7 - Punkt ohne Wiederkehr
Um rührende Abschiedsszenen zu verhindern, hatte Angel ihr Team bereits vor den ersten Sonnenstrahlen antreten lassen. Dank einem röhrenden Probelauf von Coles Rennmaschine ging der Plan jedoch gehörig nach hinten los, denn kurz darauf hatte sich fast die gesamte Flüchtlingssiedlung um die Fahrzeuge versammelt.
Jesse stand zwischen seinen Freunden und musste Scott dabei fest am Halsband packen. Der schniefende Schäferhund verstand nicht, warum Cassidy ihn schon wieder zurückließ. Ein letztes Mal kraulte sie ihn hinter den Ohren und verabschiedete sich von dem Jungen.
Cole schüttelte jedem seiner Milizionäre die Hand, die ihm im Gegenzug viel Glück wünschten. Das war nicht nur für die gefährliche Reise ins Ungewisse gemeint, sondern ging auch in Richtung der neuen Frau an seiner Seite. Sharon ließ ihm seinen Stolz und wartete brav vor dem Motorrad. Außerdem hatte sie gerade erst ihr Frühstück erbrochen und nutzte den Moment der Ruhe, um wieder Farbe ins Gesicht zu bekommen.
Dog erhielt von Kalidas ein paar speziell für ihn zubereitete Ziegenkonserven. Die waren so scharf, dass der Inder sie mit roten Warnschildern versehen musste, damit niemand anderem die Luft daran wegbleiben würde. Samuel klopfte dem Hünen zum Abschied anerkennend auf die Schulter. Auch wenn er als verurteilter Mörder nie große Skrupel bei den Vultures gezeigt hatte, gefiel ihm sein unerwartet friedliches Rentnerdasein in den Bergen. Nachdem Caiden und Faith ebenfalls von den beiden verabschiedet worden waren, zogen sie sich in ihr Quartier zurück, um ihren unterbrochenen Tiefschlaf fortzusetzen, der für gewöhnlich nicht vor dem Mittagessen endete.
Kim saß bereits auf dem Beifahrersitz von Butchs orangefarbenem Pick-up und rieb an ihrem rechten Oberschenkel. Die Granatsplitterwunde war dank den hervorragenden Nähkünsten des getöteten Assistenzchirurgen Steven fast vollständig verheilt, juckte aber wie alle ihre Verletzungen am Anfang der Reise. Im Gegensatz zu Butch, der munter nahezu sämtlichen Zivilisten die Hand schüttelte, hatte sie die ganze Nacht kaum ein Auge zubekommen.
Angel schwor die verbliebenen Ranger darauf ein, dass Paul von nun an den Oberbefehl innehatte, und überreichte dem Rentner dabei symbolisch Monroes Schachbrett. Paul hatte auf diesem Brett viele Spiele gegen den General verloren und verstand die Geste. Er versprach, es wie seinen Augapfel zu hüten.
Nachdem endlich alle Hände geschüttelt und alle gut gemeinten Ratschläge überbracht worden waren, gab Angel den Startbefehl. Cole und Sharon übernahmen wie auf der Herfahrt die Vorhut mit dem Motorrad und blieben nach Möglichkeit in Sichtweite zum dahinterfahrenden Humvee. Cassidy saß stolz mit ihrer kreisrunden Sonnenbrille auf dem Fahrersitz, damit ihre Ausbilderin wie üblich Kartenmaterial studieren konnte. Dog hatte die Rücksitze ganz für sich allein. Angel wollte weder ihm noch der vulturefeindlichsten Frau aller Ranger eine derart lange Reise im selben Auto zumuten, weshalb sich stattdessen Caiden und Faith die Rückbank des Pick-ups teilten. Der Transporter war nur mit einem Heckgeschütz bewaffnet und Butch übernahm darum wie selbstverständlich die Nachhut.
Als sie den Kopfsteinpflasterweg verließen und auf die aufgeplatzte Asphaltstraße nach Norden schwenkten, erinnerte Angel ihr Team daran, permanent nach verräterisch starr fliegenden Greifvögeln Ausschau zu halten. Sie schätzte die Chancen einer Entdeckung abseits der Hauptverkehrspässe zwar als verhältnismäßig gering ein, waren sie jedoch erst einmal geortet worden, würden sie die Sicarii mit Sicherheit am Ausgang der Berge erwarten. Und obwohl Angel Jades Hinweisen nach wie vor großes Misstrauen entgegenbrachte, hatte sie doch verstanden, dass sie wirklich nur den Plänen der wandlungsfähigen Schwertkämpferin folgte, und nicht denen der Sicarii. Die Gebirgsüberquerung musste also in jedem Fall geheim bleiben.
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Der erste Tag entwickelte sich rasch zur entspannten Reise durch die atemberaubende Landschaft. Angel ließ den Konvoi nie schneller als sechzig Stundenkilometer fahren, was es allen ermöglichte, ehrfürchtig die steilen Felsmassive und die abgeschmolzenen Gletscher zu betrachten und zudem Treibstoff sparte. Ganz nach ihrer Berechnung erreichten sie bei Einbruch der Nacht den erwarteten Tunnel, den Cole als nördlichste Markierung auf seiner Aufklärungskarte eingezeichnet hatte. Die marode Seitenstraße war kurz zuvor auf eine breite, vierspurige Autobahn gemündet und es dauerte nicht lange, bis sie verstanden, dass alle Täler mit ähnlich unheimlichen Betonröhren verbunden waren.
Eigentlich hatte Angel die Schnellstraßen meiden wollen, musste sich nun jedoch mangels Alternative damit abfinden. Die Tunnel boten einen gewissen Schutz vor der kalten Nacht, stellten die Gruppe aber auch gleichzeitig vor neue Herausforderungen. Aufgrund der beengten Verhältnisse fiel es ihnen ungleich schwerer, Autowracks von der Straße zu schieben und den Weg freizumachen. Außerdem wurde es in den kilometerlangen Unterführungen schon nach wenigen Metern stockfinster und die Strahlen der Taschenlampen ließen die furchteinflößenden Erinnerungen an die verfluchte Militärbasis zurückkehren.
Sharon wich die ganze Nacht nicht von Coles Seite und Cassidy zwängte sich zum Schlafen kurzerhand zwischen Caiden und Faith. Butch und Kim schlossen sich mit verriegelten Fensterschotts im Pick-up ein. Angel zeigte etwas mehr Unerschrockenheit und teilte sich die Nachtwache mit Dog, der das seiner Meinung nach kindische Verhalten überhaupt nicht nachvollziehen konnte.
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Am zweiten Tag mussten sie sich durch ein völlig ausgebranntes Tal kämpfen, in dem sich weder Nahrung noch Wasser finden ließen. Der Asphalt war aufgrund der Hitze des Feuers geschmolzen und vermischt mit Asche und verkohlten Holzresten nicht mehr zu erkennen. Ohne die Brotkrumenspur aus Laternenmasten und Elektroautowracks, die ihnen in Black Forrest den Weg gewiesen hatten, irrten sie beinahe blind durch die apokalyptische Gegend und konnten sich nur auf ihren Kompass verlassen.
Coles Rennmotorrad war für derartige Verhältnisse nicht zu gebrauchen, so dass er es mit Butchs Hilfe auf das Heck des Pick-ups wuchtete. Der Humvee musste den überladenen Transporter anschließend immer wieder aus dem Aschekessel ziehen und stand selbst jedes Mal kurz davor steckenzubleiben. Als am Ende des Tages endlich der ersehnte Tunnel am Horizont auftauchte, war dem Kommandoteam die Erschöpfung deutlich in den verschwitzten Gesichtern anzusehen.
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Erleichtert durchquerten sie am dritten Tag eine lauschige Tiefebene, die sogar noch ein paar grüne Bäume und Wiesen zu bieten hatte. Weniger gut gefiel ihnen die große Anzahl von verrotteten Berghotels und überdimensionierten Straßenschildern, die auf ein wichtiges Autobahnkreuz hinwiesen. Wenn die Sicarii die Berge irgendwo überwachten, dann hier. Da sie am ersten Tag sehr viel Treibstoff hatten sparen können, erlaubte Angel dem Konvoi, nun mit höherer Geschwindigkeit zu fahren, um das exponiert liegende Tal so schnell wie möglich hinter sich zu lassen.
Während der obligatorischen Mittagspause, in der sie wie jeden Tag Schatten aufsuchten und die Motoren schonten, entdeckte Angel einen glitzernden Punkt am Himmel. Nach einer Überprüfung durch die Zieloptik ihres Scharfschützengewehrs war klar, dass es sich nicht um einen Vogel, sondern ein künstliches Flugobjekt handelte. Es ähnelte allerdings keiner der Aufklärungsdrohnen, die sie bisher gesehen hatte, weder der von Silver Valley noch den Fotos aus Monroes Militärbibliothek. Die Flügel waren geradezu riesig, verglichen mit dem winzigen Rumpf. Außerdem glitzerte und funkelte es wie ein Spiegel im hellen Sonnenlicht, wodurch es viel leichter zu entdecken war und folglich kaum militärischen Ursprungs sein konnte. Trotzdem wollte sie kein Risiko eingehen und hielt bis zum späten Nachmittag die Stellung, ohne das äußerst langsame Flugobjekt aus den Augen zu lassen.
