufgrund des Chaos vorgezogen. Mit jeder Minute verringerte sich die Chance, ungeschoren aus der Sicariistadt herauszukommen, doch Angel durfte nicht mit leeren Händen zurückkehren.

Als sich ihr Ziel eine kurze Verschnaufpause gönnte, betrachtete sie das silberne Amulett im Mondschein, dass ihr an nur einem Tag zwei Mal das Leben gerettet hatte. Sie verstand noch immer nicht, warum ihr von Jade eine derartige Macht über die Todfeinde der Ranger anvertraut worden war. Allmählich dämmerte ihr jedoch, dass die Pläne der Bacchae weit jenseits der Freien Enklaven liegen mussten.

Plötzlich vernahm Angel Geräusche von den Dächern der zweistöckigen Wohnhäuser. Auch dem verletzten Schützen waren die herabfallenden Steinchen nicht entgangen. Sein Kopf zuckte nach oben und beäugte misstrauisch die feine Staubwolke, die langsam hinter den Steinen zu Boden sank. Dann nahm er wieder die Beine in die Hand und rannte so schnell es sein geschwächter Zustand zuließ.

Kurz darauf bog er in eine etwas breitere Straße ab und Angel befürchtete bereits, dass sie sich dem Ende der engen Gassen näherten. Kaum steckte sie jedoch den Kopf um die Ecke, erblickte sie vier sicariianische Soldaten, die, noch bevor sie reagieren konnte, ihr Ziel mit einer Gewehrsalve niederstreckten. Instinktiv faltete sie die Arme über den Ohren zusammen, um dem Donnern zu entgehen, und rollte sich an der Wand zurück in den schmalen Weg, aus dem sie gekommen war. Dann erinnerte sie sich an ihre vermeintliche Tarnung als Bacchae und entschied, diesmal offensiv vorzugehen.

Mit erhobenem Haupt und den beiden Pistolen in den Händen marschierte sie auf den getöteten Schützen zu und ließ die Soldaten dabei keinen Moment aus den Augen. Ihr Plan schien zu funktionieren. Die Männer senkten ihre Gewehre und entspannten sich, traten auf sie zu und untersuchten gleichermaßen die Leiche auf dem Boden. Angel überlegte, ob sie die Sicarii nach der Identität des verhüllten Flüchtlings fragen sollte, vermutete dann aber, dass sie aller Voraussicht nach mehr wissen dürfte, als eine einfache Patrouille, und eine derart offenkundige Unkenntnis ihre Tarnung gefährden würde.

Die Soldaten musterten sie ohnehin bereits mit zunehmender Neugier und raunten einander unüberhörbar argwöhnische Verdächtigungen zu. Als Angels Nackenhaare wieder stachelschweinartig Alarm schlugen, befahl sie den Männern, die Umgebung zu sichern, um ungestört arbeiten zu können. Anstatt ihrer Anweisung im Handumdrehen folge zu leisten, kam der Anführer auf sie zu und verlangte, das Amulett zu sehen. Angel hielt ihm die Silberplakette grimmig ins Gesicht und überlegte, ob sich eine wahre Bacchae für sein gesundes Misstrauen erkenntlich zeigen oder ihn für seinen Ungehorsam bestrafen würde.

Entgegen aller Erwartung trat der verschwitzte Mann zurück, brüllte seinen Leuten laut »JADE!« zu und befahl Angel mit angelegtem Gewehr, die Waffen fallenzulassen und sich auf den Boden zu legen. Ihr Griff um die beiden Pistolen verkrampfte sich, als sie die Grenzen ihrer angeblich unbegrenzten Macht zu spüren bekam. In Zeitlupe ging sie in die Knie und suchte fieberhaft nach einem Ausweg, da hörte sie erneut das Geräusch von den Dächern fallender Kieselsteine.

Doch diesmal waren es keine Steinchen, die vom Himmel auf die Sicarii hinabstürzten. Angel traute ihren Augen kaum, als sie den Hirschledertrenchcoat und das im Mondlicht blitzende Katana ihrer Erzfeindin erkannte, das sich beinahe lautlos durch einen Soldaten nach dem anderen bohrte. Der Anführer wirbelte mit seinem Gewehr herum und nahm Jade unter Feuer, die sich hinter dem Körper ihres letzten Opfers verschanzte, aus dessen Brust noch immer das Schwert ragte. In selben Moment durchschlugen zwei Kugeln aus Angels Pistolen den Schädel des nur wenige Meter von ihr entfernt stehenden Sicarii, der daraufhin leblos zusammenbrach.

Jade riss die blutige Klinge aus der Leiche heraus und starrte Angel mit demselben manischen Blick an, den sie ihr während des Duells zugeworfen hatte, als sie wie ein hungriger Wolf um die Reste des Betonbunkers geschlichen war. Ihre smaragdgrünen Augen funkelten angriffslustig und Angel war davon überzeugt, dass sich die verrückte Bacchae jeden Augenblick auf sie stürzen würde. Fast schon aus Gewohnheit verstaute sie ihre Pistolen und holte den silbergrauen Kampfstab hervor. Plötzlich starrte Jade jedoch überrascht an ihr vorbei, stürmte auf sie zu und stieß sie in einen verschlossenen Torbogen hinein.

