2 - Schatten der Vergangenheit

 

 

Der nächste Morgen begann für Angel mit einem lauten Poltern auf der Ladefläche des Pick-ups, in dem sie die Nacht verbracht hatte. Kim war bereits mit den ersten Sonnenstrahlen auf den Beinen gewesen und stellte gemeinsam mit Butch ihre Ausrüstung zusammen. Immer wieder zischte sie vor Schmerz und fluchte darüber, dass sie sich den Granatsplitter in Silver Valley selbst aus der blutenden Wunde gerissen hatte. Angel machte sich mit einem schadenfroh klingenden Räuspern bemerkbar und stieß die Wagentür mit den Füßen auf. Nachdem sie ein wenig schlaftrunken aus dem unbequemen Kleintransporter geklettert war, streckte sie sich gähnend in der angenehm frischen Morgenluft. Etwas überrascht musterte sie das friedliche Flüchtlingslager. Sie hatte die ganze Nacht mit halboffenen Augen verbracht und jederzeit mit einem Angriff gerechnet. Argwöhnisch suchte sie den Himmel nach verräterischen Aufklärungsdrohnen ab, doch nicht mal echte Geier hatten sich bisher über Jaguar Bay eingefunden.

Bei ihrem Gang zur Versorgungsstation entdeckte sie Cassidy und ihren Bruder Caiden beim friedlichen Schlummern in den heruntergeklappten Sitzen des schweren Humvees. Ihrer Schülerin gefiel der mächtige Geländewagen so sehr, dass sie sich nicht einmal bei Nacht vom Steuer trennen mochte. Einen Augenblick lang überlegte Angel, ob sie mit Hilfe der Hupe eine unangekündigte Alarmübung veranstalten sollte. Nur das Trauma der Flüchtlinge, das sie nicht noch verstärken wollte, rettete die beiden Geschwister vor ihrem unsanften Morgengruß. Stattdessen strich sie Cassidy den blonden Pony wie einen Pinsel über das Gesicht, so dass die strähnigen Haare ihre Nasenspitze kitzelten und sie prustend aus ihren Träumen gerissen wurde. Auch ihr Bruder schreckte bei dem lauten Geräusch hoch und griff instinktiv nach seinem russischen Sturmgewehr zwischen den Sitzen.

»Guten Morgen meine Süßen!«, rief Angel schadenfroh in den Humvee hinein. Sie war sicherheitshalber etwas zurückgetreten, falls ihre Schülerin Rachegedanken hegen sollte. Stattdessen blinzelten sie die beiden aber nur finster an und quälten sich fluchend aus dem Geländewagen. Gemeinsam schlurften sie zur Versorgungsstation, wo Paul bereits die Rationen für die Reise verteilte. Ohne zusätzliche Wasserquelle reichten sie für genau drei Tage, was dem Konvoi auf dem Weg in die Berge nicht den geringsten Handlungsspielraum einräumte. Etwas abseits des modifizierten Campingtrailers stießen sie auf Sharon, die sich über eine Mulde gebeugt unkontrolliert übergeben musste. Sofort lief Cassidy auf sie zu und versuchte ihr zu helfen, doch die zierliche Rangerin wies sie zurück. Einen Augenblick später stand sie mit blassem Gesicht auf und meinte, dass ihr die ganze Aufregung der vergangenen Tage wohl nicht bekommen sei.

Bei der Versorgungsstation angekommen überließ Paul seiner Frau das Kommando und setzte sich mit der letzten Gebäckreserve zu seiner alten Feindin. Cassidy hätte die köstliche Süßspeise lieber den Kindern überlassen, doch Angel bestand darauf, dass die Geschwister den trockenen Sandkuchen aßen. Die Flüchtlinge mussten die nächsten Tage nur überleben. Cassidy dagegen würde mit großer Wahrscheinlichkeit in neue Kämpfe verwickelt werden und brauchte die Energie. Außerdem ließ sich so der bittere Kaffee besser ertragen, den ihnen Martha zum Frühstück spendierte.

Die Stimmung der Menschen hatte sich durch die erholsame Nacht deutlich gebessert. Nach wie kannte niemand außerhalb von Angels engstem Kreis das Ziel der Flüchtlinge, und dabei sollte es auch bleiben, aber überhaupt ein Ziel zu haben, hob die Moral des ganzen Konvois. Die Milizionäre aus Eagle Village waren unterdessen in die Reihen der Ranger eingegliedert worden und standen nun unter dem Kommando der Wüstenprinzessin Kimberley Peterson. General Monroes Adoptivnichte war für den gewissenhaften Umgang mit den Leben ihrer Untergebenen bekannt, was die kämpfende Truppe optimistisch in die Zukunft blicken ließ.

Unter den morgendlichen Gästen befanden sich auch Mary und Stan, die nach ihrem ersten, gemeinsamen Trauma unzertrennlich schienen. Der zottelbärtige Jäger aus Cassidys Dorf hatte sich den Oberschenkel gebrochen, als der sicariianische Kipplaster durch die Palisade von Silver Valley gekracht war. Nun pflegte Mary ihn als seine persönliche Krankenschwester. Neben seinem Stuhl lehnten Victors alte Krücken am Frühstückstisch, dank denen Stan sich wenigstens langsam vorwärtsbewegen konnte.

Als sich Caiden und Cassidy gerade die Finger nach dem köstlichen Morgenmahl ableckten, stürmte Cole gefolgt von Sharon an den provisorischen Campingtischen vorbei. Die zierliche Rangerin rief dem braungebrannten Einzelkämpfer etwas hinterher und klang dabei äußerst frustriert, während er scheinbar aussichtslos versuchte, von ihr loszukommen. Dann entdeckte er Angel zwischen den verdutzt zuschauenden Flüchtlingen und schlug mürrisch mit den Fäusten auf ihren Tisch.

»Sag ihr, dass ich allein arbeite!«, verlangte er lautstark und deutete auf Sharon, die ihm gefolgt war.

»Was ist dein Problem, verdammt nochmal?«, erwiderte sie, bevor Angel überhaupt die Chance zum Antworten erhielt.

»Mein Problem ist, dass ich allein arbeite! Was ist daran so schwer zu verstehen?«, fluchte Cole und unterstrich seine Entscheidung mit der abweisenden Haltung seiner Hände.

Mit verschränkten Armen spähte Angel an den beiden Streithälsen vorbei und blickte amüsiert auf die Milizionäre an den Frühstückstischen. Sie schienen ihrem Kommandanten keine allzu großen Chancen im Konflikt mit der geradezu niedlich wirkenden Rangerin einzuräumen. Durch zwei weitere Runden des ungleichen Schlagabtauschs erfuhr Angel, dass Sharon Cole auf seiner Sabotagemission begleiten wollte. Ohne die Turteltäubchen bei ihrem Balztanz zu stören, wägte sie ihre Argumente gedanklich gegeneinander ab und überprüfte dabei gleichzeitig Sharons äußerlichen Gesundheitszustand.