Nachdem die Drohne hinter dem südlichen Bergrücken verschwunden war, trieb Angel ihre Kameraden zur Eile an. Der Sonnenuntergang stand kurz bevor und laut den Verkehrsschildern trennten sie noch über fünfzig Kilometer vom Talausgang. Bei Nacht hätten sie die Scheinwerfer einschalten müssen, was einem rot blinkenden Zielkreuz auf den Wagendächern gleichgekommen wäre. Mit den letzten Sonnenstrahlen erreichten sie die rettende Betonröhre, nur um für einen Moment dem Ende ihrer Mission entgegen zu sehen.
Wenige hundert Meter hinter dem Tunneleingang türmten sich unzählige Autowracks aufeinander, die von einem tonnenschweren Kampfpanzer zusammengeschoben worden waren. Anhand der offenen Wagentüren und fehlenden Insassen konnte man erkennen, dass den Passagieren die Flucht gelungen war. Die Luken des Panzers standen ebenfalls offen. Angel und Kim untersuchten den Innenraum, während Cole und Dog sie absicherten. Aber wer auch immer für die Blockade verantwortlich war, hatte sich kurz darauf aus dem Staub gemacht.
Ehrfürchtig ließ Cassidy die Fingerspitzen an dem stählernen Ungetüm entlanggleiten. Sie erkannte die Bauweise aus Monroes Militärbüchern, doch kein Foto der Welt hätte sie auf diesen einschüchternden Anblick vorbereiten können.
Es war ein Kampfpanzer vom Typ Ares. Eine der letzten technologischen Errungenschaften des Militärs und benannt nach dem griechischen Gott des Krieges. Angetrieben von einer Wasserstoff-Brennstoffzelle, um dem weltweiten Mangel an fossilen Brennstoffen entgegenzutreten, und bewaffnet mit einem Mikrowellenemitter, der Menschen nach kurzer Zeit das Gefühl gab, bei lebendigem Leibe zu verbrennen, zusätzlich zu seinem Hauptgeschütz. Cassidy fühlte sich wie bei der Einfahrt nach Jaguar Bay, als sie sich nicht mal im Traum vorstellen konnte, wie eine einzige Lokomotive einen Zug mit dutzenden Waggons zu bewegen vermochte.
Sharon schlich mit einer Mischung aus Hoffnung und Schrecken zugleich um den Panzer herum. Sie erinnerte sich genau an die zerstörerische Kraft der faustdicken Kanone des Gefechtsturms, die einst brüllend Feuer über ihren Kopf hinweg gespuckt hatte. In ihren Ohren hörte sie die knirschenden Geräusche der massiven Stahlketten, die sich durch den Schutt der zerstörten Gebäude kämpften und dabei alles niederwalzten, was ihnen im Weg stand. Dies war mit Sicherheit nicht der Panzer ihrer damaligen Retter, aber die Gefühle, die sie mit dem kriegerischen Monster verband, waren dieselben.
Während sich die Gruppe an der unerwarteten Touristenattraktion sattsah, kam Angel zu einer niederschmetternden Erkenntnis. Selbst wenn sie das tonnenschwere Ungetüm bewegen könnten, was völlig außer Frage stand, wäre ihre motorisierte Reise dennoch beendet. Sie hatte über vierzig Elektrofahrzeuge gezählt, die ihnen ineinander verkeilt den Weg versperrten. Es würde Wochen dauern, eine Schneise durch das Aluminiumknäuel zu schlagen.
Zum Glück gab es vor dem globalen Untergang Gesetze für den Fall der Fälle, die Fluchttunnel parallel zum Straßenverlauf vorschrieben, auch wenn wohl kein Unterführungsarchitekt je mit einem wildgewordenen Panzer gerechnet hatte. Notgedrungen begann die Gruppe mit der Aufteilung der Ladung in Rucksäcke, wobei Angel großen Wert auf ausreichende Munitionierung legte. In den vergangenen drei Tagen waren sie mit Ausnahme des Aschekessels wiederholt auf kleine, unterirdische Wasseradern gestoßen, die sich mit grünen Flecken auf der Oberfläche bemerkbar machten. Angel ging davon aus, dass sich daran nichts ändern würde, solange sie den abgeschmolzenen Gletschern folgten, deren Wasser nur langsam durch das Felsgestein sickerte. Anschließend versteckten sie die Wagen zusammen mit Coles Motorrad zwischen den Wracks. Ironischerweise bereitete dabei lediglich der Humvee etwas Mühe. Butch musste seinen Pick-up nur nah genug an der Unfallstelle parken, schon ging sein äußerlich schrottreifer Liebling in der Menge unter.
Nachdem sie neun vollgepackte Rucksäcke an der Tunnelwand aufgereiht hatten, legte sich die Gruppe schlafen. Cassidy übernahm mit ihrem Bruder die erste Nachtwache. Es gab keinen Grund, an drohende Gefahren zu denken, weshalb sich die beiden neugierig der schmalen Fluchtröhre widmeten. An der runden Betonmauer fanden sich unzählige Botschaften aus der Zeit des Untergangs.
Marc! Bin mit den Kindern entkommen. Treffen bei Schwiegermutter. In Liebe Carla!
Doyle, wenn du das liest, bin ich schon tot. Verdammten Cops ... erwischt! - Lawrence
Die Brücke ist zerstört! Kehrt um!
Cassidy erinnerten die Botschaften an die Abschiedsbriefe der Militärsiedlung am Fuße der verfluchten Basis, weshalb sie die letzte Warnung durchaus ernst nahm. Beim leckeren Frühstück aus Pflaumenmus, dessen Gläser sie nicht mitschleppen wollten und daher alle auf einmal leerten, informierte sie Angel über die prophetischen Wandmalereien.
Nachdem sie sich selbst ein Bild gemacht hatte, raufte sie sich frustriert die Haare. Es wäre ja auch zu einfach gewesen, wenn der Rest des Weges aus ebenen, gutausgebauten Fernverkehrsstraßen bestanden hätte! Trotzdem änderte das nichts an ihrem Plan, sondern ließ Angel lediglich mit einem Schaudern an Kims provisorisches Gurtzeug denken, das sie nun vielleicht doch einsetzen mussten.
Der Tunnel war laut der Ausschilderung vierundzwanzig Kilometer lang und verlief fast schnurgeradeaus. Obwohl sich ihnen bis auf zurückgelassene Gepäckstücke keine weiteren Hindernisse in den Weg stellten, dauerte der Fußmarsch aufgrund der schweren Rucksäcke und der totalen Finsternis bis zum Nachmittag. Bei jeder größeren Kofferansammlung machte die Gruppe zudem eine Pause, um sie genauer zu untersuchen. Besonders antike Kleidungsstücke hatten stark unter Schädlingsbefall gelitten, aber hin und wieder fanden sich kleine Schätze wie Haarkämme, stabile Ledergürtel und sogar ein eingeschweißter Bergführer. Landkarten hatten nach dem Zusammenbruch der Zivilisation rasch an Wert verloren, da die Erde ohne Eingriffe des Menschen schnell von der Natur zurückerobert worden war. Des Weiteren hatte es sich als äußerst gefährlich erwiesen, in bekannten Siedlungen Zuflucht zu suchen, da nicht nur friedliche Zivilisten Stadtpläne lesen konnten. Mit der Zeit fertigten sich die Überlebenden neue Karten an und vergaßen die alten Namen, die sie zu sehr an das untergegangene Paradies erinnerten.
Auch das Gebirge hatte sich Mutter Natur zurückgeholt, aber die monströsen Röhren durch den Fels würden noch viele Jahrzehnte intakt bleiben und waren auf dem Bergführer eindeutig markiert. Außerdem halfen besondere Markierungen wie Höhenlinien oder eingezeichnete Wanderwege bei der Suche nach der optimalsten Route. Bevor sich Kim jedoch mit Kompass und Lineal an die Arbeit machen durfte, wollte Angel die zerstörte Brücke erst einmal selbst in Augenschein nehmen.
Am späten Nachmittag erblickte die Gruppe endlich das buchstäbliche Licht am Ende des Tunnels. Wie Taucher nach einem langen Aufenthalt in der Tiefsee legten sie eine minutenlange Dekompressionsphase ein, um sich nach der tiefen Finsternis wieder an normale Lichtverhältnisse zu gewöhnen, ehe sie die enge Röhre verließen. Direkt voraus befand sich eine gigantische Stelzenbrücke, die der vor Silver Valley ähnelte, jedoch um ein vielfaches größer war. Angel wurde schon beim Gedanken daran schlecht, sich der Brüstung zu nähern, und Kim verwarf ihren Plan, lediglich ein Seil über die Abgrenzung zu werfen und einfach hinunterzuklettern.