»Nicht bewegen!«, befahl sie eindringlich und drückte sich mit aller Kraft gegen Angel. Im selben Moment eröffneten zwei Gewehre das Feuer auf sie, deren Kugeln funkenschlagend von den Wänden abprallten. Angel vergrub gemeinsam mit Jade den Kopf zwischen ihren Schultern und hoffte, dass die weiche Bausubstanz tödliche Querschläger verhindern würde.

Dann hörte der Beschuss ebenso schnell auf, wie er begonnen hatte. Stattdessen vernahm Angel dumpfe Befehle und Schritte entlang der staubigen Straße. Die unbekannten Angreifer kamen auf sie zu. Jade verharrte noch immer beinahe erstarrt vor ihr, so dass Angel sich kaum bewegen konnte. Sie versuchte nach ihren Pistolen zu greifen, doch die Bacchae schüttelte mit strengem Blick den Kopf.

Als sie bereits den ersten Gewehrlauf um die Ecke ragen sah und ihr Vertrauen in Jade einen neuen Tiefpunkt erreichte, explodierte plötzlich eine Handgranate mitten auf der Straße. Die Wucht der Detonation schleuderte die Sicarii zusammen mit einer Unmenge an Staub und Geröll an ihrem Versteck vorbei. Erst jetzt ließ Jade von ihr ab und trat hustend mit einer Hand vor dem Mund aus dem Eingang heraus.

»Flanken sichern!«

Ihre Leibgarde aus Brackwood war an beiden Enden der Gasse in Stellung gegangen. Gelegentlich hetzten Einwohner oder Legionäre an ihnen vorbei, die der schwerbewaffneten Truppe zwar verunsicherte Blicke zuwarfen, aber unbehelligt passieren durften.

»Was verdammt nochmal geht hier vor?«, rief Angel ihr zu. Sie hielt ihren Kampfstab noch immer fest in den Händen.

»Bürgerkrieg. Rebellion. Verrat. Such dir was aus«, erwiderte Jade hektisch, während sie die Hinterlassenschaften der eben getöteten Soldaten durchsuchte. Als nach einer halben Minute eine zweite Explosion die Stadt erschütterte, gab sie erfolglos auf.

»Uns bleibt nicht viel Zeit«, sagte sie mürrisch.

»Zeit wofür verdammt?«

»Ich kann dich hier rausbringen, aber wir müssen sofort verschwinden.«

»Warum ich? Wozu dieser ganze Aufstand mit dem Amulett und Sharon?«

»Ich weiß, dass du eine Menge Fragen hast, aber dafür haben wir jetzt keine Zeit!«

Kurz darauf rauschte es aus Angels Ohrstöpsel. Irgendjemand aus ihrem Team versuchte, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Die Kampfgeräusche hatten sich nach Osten verlagert, wo Dog vermutlich gerade die Flucht vorbereitete. Angel wollte ihnen antworten, da stieß Jade sie zurück in den Torbogen.

»Wir können nicht länger warten! Ich brauche deine Hilfe um diesen Krieg zu führen! Nur deswegen habe ich euch am Leben gelassen und hierher geführt!«

»Welcher Krieg? Warum ich?«

»Angel! ... sitzen fest!«, zischte es aus dem Funkgerät.

»Wir müssen sie da rausholen!«

»Nein!«, fauchte Jade. »Ich brauche dich und nicht die!«

»Wofür verdammt nochmal?«

»Wenn ich scheitere, gehen alle deine Freunde drauf! Auch die in eurem Kloster!«

»Hast du Shawn so davon überzeugt, uns zu verraten!?«, giftete Angel.

Jade zog die Mundwinkel zu einem verächtlichen Grinsen nach oben.

»Nein«, säuselte sie. »Das war viel leichter!«

Angel riss sich aus Jades Umklammerung.

»Wirst du mir helfen?«, wiederholte Jade ihre Forderung.

»... Stadt ... aufeinander los ... bleibst du?«, rauschte es erneut aus dem Funkgerät.

»Ohne sie gehe ich nirgendwo hin!«, rief Angel entschieden.

Jade ließ mit geballten Fäusten und knirschenden Zähnen von ihr ab.

»Wenn ich deine Freunde hier raushole, wirst du dann tun, was ich von dir verlange?«

»Was verdammt nochmal erwartest du von mir?«

»Wirst du mir dann helfen?«, brüllte Jade sie an.

»Ja! Verdammt ja! Ich helfe dir, deinen verfluchten Krieg zu führen!«

Jade dachte einen kurzen Augenblick nach. Sie atmete schwer und starrte Angel mit einem Blick an, den die erfahrene Kriegerin am ehesten als unschlüssig bezeichnen würde. Sie deutete mit dem blutigen Schwert in Richtung Westen.

»Drei Blocks geradeaus, dann links. Dort findest du einen offenen Kanalisationsdeckel. Folge den Tunneln weiter nach Westen. Anschließend schlag dich nach Süden durch, bis du auf das Arbeitslager triffst, das dein Freund Johnny übernommen hat. Da treffen wir uns wieder!«

»Was hat Johnny damit zu tun?«, erwiderte Angel kopfschüttelnd.

»Los jetzt!«, schrie Jade sie förmlich an. Mit einem Pfiff versammelte sie ihre Männer und verschwand ebenso plötzlich in den staubigen Gassen, wie sie aufgetaucht war.