»Du nimmst sie mit.«

Urplötzlich kehrte Ruhe an den Tischen ein und beide Seiten starrten sie verblüfft an. Cole wirkte fast ein wenig dankbar über die Zwangspause, da ihm sein Brustkorb schwer zu schaffen machte, bis er in Angels Augen den Ernst ihrer Worte erkannte.

»Sharon ist ausgebildete Rangerin und hat in den letzten zwei Jahren eine Vielzahl von Einsätzen erfolgreich durchgeführt.«

Das zeigte Wirkung. Sharon verschränkte siegesbewusst die Arme und war sich sicher, dass die Diskussion damit beendet wäre. Doch diesmal durfte Angel die Generalskarte nicht ausspielen, wenn sie heute noch aufbrechen wollte. Eine Erklärung tat not.

»Außerdem kennt sie die Sicarii besser als jeder andere von uns. Möglicherweise kann sie Verhaltensmuster oder gar Kommandostrukturen erkennen und etwas über ihre Pläne in Erfahrung bringen.«

So langsam dämmerte Cole, dass er in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht erhielt. Triumphierend hakte sich Sharon bei ihm ein und führte ihn an seinen Milizionären vorbei zur Essensausgabe. Seine Schwäche für starke Frauen war allgemein bekannt und dementsprechend heiter fielen die Zurufe seiner Leute aus, die ihm mit unverhohlener Schadenfreude viel Erfolg wünschten.

Für Angel begann mit dem Ende des Frühstücks der angenehme Teil ihrer Arbeit. Die nicht ganz uneigennützige Abwälzung ihrer Verantwortung auf Kim ließ sie die Vorbereitung ihrer Mission wie zu besseren Zeiten genießen. Dank der Generalüberholung des Humvees in Silver Valley war der schwere Geländewagen in einem Top-Zustand und verlangte förmlich nach einer gefährlichen Reise tief in feindliches Territorium.

Nachdem die von Angel bei Nacht entsandten Späher ins zerstörte Jaguar Bay zurückgekehrt waren und die Flüchtlinge ihre Lager abgebaut hatten, versammelte sie die Menge zwischen den Einsatzfahrzeugen. Sie wollte eine motivierende Ansprache halten, wie es General Monroe häufig vor riskanten Einsätzen getan hatte, doch derartige Fertigkeiten lehrte einem das harte Leben in den Gangs nicht. Angels bloßer Anblick auf der Motorhaube des Humvees genügte glücklicherweise bereits, um die Menschen zum Schweigen zu bringen. Hoffnungsvoll starrten sie die Männer, Frauen und Kinder an.

»Seht euch um!«, rief sie ihren Leuten zu. »Seht euch genau um und vergesst nichts davon!«

Mit ausgestreckten Händen zeigte sie auf die verkohlten Gebäude, die eingerissenen Galgen, den Pfahl mit dem Holzadler und die Schwelfeuer unter den Leichenbergen. Aus den Reihen der Ranger und Milizionäre drang zustimmendes Raunen, die Zivilisten schlossen einander in die Arme und hätten sich am liebsten abgewendet, doch Angel bestand darauf.

»Die Sicarii mögen unsere Siedlungen zerstört haben, aber wir sind noch hier!«, fuhr Angel fort. Jetzt hatte sie Blut geleckt und stolzierte auf der Motorhaube hin und her. »Schon früher mussten wir Enklaven aufgeben, verloren sie an Gangs, die glaubten, uns besiegen zu können! Und wo sind sie jetzt? Wo sind die Chimeras? Die Red Dragons? Selbst die Vultures gibt es nicht mehr!«

Die Erwähnung ihrer eigenen Gang entlockte der sonst so distanzierten Kommandeurin ein ungewolltes Räuspern hinter vorgehaltener Hand, was die Stimmung merklich aufheiterte. Alle Flüchtlinge waren sich inzwischen einig, dass allein Angel sie zum Sieg über die verhassten Invasoren führen konnte.

»Ich werde euch sagen, wo sie sind! Begraben im Sand unter unseren Füßen! Und genau da werden wir auch die Sicarii hinschicken!«

Wütend stampfte sie bei ihren letzten Worten auf die Motorhaube, so dass der Geländewagen Staubwolken hustete und für einen kurzen Moment ins Schwanken geriet. Unterdessen waren die Leute nicht mehr zu halten.

»Angel! Angel! Angel!«, schallte es durch den Morgen, während sie wie ein vorzeitlicher Superstar von ihrer Bühne sprang, um ein Bad in der Menge zu nehmen. Sie hatte es geschafft, den Menschen ihre Hoffnung zurückzugeben.

»Noch höher kann man die Erwartungen in sie wohl nicht stapeln«, kritisierte Cole zurückhaltend den überschwänglichen Auftritt. Augenrollend hämmerte Kim ein paar Mal auf die Hupe von Butchs orangefarbenen Pick-up, um das Spektakel zu beenden und gab damit gleichzeitig den Befehl zum Aufsitzen. Lediglich Paul rümpfte angesichts des offensichtlichen Neids die Nase und begrüßte ihr ungewohntes Vorgehen außerordentlich.

»Angel! Angel! Angel!«, wiederholten Caiden und Cassidy grinsend den Chor, nachdem Angel sich auf den Beifahrersitz des Humvees zurückgezogen hatte. Ihre blitzenden Augen verrieten, wie unangenehm ihr die ganze Sache in Wirklichkeit gewesen war. Erst als sie im Geschützturm des schweren Geländewagens stand und ihre Lederjacke als Abfahrtssignal im Kreis herumschwenkte, war sie wieder in ihrem Element. Die Motoren der Jeeps, Pick-ups, Wohnmobile, Reisebusse, Mannschaftstransporter und des aus Silver Valley geretteten Tanklasters heulten gemeinsam auf. Eine gewaltige Staubwolke hüllte die zerstörten Ruinen von Jaguar Bay ein, als der Konvoi Kurs auf die ungewisse Zukunft setzte.

 

***

 

Für gut eine Stunde blieben die Fahrzeuge zusammen und bildeten eine lange Reihe, die sogar vorzeitliche Güterzüge vor Neid hätte erblassen lassen. Als erstes spalteten sich Cole und Sharon von ihnen ab. Die zierliche Studentin klammerte sich verängstigt auf dem Rücksitz seiner japanischen Rennmaschine fest. Das kleine Genie wäre nie freiwillig auf eine Mission mit dem leidenschaftlichen Biker gegangen, wenn sie jemand über sein Motorrad informiert hätte. Zumindest war es Cole gelungen, einen zweiten Sturzhelm für sie aufzutreiben; in gemütlich wärmendem Schwarz. Der Anblick allein genügte, um Angel den Schweiß ins Gesicht zu treiben. Mit einem letzten Abschiedsgruß reichte sie den beiden ein Stück Papier durch das offene Seitenfenster, auf dem sie den Weg zur verfluchten Militärbasis eingezeichnet hatte. Die Markierung stellte klar, dass genau dort der geplante Evakuierungspunkt der Flüchtlinge liegen würde. Anbei lag eine Anweisung, diese Karte den Sicarii unterzuschieben, sofern sich die Möglichkeit dazu bot. Im Fall einer Gefangennahme sollten sie den Plan nach einer glaubwürdigen Verhördauer preisgeben und so etwaige Verfolger von dem eigentlichen Konvoi ablenken. Derartige Sicherheitsmaßnahmen waren für Cole nichts Neues. Er verstaute das Papier unter seiner Lederjacke, ließ den Motor aufheulen und jagte auf der alten Autobahn in Richtung Süden davon.