Die vierspurige Überführung durchzog das Tal auf einer Länge von sechzehn Kilometern und war an ihrer höchsten Stelle mehr als dreihundert Meter vom Boden entfernt. Die prophetische Warnung von der Tunnelwand erwies sich als wahrheitsgetreu. Genau in der Mitte klaffte ein breites Loch, aus dem rostige Stahlträger herausragten und ein paar aufgespießte Fahrzeugwracks vor dem Absturz bewahrten. Die ansonsten grellweiße Betonfärbung war schwarz und verraucht, was auf eine Explosion schließen ließ. Ob es sich um einen strategischen Luftangriff oder einen Terroranschlag gehandelte hatte, war dreiundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch nicht mehr zu erkennen. Am Boden der Brücke stapelten sich unzählige herabgestürzte Fahrzeuge, die aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit wohl nicht rechtzeitig zum Stehen gekommen waren. Genau wie vor Silver Valley reihten sich außerdem hunderte Elektroautos auf beiden Seiten der Fahrstreifen aneinander, die definitiv das Ende ihres Konvois bedeutet hätten.
Drei Stunden vor Sonnenuntergang wollte Angel den Abstieg der ihrem Empfinden nach kilometertiefen Schlucht nicht mehr wagen, erlaubte Kim jedoch, sich die Felswände am Tunnelausgang schon einmal gründlich anzusehen. Da es weder links noch rechts befestigte Wege in die Tiefe gab, blieb nur die gefürchtete Abseiltour übrig. Faith meldete sich freiwillig, um den Rotschopf zu begleiten. Gemeinsam schafften sie es, bis zur Abenddämmerung auf der halben Strecke geeignete Fixpunkte zu finden oder selbst welche zu errichten, mit denen sie am nächsten Tag ihr Team sichern konnten.
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Schon mit den ersten Sonnenstrahlen des fünften Tages befahl Angel den Aufbruch, da sie die folgende Nacht keinesfalls auf einer rutschigen Felskante verbringen wollte. Faith übernahm die Vorhut und erwartete die anderen auf der nächsten Flachstelle, wo sie das Seil festhielt und den ungeübten Bergsteigern den Weg zu stabilem Halt wies. Kim sicherte die Gruppe von oben und sorgte dafür, dass sich das Seil nicht löste und jeder die richtige Technik anwendete.
Caiden zeigte wie im Kloster großes Selbstvertrauen und nahm damit seiner Schwester viel von ihrer Angst. Cole und Dog stachelten sich gegenseitig an. Sie verglichen den Abstieg mit einer Mutprobe und stritten am Ende gar darum, wer zuerst gehen dürfe. Sharon hatte am Morgen entgegen Kims Rat auf ihr Frühstück verzichtet. Das verhinderte zwar ihr obligatorisches Erbrechen, ließ sie aber bereits auf der zweiten Abseilstelle mit bleichem Gesicht zusammensacken und eine Zwangspause einlegen. Angel ging grundsätzlich als Vorletzte. Erst, nachdem das Seil die schweren Männer und das Gepäck sicher getragen hatte, war sie einigermaßen beruhigt. Trotzdem hielt sie die Augen beim freien Abseilen geschlossen und verließ sich blind auf Kims und Faiths Funkdurchsagen. Es gab keine Worte, die auch nur annähernd beschreiben konnten, wie unangenehm ihr diese eine große Schwäche war.
Trotz der schlechten Vorzeichen erreichten sie den Boden schon am frühen Nachmittag, was dem Team Zeit für eine dringend nötige Pause verschaffte. Kim riet jedem, sich zwei stabile Gehstöcke zu suchen, mit denen sich die lange Wanderung deutlich leichter gestalten sollte. Alle bis auf Cole und Dog folgten ihrem Rat. Die Streithälse wollten einander ihre Überlegenheit demonstrieren, was Kim mit einem hilflosen Schulterzucken akzeptierte. Sie war sich mit Faith einer Meinung, dass die beiden Testosteronpakete schon vor Einbruch der Nacht das Schlusslicht der Gruppe bilden würden.
Butch kochte während der zweistündigen Rast eine große Kanne Hagebuttentee, der immer häufiger als Kaffeeersatz herhalten musste. Nachdem sie den ganzen Tag nicht zur Jagd gekommen waren, blieben lediglich knochenhartes Brot und Trockenpflaumen als Verpflegung übrig. Kim studierte zusammen mit Faith den Reiseführer, der bis zur verfluchten Militärbasis reichte, von der jedoch nur die dazugehörige Siedlung mit einem winzigen Punkt markiert worden war. Nichts deutete auf den Flughafen oder den unterirdischen Forschungskomplex hin. Ernüchtert stellten sie außerdem fest, dass das Gebirge in östlicher Richtung anwuchs und sie daher weitaus länger als Sharons Flüchtlingszug vor drei Jahren brauchen würden. Zum Glück hatten sich die beiden Frauen die meisten der Verkehrszeichen gemerkt und konnten so genau bestimmen, unter welcher Brücke sie gerade ihren Nachmittagstee tranken. Die dreitägige Reise mit den Autos hatte sie sehr schnell vorangebracht, so dass nur noch ein Drittel des Weges und zwei größere Tunnel vor ihnen lagen.
Nachdem die Temperatur auf ein erträgliches Maß gesunken und die Gruppe wieder zu Kräften gekommen war, führte Kim sie in Richtung Westen von der zerstörten Autobahnbrücke weg, bis sie auf einen ehemaligen Wanderweg stießen. Der Bergführer beschrieb die Route als gut befestigt und aufgrund des leichten Höhenanstiegs im Zickzack-Kurs auch für Einsteiger geeignet. Letzteres stimmte, doch die Natur hatte sich den grob asphaltierten Pfad schon vor Jahren zurückerobert. Stolperfallen aus knorrigen Wurzeln, tief herabhängende Äste und Zweige sowie heraussprießendes Gras verlangsamten die Wanderung ungemein.
Sharon ging es mit jedem Kilometer schlechter. Sie fiel immer weiter zurück und musste häufig rasten. Ihre Übelkeit beschränkte sich nicht länger auf die Morgenstunden. Den ganzen Tag über vermochte sie keinen Bissen mehr im Magen zu behalten. Ihr Gesicht war kreidebleich und Angel konnte ihren Puls kaum noch fühlen, was auf einen viel zu niedrigen Blutdruck schließen ließ. Cole opferte ihr fast seine gesamten Wasserrationen und musste sie am Ende des Tages beim Gehen unterstützen. Nun bereute er seine Weigerung, Gehstöcke benutzt zu haben. Genau wie Dog war er verglichen mit den anderen völlig erschöpft.
Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war und die Nacht das Tal mit ihrem schwarzen Schleier bedeckte, wünschte sich Cassidy den Schutz der dunklen Autobahntunnel zurück. Nachtaktive Jäger, die seit Generationen keinen Menschen mehr zu Gesicht bekommen hatten, schlichen neugierig um das Lager herum. Es waren Bergpumas, deren Augen das Lagerfeuerlicht reflektierten und sie unheimlich funkeln ließen. Und das nicht nur am Boden, sondern auch in den Ästen der umliegenden Bäume oder auf den Anhöhen der Felswände. Angel versuchte, ihre Schülerin zu beruhigen, und erklärte ihr, dass die Wildkatzen keine Rudeltiere seien und Menschen nicht in ihr Beuteschema passen würden; viel half das aber nicht. Sie konnte Dog gerade noch davon abhalten, ein paar Warnschüsse auf die herumstreunenden Raubkatzen abzugeben, was man im ganzen Tal gehört hätte. Das Feuer allein ging schon wider ihre Natur, war jedoch aufgrund der kalten Gebirgsnächte bitter nötig. Der Lichtschein wurde durch die dichte Vegetation zumindest etwas eingedämmt. Am Ende befahl sie eine vierköpfige Nachtwache, die nach vier Stunden von den anderen abgelöst werden sollte. Nur Sharon durfte durchschlafen.
Sie schwitzte als läge sie unter der heißen Wüstensonne und zitterte manchmal minutenlang, ohne dabei die Augen zu öffnen. Mit Schwangerschaften hatte niemand Erfahrungen und im Crashkurs der Ranger war darauf ebenfalls kein Wert gelegt worden. Außerdem stand noch nicht mal genau fest, dass sie wirklich nur schwanger war. Cole baute während der Nacht mit Butchs Hilfe eine Trage, da Sharon am nächsten Tag kaum mehr laufen können würde. Angel überließ ihnen dafür bereitwillig den Hightech-Kampfstab, wodurch sie nur noch einen stabilen Ast in der Dunkelheit finden mussten.
Angel bereute bereits, nicht auf ihren Verstand gehört zu haben, der sie davor gewarnt hatte, Sharon mitzunehmen. Es war ihre erste vollkommen eigenständige Entscheidung gewesen, für die sie niemanden außer sich selbst verantwortlich machen konnte, aber einen Weg zurück gab es nicht mehr. Insgeheim hoffte sie, dass Jade sie nicht nur benutzte, sondern dass am Ende der Reise tatsächlich Hilfe auf sie wartete. Sie hoffte es - um Jades Willen.
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Am sechsten Tag führte Kim die erschöpfte Gruppe weiter auf dem verwilderten Wanderweg in Richtung Norden. Seit dem Aufbruch hatten sie weder ihre Kleider noch sich selbst waschen können. Die Nahrungsvorräte gingen ebenso wie das Wasser zur Neige. Die Männer wechselten sich regelmäßig beim Tragen von Sharon ab, die inzwischen wieder bei Bewusstsein aber kaum ansprechbar war. Sie hatte keine Schmerzen, sondern wirkte einfach nur völlig kraftlos. Aufgrund ihres bedenklichen Zustands gab sie mittlerweile zu, dass sie und Jason schon vor ihrem Aufbruch zur unterirdischen Militärbasis miteinander geschlafen hätten, und eine Schwangerschaft zumindest im Bereich des möglichen läge. Als Cole das hörte, vermutete er bereits einen weiteren Konkurrenten, bis Angel ihm von Jasons grausamem Schicksal erzählte.
Zur Mittagszeit erreichte die Gruppe das erste Etappenziel des Tages. Eine verrostete Bahnstrecke, die sie laut dem Reiseführer direkt zu einem Eisenbahntunnel führen sollte, der dann fast schnurgeradeaus in Richtung Norden verlief. Zwar konnten sie so kaum noch vom Wege abkommen, stolperten stattdessen aber gefährlich auf dem staubigen Schotterbett entlang.
Bei Einbruch der Nacht hatten sie es geschafft und zwängten sich an einem Passagierzug vorbei, der zur Hälfte außerhalb des Tunnels stand. Wahrscheinlich war die Stromversorgung während der Fahrt zusammengebrochen. Bei näherer Begutachtung vermochte das Team keine Anzeichen eines Überfalls zu erkennen. Die Passagierabteile waren verlassen, der Zug und die Lokomotive unbeschädigt. Es gab auch einen Speisewaggon, in dem noch immer mumifizierte Reste auf den Tellern lagen. Nach so langer Zeit schien es völlig hoffnungslos, in diesem Chaos etwas Genießbares zu finden, doch nach gründlichem Durchwühlen der Schränke kamen ein paar eingeschweißte Fertigsoßen und Teebeutel zum Vorschein. Satt wurde davon niemand, aber der Geschmack war eine willkommene Abwechslung.
Die Nacht verbrachte die Gruppe im geradezu luxuriösen Schlafwagen, dessen Bettzeug sie allerdings aus Sicherheitsgründen entsorgten. Nach zwei Jahrzehnten hatten sich unzählige Insektenkolonien darin gebildet. Die Federkernmatratzen wiesen hingegen einen undurchlässigen Kunststoffbezug auf, der Cassidy sofort an ihr bequemes Bett in Silver Valley erinnerte.
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Am Morgen des siebenten Tages überraschte Sharon ihre Kameraden mit frisch aufgebrühtem Tee und der Tatsache, dass sie wieder aufrecht stehen konnte. Ihr Frühstück ging ihr wie üblich kurz darauf noch einmal durch den Kopf, aber sie war zumindest in der Lage, ein paar Schritte zu laufen. Angel und Kim waren sich einig, dass der Stress des Abstiegs einfach zu viel für sie gewesen sei. Dennoch nahmen sie sicherheitshalber die improvisierte Bahre mit. Cole schleppte trotz seiner Atemschwäche, die ihn in den Bergen besonders belastete, weiterhin zwei Rucksäcke. Das verschaffte ihm zum ersten Mal etwas Anerkennung von Dog, der sich nach ein paar Stunden sogar bereit erklärte, ihm zeitweilig beim Tragen zu helfen. Die schwere Munition machte ihnen dabei am meisten zu schaffen, doch sie war nach dem Wasser ihre wichtigste Lebensversicherung. Keinem der beiden Männer kam bei ihrer Plackerei je der Gedanke, auch nur eine einzige Patrone zurückzulassen.
Die Reise durch den Eisenbahntunnel erwies sich als die bisher schwerste Herausforderung, vom Abseilen an der Felswand abgesehen. Im schwachen Taschenlampenlicht waren die grauen Betonblöcke im staubigen Gleisbett schlecht zu erkennen, wodurch sie besonders vorsichtig und langsam gehen mussten. Ein Sturz auf die harten Schienen oder den Schotter mit den schweren Rucksäcken auf dem Rücken hätte verheerende Folgen haben können.
Fast wäre ihnen das Ende des Tunnels erst aufgefallen, als sie schon im Freien standen. Die Reise hatte so lange gedauert, dass es bereits Nacht geworden war, bis sie endlich frische Luft spürten und das letzte Tal vor dem vermeintlichen Sicariigebiet erblickten. Angel brauchte den Befehl zur Nachtruhe überhaupt nicht zu erteilen. Ihre Kameraden rutschten erleichtert an den Betonwänden zu Boden und schliefen sofort ein.
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Im krassen Gegensatz zum feindseligen Bild der erbarmungslosen Invasoren begrüßte sie die Natur am achten Morgen mit fröhlichem Vogelgezwitscher, raschelndem Laub und sogar einem Gefühl von Tau auf den Lippen. Hier musste es Wasser geben, und nicht kilometertief in der Erde, sondern nah an der Oberfläche. Kim vermutete einen unterirdischen See, ähnlich dem Reservoir des Klosters, da sie sich laut dem Touristenführer auf etwa derselben Höhenlage befanden.
Die ganze Energie der Gruppe konzentrierte sich nach der entbehrungsreichen Reise nur noch darauf, das kühle Nass zu finden. Sie bildeten drei Teams, um die Suche zu beschleunigen. Caiden führte mit seiner Überlebenserfahrung Cassidy und Faith an der östlichen Felswand entlang. Kim brach mit Butch nach Norden auf und konnte so gleichzeitig die letzte Route über die Berge planen. Angel übernahm mit Dog den Westen. Cole blieb mit Sharon beim Eisenbahntunnel zurück.
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»Warum hast du nichts davon gemerkt?«, fragte Angel mit gespielt beiläufiger Stimmlage, während sie mit Dog auf ein paar große Felsen kletterte, um sich einen Überblick des Tals zu verschaffen.
»Wovon?«, brummte er abweisend.
»Eric. Du warst doch sein Thronfolger. Warum hat er dir nichts von seinen Verhandlungen mit den Sicarii gesagt?«
Dog stellte seinen rechten Fuß auf einen umgeknickten Baum und starrte ausdruckslos in die unberührte Natur unter ihnen.
»Diese Zeiten sind seit langem vorbei«, erwiderte er missmutig.
»Was ist denn zwischen euch passiert?«
»Du bist passiert!«
Angel warf ihrem muskelbepackten Gefährten einen mitleidigen Blick zu. Sie hatte sich schon gefragt, wann sie dieses Gespräch führen würden.
»Als die Nachricht von deiner Gefangennahme durch die Ranger eintraf, haben Eric und ich uns lange Zeit um eine Rettungsmission gestritten. Du kennst ja seine Einstellung dazu.«
Dog kratzte sich mit den Fingerspitzen seine Kopfhaut. Seine Haarwurzeln juckten nach acht Tagen ohne vernünftige Wäsche wie verrückt, sobald er in der Sonne stand.
»Er wollte nichts davon hören, bis er seine eigenen Operationen wieder mit großer Regelmäßigkeit gegen die Wand fuhr und begriff, dass er dich brauchte.«
Angel schmunzelte in sich hinein. Sie wusste ganz genau, dass die Vultures vor ihrem Beitritt nichts von strategischer Weitsicht verstanden hatten. Nach ihrem schicksalhaften Zusammenstoß mit Butch und Victor war die Gang schnell in den Zustand einer barbarischen Horde zurückgefallen, die taktische Unfähigkeit durch zahlenmäßige Überlegenheit ausglich.
»Nach ein paar Wochen hat sein Ego endlich kapituliert und mich die Rettungsoperation planen lassen«, fuhr Dog fort. »Es dauerte trotzdem eine ganze Weile, bis wir genügend Männer und Material in Stellung bringen konnten. Wir durften Peterson auf keinen Fall in Alarmbereitschaft versetzen, also ließen wir es wie die Vorbereitung für einen Angriff auf Jaguar Bay aussehen. Als es dann so weit war und wir die Palisade gestürmt hatten, verfielen Erics inkompetente Neuanwerbungen dem Siegesrausch. Diese Idioten fingen sofort an, die Leute von Silver Valley wahllos abzuschlachten und gaben dadurch Monroe alle Zeit der Welt, sich neu zu formieren.«
Angel wendete sich von ihm ab, um die Trauer in ihrem Gesicht zu verbergen. Es geschah jedes Mal, wenn sie jemand an ihre damalige Freundin Agnes erinnerte, die von den Vultures zu Tode vergewaltigt worden war.
»Erics Pfeifen riefen auf einmal zum Rückzug und, dass Angel mit den Rangern gemeinsame Sache machen würde!«, erzählte Dog weiter. »Es hat einige Monate gedauert, bis ich deinen Verrat akzeptieren konnte. Willst du mir nicht langsam mal sagen, was dich dazu getrieben hat?«
Angel schüttelte den Kopf. Weder schämte sie sich für ihren damaligen Entschluss noch für ihre Gründe. Sie glaubte einfach nicht, dass er sie bereits verstehen würde. Es war noch zu früh.
»Was hat Eric gesagt, als du geschlagen zurückgekehrt bist?«
Dog rollte mit den Augen, doch er akzeptierte ihr Schweigen - für den Moment.
»Deine Lektionen sind nicht spurlos an ihm vorbeigegangen«, antwortete er mit einem spöttischen Grinsen auf den dreckigen Lippen. »Vor den anderen hat er dich verteufelt und mich als betrogenes Opfer dargestellt, aber sobald wir allein waren ...«
Der Hüne rieb sich an seinem Unterkiefer. Dog war bereits gebaut wie ein fleischgewordener Rammbock, doch Eric übertraf ihn noch um wenigstens einen halben Kopf. Er galt nicht umsonst als der Riese.