Der Flüchtlingszug setzte unterdessen seinen Weg nach Nordwesten fort, angeführt von Butchs orangefarbenem Pick-up. Cassidy ging längsseits, damit Angel ihm ebenfalls die falsche Karte reichen konnte. Zwar wären die Freien Enklaven mit der Zerstörung des Konvois verloren, aber das genmanipulierte Wolfsrudel in den Bergen dürfte in diesem Fall einen würdigen Racheplan darstellen. Die extreme Geheimniskrämerei, mit der Angel den letzten Befehl erteilte, verdeutlichte ihrer Schülerin, für wie wahrscheinlich sie Verräter in den eigenen Reihen hielt.

 

***

 

Zur Mittagszeit verließ der Humvee den schützenden Konvoi und wählte einen Kurs, der sie nach Temple Town führte, wo Angel wie gewohnt die Nacht verbringen wollte. Sie hatte die Flüchtlinge am Vortag quer durch die Wüste gejagt, da sie keinesfalls mit derart vielen Verwundeten in den verlassenen Ruinen übernachten konnte, wie es die Ranger für gewöhnlich auf Reisen zwischen Silver Valley und Jaguar Bay taten. Etwas wehmütig blickten Angel, Caiden und Cassidy auf die langgezogene Staubwolke am Horizont, bis ihre Freunde endgültig davon verschlungen wurden. Cassidy hatte ihren Hund zurücklassen müssen, war aber überzeugt, dass sich Jesse gut um ihren treuen Gefährten kümmern würde.

Von einem Augenblick zum anderen verwandelte sich Angel wieder in die routinierte Kommandeurin, holte Landkarten und Spähberichte hervor und begann sie aufmerksam zu studieren. Misstrauisch musterte sie den Himmel über sich. Die völlige Lethargie der Sicarii bereitete ihr zunehmend Sorgen. Nicht einen Moment lang glaubte sie daran, dass die Invasoren sie friedlich ziehen lassen würden. Bisher hatten hinter jeder feindlichen Aktion gleich eine ganze Reihe von Absichten gestanden und so musste es auch mit der momentanen Untätigkeit sein.

In den frühen Abendstunden erreichten sie die Ruinenlandschaft rund um die alte Kirche, die ihnen schon so oft als mehr oder weniger sicherer Rastplatz gedient hatte. Bedächtig steuerte Cassidy den schweren Geländewagen auf der Hut vor einem Hinterhalt durch die vorzeitlichen Mauerreste, doch auch hier wurden Angels Hoffnungen auf ein paar Antworten enttäuscht.

Die ganze Fahrt über hatten sie kaum ein Wort miteinander geredet. Cassidy musste sich auf den für sie viel zu großen Humvee konzentrieren und ihr Bruder schien gedanklich weit entfernt zu sein. Da Angel auf der Straße ohnehin die Ruhe der Konversation vorzog, riskierte sie erst nach Entfachung des obligatorischen Lagerfeuers in der frühen Abenddämmerung ein Gespräch mit ihrer Schülerin.

»Und? Schon was in Erfahrung gebracht?«, murmelte sie ihr mit einem Stück Trockenfleisch zwischen den Zähnen zu, als Caiden gerade neues Feuerholz besorgte.

»Nein. Er redet nicht mit mir«, erwiderte Cassidy kopfschüttelnd.

»Hat er sowas öfter?«

Zum ersten Mal seit dem Aufbruch nahm Cassidy ihre Sonnenbrille ab und verstaute sie in der linken Brusttasche ihrer Uniform. Nachdenklich sah sie ihrem Bruder hinterher, der in den Ruinen nach trockenen Ästen und Zweigen suchte. An Trauer und Verlust waren sie aufgrund des harten Lebens in der postapokalyptischen Steppe gewöhnt. Daran konnte seine plötzliche Verschlossenheit nicht liegen. Irgendetwas anderes musste in Silver Valley mit ihm passiert sein. Etwas derart schockierendes, dass er nicht mal mit ihr darüber zu reden vermochte. Noch einmal schüttelte sie mit dem Kopf und blickte ihrer Ausbilderin in die braunen Augen.

»Er weiß selbst nicht, was geschehen ist«, antwortete sie. »Erst wenn er für sich eine Antwort gefunden hat, wird er sie mit mir teilen.«

Solch philosophische Anwandlungen war Angel von ihrer jungen Schülerin gar nicht gewohnt. Entsprechend verwundert verzog sie das Gesicht und hoffte, dass es nur ihre staubigen Bücher waren, die langsam auf sie abfärbten.

»Kann er kämpfen?«, fragte sie so taktlos, wie Cassidy es inzwischen am liebsten hatte. Etwas erleichtert darüber, dass Angel ihre Prioritäten richtig setzte und das Thema für den Moment beiseiteschob, nickte sie bestätigend.

»Gut. Dann darf er heute Nacht Wache halten«, entschied Angel mit ernster Miene. Zur selben Zeit war Caiden ans Lagerfeuer zurückgekehrt und blickte sie an wie ein getroffener Hund. Einspruch gegen Angels Anweisungen waren aber so gut wie aussichtslos. Daher fügte er sich notgedrungen dem Befehl.

Kaum war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden, legten sich Angel und Cassidy auf den Kirchenstufen schlafen und ließen Caiden mit seinen Gedanken allein. Die Müdigkeit nach der langen Fahrt war kein großes Problem für ihn. Seine Erinnerungen an das tragische Ende von Silver Valley hielten ihn wach. Immer wieder stellte er sich die gleiche Frage: Warum? Warum hatte Faith Victor ermordet und damit nicht nur das Schicksal der Freien Enklaven besiegelt, sondern sie beide zu Flüchtlingen gemacht?

»Vergiss, dass du mich je gekannt hast!«, waren ihre letzten Worte gewesen. Wie konnte er, nach allem, was sie zusammen durchgestanden hatten? Schon kurz nach seiner Versklavung durch die Vultures war er ihr aufgefallen; als unbeugsamer Bauernlümmel, der sich ohne Furcht auf die Mörder seines Vaters stürzte. Zehn Männer schlugen ihn daraufhin zu Boden und traten immer wieder auf ihn ein, bis Dog dazwischenging. Sie stand direkt hinter ihm - mit zwei funkelnden Klingen in den Händen, bereit, jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Faith, die dunkelhäutige Amazone, von der niemand so recht wusste, woher sie gekommen war. Angeblich hatte sie sich eines Nachts in die Festung geschlichen, dem sadistischen Anführer Eric eines ihrer unzähligen Messer an den Hals gehalten und um Aufnahme gebeten. Nun genügte ihr bedrohlicher Anblick allein, um die Vultures eingeschüchtert zurücktreten zu lassen.