»Nach diesem Tag war nichts mehr wie früher. Sein Vertrauen in mein Urteil war zerstört. Er ließ mir meine Position nur, um sich nicht selbst zu schwächen, aber es hat Jahre gedauert, um mich tatsächlich zurück an die Spitze zu kämpfen.«
»Und was ist mit Caiden?«
»Caiden«, murmelte Dog nachdenklich. »Caiden hat mich sehr an dich erinnert. Ein paar von unseren Schwachköpfen haben seinen Vater abgeknallt und da hat er sich auf sie gestürzt. Ich bin gerade noch rechtzeitig dazwischengegangen und hab ihm das Angebot seines Lebens gemacht, von dem er jetzt ständig faselt. Den Rest der Geschichte kennst du.«
»Das erklärt nicht, warum er mehr über Eric weiß, als du«, bohrte Angel nach.
»Wissen?«, erwiderte Dog mit verächtlich aufgerissenen Augen. »Der Bengel weiß gar nichts! Aber er ist nicht auf den Kopf gefallen. Mir gingen Eric und seine paranoiden Wahnvorstellungen wegen der sicariianischen Angriffe immer häufiger am Arsch vorbei. Ich hab den Tag herbeigesehnt, an dem die seine Festung stürmen würden und endlich Ruhe wäre! Vermutlich hat Caiden einfach besser zugehört. Was weiß ich ...«
Angel runzelte die Stirn. »Wärst du nicht ebenso draufgegangen, wenn die Sicarii Erics Festung gestürmt hätten?«
»Glaubst du vielleicht, wir sind aus Spaß auf diese Bastarde zugefahren?«, entgegnete Dog erzürnt. »Uns war völlig klar, dass wir diesen Krieg nicht gewinnen konnten! Ich wollte einfach nicht neben Eric in seinem Betonbunker verrecken!«
Nun musste Angel auf einmal die Hand vor den Mund halten, um nicht zynisch loszulachen. Auch Dog zog die Mundwinkel hoch, als er sich das Bild in seinem Kopf vorstellte. Der Hüne und der Riese zusammengekauert im dunklen Kellerverlies unterhalb der Festung, in das sie normalerweise ungehorsame Sklaven sperrten.
»Und dann tauchst du wie aus dem Nichts auf und willst, dass ich dir bei einem Himmelfahrtskommando mitten in die Höhle des Löwen helfe!«, fuhr Dog mit ausschweifend fuchtelnden Armen fort. »Diesen Affen Cole hättest du gar nicht zu erwähnen brauchen. Du bist einfach zum richtigen Zeitpunkt vom Himmel gefallen. Wir hatten doch gar keine andere Wahl, als dir zu folgen.«
Angel vergrub ihr Gesicht zwischen den Handflächen und seufzte erleichtert.
»Vielleicht hast du Recht und ich mache mir wirklich zu viele Gedanken.«
Dog holte ein trockenes Stück Brot hervor und kaute genüsslich darauf herum.
»Der Bengel ist einfach clever«, nuschelte er beschwichtigend. »Der stand wie Faith immer in irgendeiner dunklen Ecke und hat genau zugehört, während Erics Worte bei mir zum einen Ohr rein und zum anderen rausgegangen sind.«
Angel nickte und versuchte, sich selbst von ihrer übertriebenen Vorsicht zu überzeugen. Ihre eigene Schülerin Cassidy war ungeheuer raffiniert und hatte sie schon viele Male verblüfft. Warum sollte Caiden seiner Schwester dabei in irgendetwas nachstehen? Trotzdem blieb ein fahler Nachgeschmack in ihrem Unterbewusstsein zurück. Sie wurde das pochende Gefühl nicht los, dass sie etwas übersah, das direkt vor ihren Augen lag.
***
Als sie unter sich waren, durfte Faith ihre Erfahrungen als ausgebildete Einzelkämpferin entfalten und untersuchte mit geschultem Auge das Tal. Cassidy schlug vor, nach Tieren Ausschau zu halten, die mit Sicherheit ebenso Wasser brauchten wie sie. Caiden zeigte sich beeindruckt und war froh, dass ihre gemeinsamen Wanderungen durch die Wüste trotz des luxuriösen Lebens in Silver Valley nicht auf der Strecke geblieben waren. Gleichzeitig musste er seine übereifrige Schwester jedoch davon abhalten, einem Hasen nachzustellen, da gerade die Langohren auch ohne zu trinken sehr lange unterwegs sein konnten.
Nichtsdestotrotz begannen sie, nach Spuren zu suchen und entdeckten kurz darauf eine Wildschweinfährte. Die äußerst hygienebewussten Tiere lieben es, sich im Schlamm zu wälzen und entfernen sich nie mehr als ein paar hundert Meter davon. Berauscht von ihrem schnellen Erfolg und getrieben vom Durst liefen die drei um die Wette durch das hohe Gras, bis sie aus der Ferne das erhoffte Grunzen vernahmen.
Nun mussten sie vorsichtig sein, um nicht aus Versehen eine Bache mit ihren Jungen aufzuschrecken oder die Biester sonst wie zum Angriff zu verleiten. Von einer kleinen Anhöhe konnten sie kurz darauf das Schlammbad der Schweinsfamilie beobachten. Es waren sieben Jungtiere und fünf ausgewachsene Exemplare, aber keine Frischlinge. Das Rascheln im Gras genügte bereits, um die scheuen Tiere auf sie aufmerksam zu machen. Wie auf Befehl hörten sie auf, sich im feuchten Sand zu wälzen und starrten einen Augenblick in die Richtung der unbekannten Zweibeiner, die sie wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben zu Gesicht bekommen hatten. Dann ging auf einmal alles ganz schnell. Die Bachen rannten mit den Jungtieren davon, gefolgt von den Keilern mit ihren deutlich hervorstehenden Eckzähnen, die jedoch eine Sekunde zu lange gezögert hatten.
Beim plötzlichen Knall aus Caidens Sturmgewehr erschrak seine Schwester fast zu Tode. Die Ruhe in den Bergen hatte sie den Gefechtslärm beinahe vergessen lassen. Vielleicht wäre es auch eine gute Idee gewesen, die Waffe nicht unmittelbar neben ihr abzufeuern. Betäubt hielt sie sich die Hände an die Ohren und versuchte zu fluchen, wusste dabei allerdings nicht, ob ihre Laute überhaupt einen Sinn ergaben, da sie sie nicht hören konnte.
Faith lief die Anhöhe hinab und zog den Keiler aus dem Schlamm heraus, damit sein Blut nicht das Wasser verunreinigen würde. Caiden wollte sich bei seiner Schwester entschuldigen, die jedoch nur wütend abwinkte und kein Wort verstand. Daraufhin stolperte er ebenfalls den Hügel hinunter und begann in dem Tümpel zu graben. An der Oberfläche gab es nichts als feuchten Sand, aber schon nach einem halben Meter kam klares Wasser zum Vorschein. Ein äußerst seltener Anblick auf dem vertrockneten Planeten, an dem er sofort seine Wasserflasche auffüllte. Der Durst ließ Cassidy ihren Zorn für den Moment vergessen. Gierig griff sie nach der Feldflasche und verschwendete keinen Gedanken daran, dass sich gerade eine ganze Wildschweinfamilie darin gesuhlt hatte.
In diesem Augenblick kamen Butch und Kim mit angelegten Gewehren herangestürmt. Die Funkgeräte hatten längst den Geist aufgegeben, weswegen sie vom schlimmsten ausgegangen waren. Zunächst schienen sie verärgert über den unfreiwilligen Sprint durch das heiße Tal, doch Caiden vermochte seinen Kopf mit dem klaren Wasser aus der Schlinge zu ziehen. Kim riet ihm allerdings, bereits einen Vorrat für Angel und Dog anzulegen, die wahrscheinlich ebenfalls unterwegs seien und ihn für den unerlaubten Schuss am nächsten Baum aufknüpfen würden.
Es dauerte zehn Minuten, dann tauchte Angel auf dem Hügel auf, von dem aus Caiden geschossen hatte. Anders als Kim und Butch wäre sie dadurch nicht in eine mögliche Falle getappt, was den Rotschopf ein wenig verlegen machte. Dog glich die Punktzahl aber sofort wieder aus, als er sich hechelnd wie ein Bernhardiner im Hochsommer durch das Gestrüpp kämpfte, so dass man ihn schon aus hundert Metern Entfernung hören konnte. Er spie unverständliche Flüche in Caidens Richtung, die selbst das frische Wasser nicht zu besiegen vermochten. Das laute Signal war ihm dabei völlig egal, doch der Zwangssprint im Windschatten seiner deutlich besser trainierten Gefährtin war zu viel für ihn gewesen.
Angel zeigte sich hingegen ganz und gar nicht verärgert. Cassidys Bruder hatte dringend benötigtes Wasser gefunden und zugleich einen fetten Braten erlegt, den sie alle gut gebrauchen konnten. Außerdem standen ihnen mit der derzeitigen Ortskenntnis, dem Reiseführer und dem Eisenbahntunnel relativ gute Fluchtmöglichkeiten zur Verfügung, sollten die Sicarii sie bemerkt haben und zum Angriff übergehen. Wenn die Gruppe erst das unbekannte Flachland betreten hatte, das hinter dem nächsten Bergrücken begann, wären sie einem Überfall schutzlos ausgeliefert. Sie entschied daher, das Team den ganzen Tag lang rasten zu lassen und bei Nacht den Bahnschienen bis zum Ausgang des Gebirges zu folgen.
Angel verbrachte die heißen Stunden des Tages im Schatten einer hochgelegenen Insel aus Birken mit schneeweißen Stämmen, von wo aus sie fast das gesamte Tal zu überblicken vermochte. Sie hatte sich Cassidy als seelischen Beistand für den unvermeidlichen Abstieg mitgenommen. Außerdem konnte sie so endlich einmal wieder ein paar Worte mit ihr allein wechseln. Inzwischen ging es Cassidys Ohren ein wenig besser. Das Pfeifen war kaum noch zu hören, aber Angel musste sie nach wie vor anstupsen, bevor sie etwas sagte. Ansonsten wäre ihre tiefe Stimme im Rauschen des Laubs oder dem Tschilpen der Vögel untergegangen.
»Dein Bruder hat eine sehr gute Auffassungsgabe«, begann sie nachdenklich. Cassidy setzte das von Kim geliehene Fernglas ab und versuchte vergeblich, dem Blick ihrer Mentorin auszuweichen. Sie hatte geahnt, dass Caidens Ausbruch im Kloster nicht unbemerkt geblieben war, und suchte nach einer passenden Ausrede. Vorerst nickte sie einfach nur, um sich nicht zu verplappern.
»Eric ist kein Idiot«, fuhr Angel fort. »Psychopathisch und unmenschlich - ja, aber kein Idiot. Zwanzig Jahre lang hat er jede Gang zerstört, die ihm über den Weg kam, und die Reste in sich aufgesogen. Es gab mehr als ein Angebot, seine Leute mit anderen Banden zu vereinen und er hat jedes Mal abgelehnt. Einmal hatten die Red Dragons vierzig seiner Männer gefangen genommen, auf dem Schlachtfeld als Schutzschild vor ihren eigenen Truppen aufgereiht und damit gedroht, sie alle umzubringen, sollte er sich nicht unterwerfen. Was glaubst du, wie er reagiert hat?«
Da sich die Vultures bis zu diesem Tag behaupten konnten, lag die Antwort auf der Hand. Cassidy hatte aber genug sadistische Horrorgeschichten aus Angels Vergangenheit gehört, um sich innerlich bereits auf das nächste Blutbad vorzubereiten. Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen.
»Er stand völlig regungslos vor unserer Armee, begutachtete den zusammengewürfelten Haufen der Schlitzaugenbande und entschied, dass er sich so eine Chance nicht entgehen lassen durfte. Mit einem Fingerzeig befahl er, das Feuer zu eröffnen, ohne Rücksicht auf die Leben der Vultures. Wir schossen einfach durch sie hindurch. Die meisten Gangs sind erbarmungslose Mörder, aber damit hatten die Dragons nicht gerechnet. Bevor sie reagieren konnten, hatten wir fast ihre gesamten Truppen ausgeschaltet oder in die Flucht geschlagen, wo ihnen unsere Buggys den Rest gaben.«
»Hat das nicht seine eigenen Leute gegen ihn aufgebracht?«, wollte Cassidy wissen.
»Wohin sollten die denn gehen? Die Dragons waren kurz darauf Geschichte und Eric ein Garant für den Sieg. Viele glaubten einfach, dass sie nie so unfähig sein würden, sich gefangennehmen zu lassen. Dog hat sich hinterher erlaubt, Kritik an dem Massaker zu üben. Unter vier Augen versteht sich. Eric hat ihn angebrüllt, dass nur er über die Leben seiner Männer entscheiden dürfe. Ich war damals gerade erst aus der Sklaverei befreit worden und konnte mich nicht einmischen.«
Cassidy vergrub erschüttert ihr Gesicht in ihren Handflächen und war heilfroh, dass Caiden nur ein paar Wochen unter diesen Barbaren hatte zubringen müssen.
»Nun sag mir, würde so jemand innerhalb weniger Tage zu den Sicarii überlaufen, sich ein Gebiet zuteilen lassen und auf einmal den Befehlen anderer gehorchen?«, fragte Angel in einem Ton, der die offensichtliche Antwort bereits verriet. Cassidy schüttelte den Kopf und war kurz davor, die Karten auf den Tisch zu legen.
»Die Sicarii müssen ihn schon sehr lange unter Druck gesetzt haben; und nicht nur durch Angriffe und Überfälle auf seine Lager. Genau wie bei uns gibt es sicher Saboteure und Spione in den Reihen der Gang, die Eric das Blaue vom Himmel versprochen haben. Wochen, vielleicht monatelang!«
»Warum hat Dog dann nichts davon mitbekommen?«, antwortete Cassidy und war sich dabei wohl bewusst, wie gefährlich es war, das Thema zu intensivieren. Aber sie wollte wirklich wissen, wieso er sich nicht eingemischt hatte.
»Zum einen vertraut Dog ihm schon seit der Gefängnisrevolte. Ohne Eric wäre er wie sein Vater auf dem Gefängnishof aufgehängt worden. Zum anderen scheint es ihn kaum noch interessiert zu haben«, erklärte Angel mit einer abwertenden Handbewegung. »Aber wenn ausgerechnet jemand wie Dog, der diesen Bastard fast dreißig Jahre lang kennt, nichts davon merkt, wie kann es dann sein, dass gerade dein Bruder diese Zusammenhänge innerhalb von drei Wochen entdeckt?«
Cassidy ließ ihren Kopf in das trockene Gras am Fuße des Baums sinken und suchte nach den richtigen Worten, um ihrer Mentorin die ganze Geschichte zu erzählen, doch Angel kam ihr zuvor.
»Ich weiß nicht, was Caiden uns verschweigt, aber ich glaube nicht, dass er der Verräter ist«, philosophierte sie ernst. »Allerdings wäre dein Bruder nicht der Erste, der aus falschem Beschützerinstinkt ausgerechnet die in Gefahr bringt, die er davor bewahren will. Mit mir wird er nicht reden und ihn gewaltsam zum Sprechen zu bringen, ist wohl kaum eine Option.«
Cassidys blaue Augen zuckten unruhig in den Höhlen, als sie dem Monolog lauschte. Plötzlich traf es sie wie ein Schlag. Angel vertraute ihr! Sie versuchte gar nicht, etwas aus ihr herauszubekommen. Angel vertraute darauf, dass Cassidy selbst hinter das Geheimnis kommen und sie im richtigen Moment darüber informieren würde! Damit bestätigte sie nicht nur Cassidys Rechtfertigung für ihr Schweigen im Kloster, sondern öffnete gleichzeitig ein völlig neues Kapitel in ihrem Leben! Sie galt nicht länger als das kleine Mädchen vom Lande, das beschützt werden musste, oder als die eigentlich viel zu junge Rebellin, die das Sturmgewehr dem Waschtrog vorgezogen hatte. Von diesem Augenblick an fühlte Cassidy sich gleichwertig mit Butch, Cole, Johnny, Kim, Sharon und all den anderen Rangern. Sie trug nun ganz offiziell große Verantwortung. Das unglaublich befreiende Gefühl erwischte sie so unerwartet, dass sie nur schwer schlucken und noch einmal zu nicken vermochte.
Bevor sie ihre Aufregung in Worte fassen konnte, löste Dog sie von ihrem Posten ab und bestand auf etwas zweisame Zeit mit Angel. Im Kloster gab es so gut wie keine Privatsphäre und Angel war ohnehin meist mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Nun hatte er den Rest des Tages zur Verfügung und wollte sich das nicht von dem Mädchen nehmen lassen.
Kaum war Cassidy verschwunden, legte Dog Hand an Angels Schultern, aber sie drehte sich weg.
»Was ist?«, fragte er unschlüssig. »Du denkst doch wohl nicht etwa an ihn?«
»Wer weiß«, antwortete Angel verschmitzt. »Vielleicht geb ich mich ja immer noch nicht mit nur einem von euch zufrieden?«
»Ich wusste, ich hätte ihn auf der Stelle umlegen sollen!«, knurrte Dog.
»Wo hattet ihr eigentlich den gefüllten Tanklaster her?«, murmelte Angel, um das Thema zu wechseln.
»Den, den ihr Eric vor ein paar Monaten unterm Arsch weggeklaut habt?«, erwiderte Dog höhnisch. »Von unserer Ölquelle!«
»Eric hat eine Ölquelle!?«, fragte Angel erschrocken. »Mit Raffinerie? Wo? Seit wann?«
»Von den Chimeras. Ihr standet schon kurz davor, als die ihre Humvees geopfert haben, um eure Truppen loszuwerden. Ihr habt euch wie kleine Kinder über die beiden Trostpreise gefreut, während die ihre Quelle behalten durften und sicher irgendwann zurückgekommen wären«, erzählte Dog großspurig. »Wir sind zum Glück nicht so nachlässig gewesen und gaben ihnen den Rest. Seit dem sprudelt das Ding für uns. Viel kommt da nicht mehr raus, aber es hat gereicht, um STELLA einmal quer durch die Wüste zu schicken.«
Er unternahm einen zweiten Versuch, Angels Schultern zu massieren, und diesmal wich sie nicht zurück. Sie versuchte sich auszumalen, wie der Krieg zwischen Rangern und Vultures wohl verlaufen wäre, wenn die Sicarii ihnen nicht dazwischengefunkt hätten. Je länger Dog jedoch ihre verspannten Muskeln knetete, desto ferner rückten ihre Alltagssorgen, bis sie sich seinen starken Händen schließlich vollkommen ergab.