An diesem Tag machte Dog ihm das Angebot seines Lebens: Beitritt oder Sklavenarbeit bis zum Tod. Mit diesen Worten wendete er sich ab, ohne Caiden auf die Beine zu helfen. Faith ließ ihre blitzenden Klingen zurück in ihre Lederscheiden gleiten und folgte ihm. Beinahe verängstigt machten ihnen die Vultures Platz und dachten nicht mal im Traum daran, sich noch einmal auf den am Boden liegenden Sklaven zu stürzen. Das verschwommene Bild der davonschwebenden Amazone hatte sich in Caidens Gedächtnis eingebrannt.

Während des darauffolgenden Treffens mit Eric lehnte Faith an der Wand hinter dem Anführer und ließ Caiden nicht aus den Augen. Fast schien es ihm, als fand sie Gefallen an seiner Bedingung, der Hinrichtung der Mörder seines Vaters, welcher der Riese mit seiner blonden Lockenmähne lachend zustimmte. Als Dog den Befehl zur Festnahme der Schuldigen gab, stürzten sich ihre vorherigen Kameraden wie Hyänen auf die beiden Todgeweihten. Caiden ließ sie auf eine provisorische Arbeitsplattform oberhalb der Festungsmauer führen. Genauer gesagt, einem einzelnen Holzbrett an zwei Seilen. Zu seiner Linken stand Dog, die Arme vor der Brust verschränkt. Erics rechter Hand war der aufgeregte Junge äußerst sympathisch und erinnerte ihn an eine gewisse lateinamerikanische Sklavin, die vor vielen Jahren ein ähnliches Exempel an ihren Peinigern statuiert hatte. Von der anderen Seite reichte Faith ihm einen blitzenden Kampfdolch, mit dem Caiden das Seil des Flaschenzugs durchtrennen sollte, an dem das dünne Brett gut zehn Meter über der Erde schwebte.

Auf dem Boden vor der Mauer hatten sich im Laufe der Zeit Unmengen von Stahlbetonresten angesammelt, deren herausragende Eisenstangen jeden unachtsamen Schritt bitter bestraften. In seiner Euphorie dachte Caiden nicht einen Moment an Gnade, zumal die Leiche seines Vaters noch immer in der heißen Nachmittagssonne ausblutete. Der Blick seines angeschwollenen linken Auges traf sich mit Faith, die ihn skeptisch abzuschätzen schien, als würde sie seine Absichten in Frage stellen. Der Mord rückte zunehmend in den Hintergrund. Vielmehr wollte er ihr seine Entschlossenheit beweisen, als er an dem drei Finger dicken Seil zu schneiden begann.

Faiths Klinge war ungeheuer scharf und glitt durch das Tau wie ein heißes Messer durch Butter. Viel schneller als erwartet kreischten die beiden Vultures auf und stürzten mit dem Gesicht voran in die Tiefe. Um ein Haar hätte Caiden den Moment des Triumphs verpasst. Seine Opfer wanden sich schreiend am Boden, bis sie nach ein paar Minuten nur noch hilflos wimmerten. Die Vultures um ihn herum klatschten Beifall und machten sich über ihre sterbenden Kameraden lustig, während Faith ausdruckslos ihren Kampfdolch zurückverlangte. Nach einem letzten Blinzeln mit verschränkten Armen folgte sie Dog beim Abstieg von der Mauer. Caiden wollte ihr nachgehen und unzählige Fragen stellen, doch er wurde von den Männern umzingelt, die ihm nun anerkennend auf die Schulter klopften und in ihren Reihen aufnahmen. Euphorisiert von seinem Sieg und der plötzlichen Achtung, die er sich jahrelang in seinem Heimatdorf gewünscht hatte, ließ er sich davon mitreißen.

 

***

 

Wachsam suchte Caiden den Horizont von Temple Town mit zusammengekniffenen Augen ab. Die Sicarii mussten von diesem Ort wissen, genau wie die Vultures. Warum wählte Angel die alte Ruinenlandschaft als Rastplatz aus? Legte sie es auf eine Konfrontation an, oder rechnete sie damit, dass die Invasionsarmee sie überall, nur nicht hier suchen würde? Cassidy hatte ihren Bruder vor den hin und wieder ungewöhnlichen Strategien ihrer Ausbilderin gewarnt. Wer sonst hätte seinen Todfeind um Hilfe bei einer Rettungsmission gebeten? Zumindest war das Lagerfeuer bei Einbruch der Dunkelheit von ihr gelöscht worden.

Zwei Stunden vor Sonnenaufgang schreckte Angel plötzlich hoch. Seufzend rieb sie mit den Händen über ihr verschmutztes Gesicht und lehnte sich an die Kirchenmauer, an der vor fünf Wochen Kim die Nacht verbracht hatte. Caiden trat aus der Ruine heraus und hockte sich ausdruckslos neben sie.

»Alles in Ordnung?«, murmelte er abwesend. Angel schien noch nicht ganz wach zu sein und zuckte überrascht zusammen.

»Ja ...«, versuchte sie sich selbst zu überzeugen. »War nur ein verrückter Traum.«

Caiden brummte eine Bestätigung und wollte seine Patrouille fortsetzen, da hielt Angel ihn zurück.

»Willst du dich nicht ein paar Stunden aufs Ohr legen? Ich kann ohnehin nicht mehr schlafen«, bot sie ihm an. Inzwischen machte sich seine Müdigkeit deutlich bemerkbar. Sichtlich erleichtert, nicht länger mit seinen Erinnerungen alleingelassen zu werden, nickte er Angel zu und legte sich in den warmen Schlafsack neben seine Schwester.

Noch immer etwas benommen torkelte Angel zum Humvee und kramte vorsichtig in ihrem beigefarbenen Armeerucksack. Sie hatte Cole nicht alle Sprengsätze mitgegeben. Eine Handvoll von Victors explosiven Spielzeugen behielt sie für sich. Angel wusste nicht, was sie in Brackwood erwarten würde, aber die baufälligen Ruinen, in denen die Sicarii bei Nacht schliefen, waren ihr gut in Erinnerung geblieben. Ein paar vorteilhaft platzierte Ladungen konnten Angels zahlenmäßige Unterlegenheit im Fall der Fälle zu ihren Gunsten ausgleichen. Sie plante weit mehr als eine simple Aufklärungsmission.