***
Als sich die Sonne viele Stunden später dem westlichen Bergrücken zuneigte, kehrten Angel und Dog sichtlich entspannt zu ihren Kameraden zurück. Butch hatte das Feuer bereits gelöscht und Kim die Spuren des Lagers weitestgehend beseitigt. Nachdem Angel den ganzen Tag über keinerlei feindliche Aktivität entdecken konnte, befahl sie ruhig und zuversichtlich den Aufbruch zur letzten Etappe in den unbekannten Norden.
Die Männer wechselten sich wie an den Tagen zuvor mit Sharons Trage ab. Äußerlich ging es ihr den Umständen entsprechend gut, aber sie sollte ihre Kräfte weiterhin schonen. Beinahe pausenlos entschuldigte sie sich für die Belastung, die ihre unüberlegte Expeditionsteilnahme für das gesamte Team mit sich gebracht hatte. Kim lief mit Faith vorneweg, während Angel und ihre vor Stolz strotzende Schülerin die Nachhut übernahmen. Cassidy hatte ihrem Bruder von der unerwarteten Entwicklung erzählt. Gemeinsam schöpften sie nun Hoffnung, Faith in den Augen der Ranger rehabilitieren zu können.
Im Licht des Vollmonds bei sternenklarer Nacht fiel es der Gruppe nicht schwer, den Bahnschienen zu folgen. Mit gefüllten Feldflaschen und den angenehmen Temperaturen hielt schnell eine gewisse Abenteuerromantik Einzug, die nicht einmal die wilden Tiere stören konnten, die sie den ganzen Weg über neugierig zu beobachten schienen.
***
In den frühen Morgenstunden erreichten sie den letzten Tunnel, der sie vom Feindesland trennte. Erschöpft von der anstrengenden Wanderung ordnete Angel ein paar Stunden Schlaf an. Es machte ohnehin keinen Unterschied, ob sie bei Tag oder Nacht durch die finstere Röhre marschieren würden.
Die Männer hatten den ganzen Tag schwer tragen müssen und durften alle gemeinsam rasten, die Frauen wechselten sich in Zweierteams beim Wache halten ab. Kim und Faith übernahmen die erste Schicht, aber kaum waren die anderen eingeschlafen, verließ Faith ihren Posten und meinte, sie werde sich den Eisenbahntunnel etwas genauer ansehen. Kim hatte eigentlich dieselbe Idee äußern wollen, fand sich aber schulterzuckend damit ab, dass Faith ihr zuvorgekommen war. Kurz darauf verschwand sie im Schatten der Betonröhre und kehrte erst nach drei Stunden wieder zurück.
Sie wirkte ungewöhnlich abgekämpft und verschwitzt, als hätte sie einen Marathonlauf hinter sich. Den Schmutz auf ihrer glänzenden Haut erklärte Faith mit dem eingestürzten Tunnel, der ihnen nach gut zweieinhalb Kilometern den Weg versperren würde. All ihre Versuche sich hindurchzukämpfen waren angeblich gescheitert. Niedergeschlagen akzeptierte Kim die düstere Nachricht. Sie hatte keinen Grund an der ausgesprochen fähigen und hilfsbereiten Amazone zu zweifeln. Stattdessen verließen sie gemeinsam die dunkle Röhre und untersuchten im grellen Tageslicht die Felswand nach geeigneten Aufstiegsmöglichkeiten.
Angel nahm im Zuge der Wachübernahme die Berichte von der Blockade frustriert zur Kenntnis. Sie glaubte Faith ohne eigene Überprüfung, doch die Aussicht auf die anstehende Klettertour ließ ihr förmlich das Blut in den Adern gefrieren. Nur Cassidy warf Faith misstrauische Blicke zu, die von ihr nicht unbemerkt blieben. Die Assassine dachte jedoch nicht mal im Traum daran, sich vor der übermütigen Teenagerin zu rechtfertigen. Stattdessen legte sie es scheinbar darauf an, ihre Sorgen zu vergrößern, indem sie nachdenklich in den finsteren Tunnel blickte, wann immer Angel und Kim die beiden aus den Augen verloren. Erst als Cassidy selbst nachsehen wollte, hielt sie Faith mit einem ernsten Kopfschütteln zurück. Gegen ihren Willen zu handeln hätte bedeutet, dass die gesamte Sache aufgefallen wäre. Daher nickte Cassidy lediglich und hoffte, einmal mehr das Richtige zu tun.
Im Laufe ihrer Wache lauschte sie angestrengt in den Eisenbahntunnel hinein und rechnete im Stillen mit einem bevorstehenden Angriff der Sicarii. Die Tatsache, dass sie Faith noch immer nicht über den Weg traute, erfüllte sie innerlich mit Stolz, denn sie war überzeugt, dass sie genau das tat, was Angel von ihr erwartete. Sie ließ der geheimnisvollen Bacchae etwas Spielraum, wie einem Hund an der Leine, und sammelte in der Zwischenzeit Informationen, die sie später zu einem großen Ganzen zusammensetzen würde.
Angel stolzierte unterdessen in der Mittagssonne an der hellgrauen Felswand auf und ab. Kim hatte bereits erste Sicherungsstifte in den Fels gehauen, an denen ein neongrünes Seil herunterhing. Da Cassidy aus einem Angel unbekannten Grund den ganzen Tag in dem kalten Tunnel verbrachte und der Rest ihres Teams schlief, wagte sie es, sich allein daran hochzuziehen. Es genügten jedoch schon ein paar Meter und ein furchtsamer Blick nach unten, bis ihr schwindelig wurde und sie sich nach einem dumpfen Aufprall am Boden wiederfand.
Zornig sah sie in den Himmel und verfluchte ihre irrationale Unfähigkeit, selbst kleine Höhen ohne feste Begrenzungen wie Treppengeländer zu überwinden. Ein zweites Mal griff sie entschlossen nach dem Seil. Diesmal vermied sie es, nach unten zu sehen, und starrte angestrengt auf das vor ihr liegende Wegstück. Zentimeterweise kämpfte sie sich den Berg hinauf, ohne auch nur einen Gedanken an die Gefahren zu verschwenden. Sie hatte keinen blassen Schimmer von echter Bergsteigertechnik, sondern zog sich apathisch mit all ihrer Kraft an dem grünen Seil hoch, an dem inzwischen nichts Geringeres als ihr Leben hing.
Eine halbe Stunde dauerte ihre persönliche Auseinandersetzung mit dem Gebirge und ihrer eigenen Schwäche, doch dann griffen ihre Hände plötzlich ins Leere. Sie hatte die Felskante erreicht, auf der Kim die erste Pause verbringen wollte. Ganz allein und ohne Hilfe! Triumphierend zerrte sie am letzten Seilstück, hob ihr rechtes Bein an und kletterte auf die rettende Flachstelle, die in diesem Augenblick für sie das Paradies auf Erden war.
Lange währte Angels Glücksgefühl jedoch nicht, denn sie hatte weder ihren Rucksack dabei noch Cassidy über ihre impulsive Aktion informiert. Bei einem furchtsamen Blick von der Felskante hinunter hätte sie um ein Haar das Gleichgewicht verloren und wäre abgestürzt. Niemals würde sie es allein zurückschaffen. Sie saß auf einer Flachstelle fest, auf der sie sich nicht einmal ausgestreckt hinlegen konnte. Fluchend lehnte sie sich an die Felswand und rieb mit den Fingerspitzen an ihren Schläfen, während sie nach einer Lösung suchte.
Zunächst wackelte sie an dem Seil und hoffte, dass es dreißig Meter unter ihr genügend Lärm verursachen würde, um Cassidy anzulocken. Zurückhaltend rief sie den Namen ihrer Schülerin, um nicht aus Versehen die anderen aufzuwecken. Das häufig unverblümt schadenfrohe Mädchen genügte vollkommen als Zeugin ihrer misslichen Lage; doch nichts geschah. Angel rief etwas lauter und konnte ein paar Sekunden später ihr eigenes Echo hören, aber Cassidy ließ sich immer noch nicht blicken. Stattdessen vernahm sie kurz darauf ein allzu bekanntes Morgengrunzen, einen sich öffnenden Hosenstall und das Geräusch des kleinen, männlichen Geschäfts. Sie krallte sich verkrampft an dem Haken fest und spähte über die Felskante. Direkt unter ihr stand Cole vor einem verholzten Busch und ging seiner morgendlichen Erleichterung nach. Unangenehmer hätte es für Angel wohl kaum werden können, trotzdem zog sie einen einzelnen Zeugen der ganzen Gruppe vor.