 

***

 

Im Morgengrauen erwachte Cassidy mit gewohnt spröden Lippen, die ihr bei Ausflügen in die Wildnis schon immer ein Dorn im Auge gewesen waren. Schlaftrunken krabbelte sie auf allen Vieren die Kirchentreppe hinauf, wo sie ihre Wasserflasche abgestellt hatte. Inmitten der Lichtstrahlen, die durch die zerstörten Mosaikfenster fielen, erblickte sie Angel, die in der schummrigen Morgendämmerung zu tanzen schien. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Cassidy die flüssigen Bewegungen als anmutige Dehnungsübungen, mit denen sie ihr morgendliches Nahkampftraining begann. Angel hatte das Oberteil ihrer Uniform und die löchrige Kevlarweste abgelegt. Als sie für einen Augenblick ins direkte Sonnenlicht trat, ließen Cassidy die tiefen Narben auf ihrem nackten Rücken instinktiv durch die Zähne zischen. Angel unterbrach ihre Übungen und hockte sich zu ihrer schockierten Freundin.

»Auch dir einen guten Morgen!«, versuchte sie ihre junge Schülerin aufzuheitern.

»Was haben die mit dir gemacht?«, fragte Cassidy mit ungläubigen Augen. In einer Mischung aus morbider Faszination und Neugier hätte sie die tiefen Wunden um ein Haar berührt, aber bevor sie die Chance dazu erhielt, stand Angel mürrisch auf und holte ihre Kleider.

»Im Vergleich zu deren Schicksal? Nicht viel«, schallte es von den Wänden des alten Kirchengemäuers, ehe sie zum Eingang zurückkehrte. »Erinnerst du dich an die Geschichte von Stellas Kühlerfigur in Form eines Schädels? Die meisten Narben sind von dem Bastard, dem die Rübe mal gehört hat. Ich hab dir doch erzählt, wie wir die Knochen ausgekocht haben, oder?«

Auf einen Schlag erübrigten sich weitere Erklärungen. Cassidy stürzte die Kirchentreppe hinunter am Lagerfeuer vorbei und erbrach kreidebleich die Reste des Abendessens. Caiden war inzwischen erwacht und sah seiner Schwester besorgt hinterher, bis Angel aus dem alten Gemäuer heraustrat und schadenfroh meinte, »Tja, ich schätze sie weiß, wie man eine gute Suppe kocht.«

Nach einem derartig unappetitlichen Morgengruß hielt sich das Frühstück in überschaubaren Grenzen. Schon fünfzehn Minuten später holperte der schwere Geländewagen aus der Ruinenlandschaft heraus, was Cassidy nicht unbedingt dabei half, wieder Farbe ins Gesicht zu bekommen. Den ganzen Tag lang warf sie ihrer hinterhältigen Ausbilderin giftige Blicke zu, die sich über jeden einzelnen zu amüsieren schien.

 

***

 

Nach großzügigen Erholungspausen erschien in den späten Nachmittagsstunden der riesige schwarze Fleck namens Black Forrest am Horizont, den Angel vor zwei Wochen schon einmal auf der Suche nach ihrer Schülerin durchquert hatte. Die beiden Geschwister sahen die verbrannte Waldfläche von den Ausmaßen eines kleinen Landes dagegen zum ersten Mal aus der Nähe. Mit dem Zusammenbruch der Zivilisation verschwanden auch die organisierten Feuerwehren. Unscheinbare Brandherde entwickelten sich innerhalb von Tagen zu unaufhaltsamen Feuerwalzen, die Menschen, Tiere und ganze Städte verschlangen. Black Forrest war ein Massengrab der vorzeitlichen, selbsternannten Hochkultur. Ein Symbol für den unbeschreiblichen Verlust von Leben, der sich binnen weniger Jahre überall auf der Welt ereignet hatte.

Bei ihrem letzten Besuch zwang Angel die Eile den unheimlichen Forst bei Nacht zu durchqueren, aber das wollte sie den eingeschüchtert aus den Fenstern blickenden Geschwistern ersparen. Außerdem benötigten sie alle drei eine Rast, weshalb Angel sie zu einer alten Blockhütte am Rande des Waldes führte, die von den Rangern als versteckter Rastplatz vor dem Niemandsland errichtet worden war. Die verkohlten Balken der Außenverkleidung stellten eine perfekte Tarnung zur verbrannten Umgebung dar und mit Hilfe einer mattschwarzen Kunststoffplane wurde auch der treue Humvee nahezu unsichtbar.

Im Inneren erwarteten sie harte Holzpritschen ohne jeglichen Komfort, die aber kombiniert mit den dazugehörigen Stoffdecken einen angenehmen Unterschied zum unbequemen Steppenboden darstellten. Bei näherer Betrachtung im Taschenlampenlicht fiel jedoch die allgemeine Unordnung der Hütte auf.

»Jemand hat in meinem Bettchen geschlafen!«, kommentierte Cassidy das offensichtliche Durcheinander.

»Jemand hat aus meinem Becherchen getrunken!«, stimmte Caiden mit ein, woraufhin die Geschwister gemeinsam lachen mussten.

Angel fand die Aussicht auf unangemeldeten Besuch alles andere als amüsant und zückte ihre Pistole.

»Ihr bleibt hier!«, befahl sie mürrisch, verließ das Haus und schlug hinter sich die Tür zu, als wolle sie von weiteren Kommentaren der beiden verschont bleiben. Caiden und Cassidy verging das Gelächter jedoch augenblicklich, als sie den Zettel sahen, der mit einem rostigen Messer an die Innenseite der Tür genagelt worden war. Er zeigte eine symbolisch aufgemalte Sonne, die die Herrschaft über die Erde verlangte. Eine Vielzahl unwürdiger Strichmännchen lag tot auf dem Boden verteilt. Dazwischen kniete eine kleine Gruppe Männer, um deren Köpfe sich eine Schlange gelegt hatte und die zu dem brennenden Stern am Himmel beteten.

»Snakes«, kommentierte Angel knapp die Skizze, nachdem sie von den Geschwistern zurückgerufen worden war, und schleuderte das Papier zusammengeknüllt aus dem Fenster. »Diese Spinner haben mir gerade noch gefehlt.«

Unwillkürlich griff Cassidy nach der längst verheilten Schussverletzung an ihrem Hals, die sie im Gefecht mit den Schlangenanbetern in Temple Town erlitten hatte.

»Die waren aber nicht erst gestern hier«, versuchte Caiden sie zu beruhigen. »Bei dem ganzen Staub auf den Tischen und Bänken muss das einige Wochen her sein.«

»Black Forrest ist eine einzige Dreckschleuder«, erwiderte Angel kopfschüttelnd, jedoch nicht, ohne eine gewisse Anerkennung für seine Beobachtungsgabe in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen. »Jeder noch so kleine Windhauch verteilt den Ascheteppich kilometerweit.«

Nachdem sie die kalte Feuerstelle und den Grillrost untersucht hatte, fügte sie aber erleichtert hinzu, dass die religiösen Fanatiker schon vor einigen Tagen weitergezogen sein mussten. Wahrscheinlich waren sie genau wie die Ranger auf der Flucht vor den Sicarii.  Ein großes Feuer blieb aufgrund des weithin sichtbaren Lichts dennoch außer Frage. Angel erlaubte lediglich ein paar Kerzen zu entzünden, mit denen sie sich etwas Tee und drei Tassen von Marthas berühmter Hühnerbrühe aufwärmten.

Die Nacht verlief ruhig. Der tote Wald war bekannt für seine lähmende Stille, die einem die Luft abzuschnüren schien. Jedes noch so leise Knistern verwandelte sich schnell in eine feindliche Armee oder ein blutrünstiges Monster direkt vor der Tür. Dazu gesellten sich die ganz persönlichen Erinnerungen, die in der Dunkelheit die Kontrolle über das Unterbewusstsein an sich rissen.

Angel erwachte mehrfach beim Anblick des explodierenden Wüstenschlachtschiffs und Caiden wurde abermals von Faiths Mord an Victor verfolgt. Cassidy plagte das Trauma ihrer Entführung durch die Sicarii. Nicht mal während der Gangüberfälle auf ihr Dorf hatte sie sich derart schutzlos und verletzlich gefühlt. Caiden war immer für sie da gewesen. In Brackwood war sie allein unter Fremden, die zwei Tage lang nichts anderes zu tun hatten, als sich die schlimmsten Zukunftsszenarien auszumalen. Ohne Jesse hätte sie vermutlich einen Nervenzusammenbruch erlitten.

Der Morgen stellte für alle drei die herbeigesehnte Erlösung ihres halbwachen Alptraums dar. Nach einem kurzen Frühstück aus Zwieback und zum zweiten Mal aufgebrühten Teebeuteln steuerte Angel den schweren Humvee in den unheimlichen Black Forrest hinein. Insgeheim war Cassidy froh, den Geländewagen in dem Massengrab nicht selbst fahren zu müssen, ließ aber trotzdem schmollend Kritik an der Entscheidung verlauten.

Den ganzen Tag über stand Caiden im Geschützturm; jederzeit bereit einen eventuellen Hinterhalt zu vereiteln, während seine Schwester durch die Heckklappe nach heimlichen Verfolgern Ausschau hielt. Angel wählte diesmal eine alternative Route und vermied die vorzeitlichen Hauptverkehrsadern. In dem lückenlosen Ascheteppich auf den Nebenstraßen hätten andere Fahrzeuge oder Wanderer deutliche Spuren hinterlassen und würden sie so vor möglichen Fallen warnen. Diese äußerst langsame Art des Reisens vergrößerte natürlich auch das Risiko sich zu verirren, weshalb Angel regelmäßige Pausen zur Orientierung einlegte.

Die zähen Stunden der unbequemen Fahrt forderten einen hohen Tribut. Millionen von kleinsten Aschepartikeln ließen die Augen tränen und brannten im Hals. Angel ertappte sich dabei, wie sie ihre Augen immer länger geschlossen hielt und manchmal erst im letzten Moment die Kurve bekam. Sie musste etwas unternehmen, um die lähmende Stille zu lindern.

»Hier soll es passiert sein«, sagte sie zur Nachmittagszeit und blickte Ausschau haltend aus den Fenstern. Der Humvee kämpfte sich gerade durch ein in Flammen aufgegangenes Sägewerk, das der Feuersturm bis auf die Grundmauern niedergebrannt hatte. Nur die schweren Maschinen hatten dem Brand trotzen können und ihre verkohlten Sägeblätter erhoben sich wie Mahnmale aus den Ruinen.

»Was denn?«, fragte Cassidy.

»Hier hat Cole angeblich die Bewohner von Black Forrest getroffen.«

»Hier leben Menschen!?«, wunderte sich Caiden und steckte dazu seinen Kopf durch das Turmluk.

»Mh-hm«, nickte Angel. »Nachdem Dog ihn aus den Vultures verbannt hatte, musste er Black Forrest durchqueren, um unser Territorium zu verlassen, bevor ihn seine Späher einholen würden.«

»Wieso hat Dog ihn eigentlich rausgeworfen?«, fragte Caiden.

»Das ist eine lange Geschichte«, wiegelte Angel ab. »Viel wichtiger ist, dass er mit gebrochenen Beinen und leerem Tank unterwegs war. Angeblich haben ihn die Menschen von hier wieder gesund gepflegt und vor den Vultures geschützt, bis er seinen Weg fortsetzen konnte.«

»Dann scheinen die doch ganz nett zu sein«, sagte Caiden und entspannte sich etwas am Dachgeschütz.

»Mh-hm«, bestätigte Angel seine Einschätzung und schwieg, bis Cassidy sich von der Rückbank nach vorn lehnte und ihr Bruder ebenso neugierig durch das Dach blickte. »Naja ... die wollten von ihm eine gewisse ... Bezahlung. Nur sind die Bewohner von Black Forrest Überlebende des großen Feuers, das diese Gegend zerstört hat.«

»Wie haben die das geschafft?«, wunderte sich Cassidy.

»Vielleicht gibt‘s hier alte Bunkeranlagen«, vermutete Caiden.

»Niemand weiß, wie sie überlebt haben. Darüber sprechen sie nicht. Aber man erkennt sie sofort, denn sie sehen aus ...« Angel holte so tief Luft, wie es ihre gereizten Lungen gestatteten, und zeigte aus dem Fenster. »... wie der Wald selbst. Schwarze, verkohlte Haut und aschfarbenes Haar. Ihre Kleidung hat sich in ihr Fleisch gebrannt, so dass sie sie seit Jahrzehnten nicht ablegen konnten. Wer sie einmal gesehen hat, beschreibt sie als bis zur Unkenntlichkeit entstellte Kreaturen. Als Monster, wie sie nur aus einem grausamen Märchen stammen können. Darum waren sie mindestens ebenso froh, dass Cole sich in ihrem Wald verirrt hatte, wie er, dass ihm jemand half. Um seine Schuld zu begleichen, musste er ...« Angel unterbrach ihre Erzählung abermals und schluckte schwer, als würde sie es kaum übers Herz bringen, Coles dunkelstes Geheimnis auszuplaudern. »Musste er mit jeder ihrer hässlichen Frauen ein Kind zeugen, damit ihre zukünftige Generation ein besseres Leben außerhalb dieses unheimlichen Massengrabs führen könnte.«

Weder Cassidy noch ihr Bruder gaben einen Laut von sich. Beide blickten fassungslos auf die missgebildeten Bäume am Wegesrand und versuchten sich auszumalen, wie die Bewohner von Black Forrest aussahen. Als sie ihre Gedanken weitertrugen und sie schon fast bei der Stelle angelangt waren, bei der es um Coles Bezahlung seiner Schulden ging, hörten sie Angel plötzlich leise lachen.

»Das ist doch nie passiert!«, rief Caiden empört vom Dach herein.