Erneut wirbelte sie das Seil umher, vergaß dabei aber, dass kleine Bewegungen an ihrem Ende dem Schlag eines Schwanenflügels am dreißig Meter entfernten anderen Ende vergleichbar waren. Der Strick traf Cole am Hinterkopf und ließ ihn kopfüber in den Busch stürzen. Mehr geschockt als verärgert rollte er sich zur Seite, riss seine Pistole aus dem Holster und suchte nach dem hinterlistigen Angreifer.
»Pssssst!«, zischte Angel. »Hier oben!«
Aufgrund des Sturzes war seine tarnfarbene Armeehose völlig eingesaut worden, was Cole die Zornesröte ins Gesicht trieb, während er sie auf dem Hintern sitzend begutachtete. Angel hingegen rollte mit den Augen. Ihr war dieser Zustand seiner Bekleidung nicht unbekannt. Cole murmelte einen unverständlichen Fluch, ehe er die linke Hand an die Stirn hielt und Angel auf der Felskante über sich entdeckte.
»Hilfst du mir vielleicht mal hier runter?«, rief sie ihm so leise wie möglich zu. Er rappelte sich auf und klopfte den Staub aus seiner Uniform. Dabei fiel ihm auf, dass er sich nicht nur mit seinen eigenen Ausscheidungen befleckt hatte, sondern auch noch ein neues Loch in seiner Hose klaffte, die bei seinem unfreiwilligen Rollmanöver an dem Strauch hängengeblieben war.
»Klar helf ich dir! Bleib, wo du bist!«, brüllte er lautstark, so dass Angel beinahe zum zweiten Mal das Gleichgewicht verloren hätte. Anschließend spurtete er zum Tunnel, nur um ein paar Minuten später mit dem gesamten Team zurückzukehren. »Da schaut! Sie hat es ganz allein geschafft!«
Sofort versteckte Angel sich in ihrer Stellung und schwor sich, Cole bei lebendigem Leibe die Knochen auszukochen und seinen Schädel als Kühlerfigur des Humvees zu benutzen!
»Angel?«, hörte sie Kim mit ihrem typisch sarkastischen Unterton rufen. »Soll ich dir dein Frühstück ans Bett bringen, oder isst du mit uns?«
In Angels Gedankenwelt verwandelte sich Coles Folter bei diesen Worten in einen Gemeinschaftseintopf. Wahrscheinlich würde Dog jeden Moment mit einstimmen und tatsächlich dauerte es keine Minute, bis er sich mit Cole ein Wortspielduell auf ihre Kosten lieferte.
Als sie kurz davor war, sich über die Kante zu beugen und den dreien die Pläne für ihre gesundheitliche Zukunft mitzuteilen, bemerkte sie auf einmal Bewegungen in dem Kunstfaserseil. Sie rechnete fest mit Kim, die sich trotz ihrer schadenfrohen Bemerkungen sofort auf den Weg gemacht hatte, doch weit gefehlt. Eine dunkelhäutige Hand griff blind nach dem letzten Stahlstift und einen Moment später zog sich Faith zu ihr hinauf. Sie formte einen Kreis aus Daumen und Zeigefinger in der Luft, um Kim am Boden die sichere Ankunft zu signalisieren und setzte sich anschließend neben Angel an die Felswand.
»Warum hast du das getan?«, wollte sie beinahe tadelnd wissen. Angel konnte nicht glauben, dass gerade die eiskalte Assassine zu ihrer Rettung gekommen war, aber aus irgendeinem Grund war sie sehr froh darüber. Faith zeigte nicht mal einen Anschein von Schadenfreude.
»Du kennst doch meine Höhenangst«, erwiderte Angel frustriert. »Irgendwann muss ich die doch mal loswerden.«
»Jeder hat irrationale Schwächen«, murmelte Faith nachdenklich. »Sie zu überwinden macht uns stark, aber es gibt für alles den richtigen Ort und die richtige Zeit.«
»Wovor hast du denn Angst?«
Faith blickte sie misstrauisch aus den Augenwinkeln heraus an. Sie wusste genau, neben wem sie saß, und wie schnell die Antwort sie in der Zukunft heimsuchen könnte.
»Menschen«, sagte sie und wendete dabei ihren Blick in die entgegengesetzte Richtung. »Menschenmengen, große Ansammlungen. Deswegen bin ich lieber allein.«
»Und was ist mit Dog und den Vultures? Wie ich gehört habe, hast du dich denen doch fast aufgedrängt.«
»Hmph ... die Vultures. Mittel zum Zweck«, spottete sie verächtlich. »Nach ein paar Tagen haben sie mir ganz von selbst Platz gemacht.«
Angel war schon dabei die nächste Frage zu formulieren und etwas tiefer in Faiths Vergangenheit zu graben, aber das ließ diese nicht zu. Sie erhob sich und blickte völlig freistehend gen Himmel, so dass Angel bereits vom Zusehen schwindelig wurde.
»Willst du wieder runter oder sollen wir gleich weiter nach oben?«
Nach einem abschätzenden Blick auf die Stellung der Sonne, und weil es bergauf erfahrungsgemäß leichter als bergab ging, entschied sich Angel für den Aufstieg. Damit entging sie vorerst auch den Sticheleien ihrer Kameraden, die sich noch immer zu amüsieren schienen.
Cassidy schlenderte unterdessen nervös vor der Felswand entlang und suchte nach Antworten. Erst die plötzliche Blockade im letzten Tunnelabschnitt und nun der unerwartete Alleingang. Warum war gerade Faith hinaufgeklettert? Wollte sie Angel vielleicht in einer verletzlichen Position manipulieren? Ein Blickkontakt mit ihrem Bruder bestätigte, dass ihn dieselben Sorgen plagten. Faith hatte alle Zeit der Welt gehabt, um Verstärkung zu rufen, die ihr zur Flucht verhelfen könnte - gleich nachdem sie Angel von der Flachstelle gestoßen hätte!
Die Geschwister waren entsprechend überrascht, als sie lautstark nach der Bergsteigerausrüstung verlangte und gemeinsam mit Angel den Aufstieg fortsetzte. Dabei sicherte Angel zunächst Faith beim Klettern und ließ sich anschließend von Victors Mörderin höchstpersönlich die Felswand hinaufhelfen. Ihre gefürchtete Höhenangst schien auf einmal nur noch wenig Einfluss auf sie auszuüben. Faith rief ihr immer wieder zu, dass sie keinesfalls nach unten sehen dürfe und wie weit sie es schon geschafft hätte. Kim brauchte sich um nichts mehr zu kümmern, sondern konnte den Rest der Truppe versorgen. Auch sie traute ihren Augen kaum, schöpfte aber nicht den geringsten Verdacht. Stattdessen freute sie sich aufrichtig über Angels Fortschritte bei der Bekämpfung ihrer Phobie, aufgrund derer sie häufig lange Umwege hatten in Kauf nehmen müssen. Irgendwie schien Caiden mit seiner Behauptung, dass sie alle einmal Faith ihr Leben schulden würden, Recht zu behalten.
Die größte Herausforderung der Kletterei bestand darin, Sharon festgeschnallt in ihrem Gurtzeug auf den Berg zu befördern, ohne sie an den scharfkantigen Felsen zu verletzen. Dazu verteilten sich Cole, Faith, Kim und die beiden Geschwister zur Sicherung entlang des Aufstiegs, während Dog das Fliegengewicht mit seinen Bärenkräften spielend leicht hochzog.
Nach ein paar Stunden hatten sie es geschafft und der goldbraun leuchtende Bergrücken war erreicht. Wehmütig blickten sie in der Abendsonne auf das bezwungene Gebirge im Süden, dass ihnen neun Tage lang unendliche Mühen abverlangt hatte und nun hoffentlich ihre Freunde vor den neugierigen Blicken der Sicarii versteckt hielt.
Im Norden erwartete sie das unwirtliche Feindesland aus vertrockneten Berghängen und ausgedorrten Ebenen. Bereits vom Gipfel aus waren die ersten Ausläufer der Schlucht zu erkennen, an der sie sich laut Jades Weisung orientieren sollten. Sie hatte ihren Ursprung in einer kleinen Felsspalte und diente in besseren Zeiten als Flussquelle, dessen Gletscherwasser eine Furche quer durch das Land schnitt. Die vermeintliche Brücke konnte Angel nicht mal mit Hilfe ihres Zielvisiers entdecken. Es gab auch keine ausgebauten Straßen in der Umgebung, die ihnen die Reise erleichtern würden. Die Autobahn von der zerstörten Stelzenbrücke musste in einem der Täler von der Bahnstrecke abgewichen sein. Lediglich die einsamen Eisenbahnschienen schlängelten sich ein paar Kilometer unterhalb ihrer Position aus den Felsen heraus und verschwanden in Richtung Nordwesten; direkt ins Sicariigebiet.
Nachdem die gesamte Ausrüstung sicher oben angekommen war und die Sonne unterging, erklärte Angel die Etappe erleichtert für beendet. Das ganze Team stimmte zu, dass sie sich nach der anstrengenden Kletterei eine romantische Nachtruhe auf der Spitze des Bergrückens verdient hatten. Faith gab zum Abschluss der entbehrungsreichen Reise sogar ein kleines, melancholisches Panflötenkonzert unter freiem Sternenhimmel.