»Hier lebt in Wahrheit niemand, oder?«, fragte Cassidy zögerlich.

»Nein!«, erwiderte Angel und wischte sich beim Anblick ihrer schockierten Schülerin eine Träne aus dem Auge.

Cassidy verzog mürrisch das Gesicht und setzte sich trotzig auf die Rückbank, ohne noch ein weiteres Mal aus dem Heckfenster zu sehen. Auch Caiden sicherte das Dachgeschütz und lehnte sich betont entspannt zurück. Keiner von beiden wollte sich noch länger von Angels Geistergeschichten einschüchtern lassen. Und trotzdem genügte schon ein kurzer Tritt auf die Bremse oder ein argwöhnisches Stirnrunzeln, um die Geschwister in der unheimlichen Gegend wieder in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen.

Eine Stunde vor Einbruch der Abenddämmerung tauchte endlich der langersehnte Waldrand am Horizont auf. Erleichtert tauschte Angel mit Cassidy die Plätze und konzentrierte sich auf die Suche nach einem geeigneten Rastplatz. Da sie sich nun in ehemaligem Vulturegebiet befanden, beteiligte sich Caiden am Studieren der Karten. Sein erster Einsatz fand in dieser Gegend statt und er erinnerte sich an eine verlassene Farm, die Faith und ihm Schutz vor den überraschend angreifenden Sicarii geboten hatte.

Als die Sonne sich langsam dem Horizont näherte und sich die Temperatur auf ein erträgliches Maß reduzierte, erreichten sie die Überreste des alten Gutshofs. Angel gefiel das verrottete Herrenhaus, da es sich hervorragend vom Dachboden aus verteidigen lassen würde. Bei näherer Betrachtung offenbarten sich unzählige Einschusslöcher, kürzlich zerstörte Möbel und frisch zerbrochene Fensterscheiben. Caiden erklärte ihnen, dass Faith und er an diesem Ort zum ersten Mal auf die Sicarii getroffen waren. Im Glauben daran, dass lediglich eine der Scavengergruppen aus den Großstädten den Aufstand probte, verbrachten sie hier die Nacht, um am nächsten Tag in den nördlichen Vulturelagern nach dem Rechten zu sehen. Ursprünglich sollten Faith nur drei erfahrene Männer begleiten, aber Dog hielt es für klug, ihr den Neuen mitzugeben, auf dass er von ihr lernen würde. Außerdem schien sie während seines schmerzhaften Sklavenaufstands sehr von ihm angetan gewesen zu sein. Umsomehr wunderte es den Hünen, dass sie auf einmal vehement gegen diese sogenannte Zusatzbelastung protestierte. Dogs Entscheidung stand jedoch fest und dementsprechend frustriert nahm sie den neuen Rekruten mit in die Wüste.

Den ganzen Tag lang hatten sie nicht ein Wort gesprochen und Caiden begann allmählich, die Schuld für ihren unvorhersehbaren Sinneswandel bei sich selbst zu suchen. Als bei Einbruch der Nacht auch noch ein Sandsturm über der Steppe aufzog, schlugen sie ihr Lager im Schutz des Dachbodens auf. Die  erbarmungslose Naturgewalt beschränkte die Sicht außerhalb des Herrenhauses auf wenige Meter. Wie aus heiterem Himmel befahl Faith plötzlich, dass Caiden mit seinen neuen Kameraden den Schlafplatz bewachen sollte, während sie einem Geräusch aus der Umgebung nachgehen wollte. Cassidys Bruder vermochte sich beim besten Willen nicht vorzustellen, wie sie innerhalb des heulenden Sturms etwas anderes als den Wind hören konnte. Da sein verletztes Auge und der dicke Verband um den Kopf aber noch immer seine Sinne trübten und er, genau wie die übrigen Vultures, ohnehin kein Mitspracherecht hatte, blieb er folgsam nickend zurück.

Mit jeder verstreichenden Minute wurde er unruhiger, doch ohne Uhr ließ sich die Zeit nur schwer einschätzen. Nach einer gefühlten halben Stunde hielt Caiden es nicht mehr aus und wollte sie suchen gehen, obwohl ihm die anderen Männer mit deutlichen Worten davon abrieten.

Im tosenden Sandsturm konnte er kaum etwas erkennen und schlich sich vorsichtig an der staubigen Außenmauer des Haupthauses zum Buggy, wo er Faith am ehesten vermutete. Der Motor war kalt und Faith nirgends zu sehen. Nach ihr zu rufen war inmitten des Sturms ebenfalls zwecklos. Als er schon beinahe erfolglos den Rückweg angetreten hätte, hörte er die nahe Scheunentür im Wind gegen den Türrahmen schlagen. Caiden war sich sicher, dass der Eingang bei ihrer Ankunft mit einem schweren Balken versperrt gewesen war, doch bevor er seiner Vermutung nachgehen konnte, zischten plötzlich Kugeln an ihm vorbei. Seine getrübten Sinne brauchten einen Moment, ehe er den Schusswechsel im Herrenhaus zu orten vermochte und die Lichtblitze der Feuerstöße durch die zerbrochenen Fenster erblickte.

Ohne lange nachzudenken, lehnte er sich gegen den Sandsturm auf, um seinen neuen Kameraden zu Hilfe zu eilen. Die Vultures hatten das Lagerfeuer gelöscht und seinen Augen fiel es schwer, in der Dunkelheit Freund von Feind zu unterscheiden. Erst das wilde Kampfgeschrei und ziellose Feuern ließ eine eindeutige Identifizierung zu. Die unbekannten Angreifer kämpften im Gegensatz zu den Vultures diszipliniert und vor allem leise. Lediglich Caidens anfängliche Abwesenheit wurde ihnen zum Verhängnis, da sie die zurückgebliebenen Vultures in das Dachgeschoss verfolgten und sie ihm somit den Rücken zukehrten. Mit ein paar gezielten Schüssen aus seiner Pistole streckte er die Sicarii auf kurze Distanz nieder, doch einer der Angreifer schleuderte zuvor noch eine Handgranate die Treppe hinauf, deren Explosion die Nacht kurzzeitig hell erleuchtete.

Sofort wollte Caiden nach seinen Kameraden sehen, da spürte er den kalten Lauf eines Gewehrs auf seinem Genick. Er hatte einen der Sicarii übersehen, der sich in einer dunklen Ecke versteckt hielt. So schnell hatte der frischgebackene Vulture nicht mit seinem Ableben gerechnet und suchte fieberhaft nach einem Ausweg, doch Faith kam ihm zuvor. Ein kurzes, schmerzhaftes Stöhnen und das Geräusch einer rasiermesserscharfen Klinge, die durch blutiges Fleisch getrieben wurde, schon sackte der Mann leblos zu Boden.

»Wo zum Teufel warst du?«, fragte Caiden und wunderte sich selbst über den barschen Ton gegenüber der berüchtigten Killerin. Sie antwortete ihm nicht sondern stieg die Treppe hinauf, um nach ihren Kameraden zu sehen.

Einer der drei Vultures war bereits im Erdgeschoss getötet worden, einen anderen hatte der Sprengsatz augenscheinlich sofort umgebracht. Der einzige Überlebende wies ebenfalls schwerste Verletzungen auf. Unzählige Metallsplitter hatten seinen blutgetränkten Körper durchbohrt und er wand sich vor Schmerz stöhnend auf dem Dachboden. Faith blickte ihren erschütterten Rekruten einen Augenblick lang an. Dann zog sie ohne zu fragen die Pistole aus seiner Hose und versetzte dem Vulture einen Gnadenschuss in den Kopf, ehe sie Caiden die Waffe mit einem selbstverständlichen Gesichtsausdruck zurückgab.

Er erinnerte sich noch lebhaft an die Fassungslosigkeit, mit der er Faith hinterhersah, die scheinbar völlig unbeeindruckt die Treppe hinunterstieg und die Angreifer durchsuchte. Da die meisten Vultures mit geradezu hinterwäldlerischer Ausrüstung ausgestattet waren, freute sie sich über die reichen Gaben der Sicarii. Caiden wies sie sein schwarzes, russisches Sturmgewehr zu, dem letzten Nachfolgemodell der berühmten Kalaschnikow, dessen Präzision und Feuerkraft er schon bald sehr zu schätzen lernte.

Faith hatte nie den Anschein erweckt, etwas mit dem Überfall zu tun gehabt zu haben. Eine knappe Erklärung an Dog mit der Aussage, dass, wer auch immer die Vultures angreifen würde, seinen Weg gen Süden fortsetzte, war alles, was sie zu dem Vorfall zu sagen hatte. Durch ihren Mord an Victor rückten die Ereignisse jedoch in ein gänzlich anderes Licht.

Caiden hatte sich erneut für die Nachtwache einteilen lassen und stahl sich auf den Spuren von Faith davon, als er überzeugt war, dass Angel und Cassidy schliefen. Die im Sandsturm gegen die Lagerhalle schlagende Holztür war sein erstes Ziel. Sein Gedächtnis hatte ihn nicht im Stich gelassen. Noch immer lag das schwere Kantholz neben dem Eingang, das sich keinesfalls von selbst gelöst haben konnte.

Im Inneren der Scheune stapelten sich alte Strohballen, in denen wahrscheinlich unendliche Kolonien von Krabbeltieren ein zu Hause gefunden hatten, weswegen Caiden sie vorerst ignorierte. Stattdessen leuchtete er mit seiner Taschenlampe auf der Suche nach Auffälligkeiten an den Wänden entlang. Zwischen einer Vielzahl von verrotteten Overalls, wie sie bei Farmarbeitern üblich gewesen waren, entdeckte er eine kleine schwarze Ledertasche. Zwar war das hochwertig wirkende Etui verstaubt wie alles andere in der Scheune, wirkte jedoch völlig deplatziert. Vorsichtig öffnete Caiden die im Taschenlampenlicht glänzende Silberschnalle und zog einen zusammengefalteten Briefumschlag heraus, der mit einem Wachssiegel verschlossen worden war. Das Siegel zeigte den Kopf einer Frau mit verbundenen Augen. Aus irgendeinem Grund kam ihm dieses Symbol bekannt vor, doch er konnte es beim besten Willen nicht zuordnen.

 

Jade,

 

Infiltration erfolgreich. Vultures liegen in Stellungskrieg mit einer Gruppe namens Ranger. Situation aussichtslos. Oberhaupt Eric unangefochten, brutal, primitiv. Empfänglich für Phase 2. Eliminierung alternativer Anführer und Schwächung der Moral erforderlich. Zerstörung des sogenannten Flaggschiffs ‚STELLA‘ sollte genügen. Zugriff auf Befehlshierarchie möglich. Erwarte uns im Planquadrat SC13.

 

Lang lebe das Imperium,

Faith

 

Die Nachricht traf Caiden wie ein Dolchstoß mitten ins Herz. Am liebsten hätte er das Blatt Papier auf der Stelle zerrissen und verbrannt. Das war der Beweis, nachdem er gesucht hatte! Sämtliche Hoffnungen, dass seine Freundin vielleicht zu ihrem Verrat gezwungen worden war, fielen zusammen wie ein instabiles Kartenhaus inmitten eines Sandsturms. Damit nicht genug: Die versteckte Flaschenpost bewies eindeutig, dass Faith den Sattelschlepper mitsamt ihm und Dog in eine Falle führen wollte. Doch was bedeutete Phase zwei, für die Eric angeblich empfänglich sei? Und warum musste Dog zuvor aus dem Weg geräumt werden?

Auf dem Rückweg zum Lagerplatz fühlte Caiden, wie das sorgfältig zusammengefaltete Papier in seiner Brusttasche immer schwerer wurde. Die brennende Frage, ob er seiner Schwester davon erzählen sollte, ließ ihn den aufrecht stehenden Schatten neben der Treppe zum Obergeschoss vollkommen übersehen.

»Wir zwei haben sehr unterschiedliche Ansichten über die Durchführung einer Nachtwache«, tadelte ihn eine leicht kratzige Stimme aus der Dunkelheit. Erschrocken riss Caiden sein russisches Sturmgewehr hoch und zielte in die Richtung der Silhouette, bis er Angels misstrauisches Gesicht im Licht seiner Taschenlampe erkannte, die mit verschränkten Armen auf ihn zu stolzierte. »Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«

So schnell hatte er nicht mit einem Verhör gerechnet. Sofort fielen ihm Dogs Horrorgeschichten über die allzu konventionellen Foltermethoden der legendären Vulturekommandeurin ein. Insgeheim hoffte er auf Rettung durch seine Schwester, vor deren Augen Angel ihm wohl kaum die Fingernägel ausreißen würde.

»Nein. Es waren vielleicht doch nur Scavenger«, antwortete er kopfschüttelnd und versuchte, seine innerlich bebende Stimme so ruhig wie möglich wirken zu lassen. Der Zettel drückte dabei mit dem Gewicht eines Schmiedeambosses auf seine Brust. Als Angel auch noch um ihn herum schlich und argwöhnisch seine Körperhaltung musterte, stellten sich seine Nackenhaare auf und er wäre am liebsten davongelaufen.

»Du solltest jetzt schlafen gehen«, befahl sie flüsternd. Nickend wendete Caiden sich ab und spürte, wie ihn misstrauische Blicke die Treppe hinauf verfolgten. Kaum war er auf dem Dachboden außer Sichtweite, wischte er sich leise keuchend den Angstschweiß von der Stirn und betete innerlich, dass Angel seine Anspannung in der Dunkelheit nicht bemerkt hatte. Von nun an würde er die verräterische Botschaft nicht mehr aus der Hand legen, bis er in Brackwood ein paar Antworten erhalten hätte.