10 - Revelations
Angel schwankte am nächsten Morgen ungeduldig von einem Bein aufs andere. Die Sonne war vor zwei Stunden aufgegangen, ihr Team hatte bereits ausgiebig gefrühstückt und vertrieb sich nun die Zeit mit Minigolf und Tischfußballspielen in der Entspannungssektion. Nur Cassidy ließ sich nicht blicken. Sie war die Nacht über bei Violet geblieben, von der ebenfalls niemand etwas gesehen oder gehört hatte. Irgendwann hielt Angel es nicht mehr aus, stampfte besorgt die Stufen zur zweiten Etage hinauf und hämmerte an das braune Metallschott.
»Öffnen!«, maulte Jiaos Stimme aus dem Quartier. Angel traute ihren Augen kaum, als sie den Raum betrat. Die junge Chinesin rollte sich mit einem Seidennachthemd bekleidet auf der ausgefahrenen Liege in Richtung der Tür. Die Bettdecke lag auf dem Boden neben ihr, zusammen mit einer leeren Getränkeflasche und einer umgekippten Schale Kartoffelchips. Dieselben Snackkrümel begruben Cassidy unter sich, die sich in einer dünnen Tagesdecke zusammengekuschelt hatte. Der gebürstete Couchtisch aus Edelstahl war übersät mit halbleeren Flaschen, Glasschüsseln und Speichermodulen aus Jiaos Musiksammlung. Den ganzen Raum erfüllte ein Duftgemisch aus Kartoffelaroma und Schweiß, das Angel an die hygienischen Zustände bei den Vultures erinnerte.
»Habt ihr zwei nicht was vergessen?«, fragte sie und tippte dabei auf den mattschwarzen Chronometer an ihrem Handgelenk. Unter den Worten ihrer Ausbilderin riss Cassidy die Augen auf und fuhr aus den Federn.
»Oh verdammt! Ist es schon Morgen?«
»Allerdings! Macht doch mal eure Fenster auf!«, erwiderte Angel. »Ich weiß ja nicht, wie weit dieses Arnac weg ist, aber wenn wir vor der Mittagshitze ankommen und bei Tageslicht wieder heimkehren wollen, sollten wir uns vielleicht beeilen!«
»Vi! Wie weit ist das? Schaffen wir das heute noch hin und zurück?«, rief Cassidy aufgeregt und sprang unbeholfen in ihre neue Jeanshose hinein. Jiao zog sich stattdessen frustriert das Kissen über den Kopf und tat so, als würde sie versuchen weiterzuschlafen.
»Wie seid ihr beide denn drauf?«, murmelte sie dumpf, ehe sie aus dem Bett kroch und die zwei verständnislos ansah. »Mittagshitze? Heute noch zurück? Der Wagen hat Klima und in Arnac schlafen wir bei unserem Kontaktmann!«
Grummelnd stieg sie von ihrer Liege herunter, schnappte sich ihre Waschtasche und schlurfte einem Zombie gleich an den beiden vorbei zum Flur hinaus.
***
Jiao ließ sich ganze sieben Minuten Zeit, ehe sie unter der Dusche hervorkam. Als Cassidy schon nach einer halben Minute das Wasser abstellte, neckte Jiao sie damit, dass sie nun den Grund für das penetrante Schweißaroma der Neuankömmlinge kennen würde.
Angel wartete derweil ungeduldig vor dem Waschraum und fürchtete inzwischen ernsthaft um den Erfolg ihrer Aufklärungsmission. Sechs Wochen lang hatte sie Cassidy Disziplin und Selbstbeherrschung gepredigt, was Jiao offenbar innerhalb weniger Stunden zunichtemachen konnte. Immerhin wartete sie nicht allein, denn die dritte Dusche in dem besagtem Waschraum war defekt und vor der Tür hatte sich bereits eine kleine Schlange gebildet.
Die erste gute Nachricht des Tages war, dass sich auch die Gäste in Maßen am Kaffee bedienen durften, weil er unter den Wissenschaftlern als Grundnahrungsmittel galt. Kim hatte beim Frühstück amüsiert festgestellt, dass die Gerüchte von der Kaffeesucht der präapokalyptischen Gesellschaft offensichtlich der Wahrheit entsprachen. Lediglich Jiao schien dem bitteren Heißgetränk nichts abgewinnen zu können und blieb bei ihrem eiskalten, prickelnden Zuckersirup.
Der kleinwüchsige Koch wunderte sich etwas über ihre Großbestellung an Reiseproviant, da sie doch eigentlich allein zu den Sicarii fahren sollte. Ein unschuldiges Augenklimpern der attraktiven Asiatin genügte jedoch, um den Zwerg zum Schweigen zu bringen.
Generell fiel Cassidy immer häufiger auf, wie erfolgreich Jiao ihre äußeren Reize einsetzte, um ihren Willen zu bekommen. Erstaunlicherweise schien sie dennoch keinen festen Freund oder Partner zu haben. Nichts in ihrem Quartier wies auf eine Beziehung hin, obwohl es durchaus ein paar ansehnliche junge Männer wie Leon und Sergej unter den Biosphärenbewohnern gab, dir ihr zudem jeden Wunsch von den Lippen ablasen.
Als es schon fast Mittagszeit war, zeigte Angel energisch auf die Uhr. Auf dem Weg durch die Verbindungsröhren zum Ausgang flüsterte Jiao Cassidy scherzhaft zu, wie sie es mit der nervigen Barbarin nur so lange ausgehalten hätte.
Kaum waren die drei unter freiem Himmel, schlug ihnen die drückende Mittagshitze ins Gesicht. Das Thermometer außerhalb der Basis zeigte beinahe fünfzig Grad im Schatten und Angel erinnerte Jiao daran, dass sie eigentlich schon vor Sonnenaufgang hatte aufbrechen wollen. Jiao zuckte lediglich mit den Schultern und tippte etwas auf den äußeren Bildschirm des Zugangsgebäudes ein. Sie konnten hören, wie sich der Aufzug entfernte, gefolgt von ein paar mechanischen Geräuschen, die am ehesten mit dem Verladen auf einem Güterbahnhof zu vergleichen waren. Anschließend kam der Fahrstuhl wieder näher, bis sich die massiven Stahlschotten erneut öffneten.
Nach und nach gaben die Türen den Blick auf einen verchromten Wagenkühler inmitten eines mattschwarzen Chassis mit rechteckigen, hochkant stehenden Scheinwerfern und einer stark abgedunkelten Frontscheibe preis. Vor ihnen stand mit mehr als fünf Metern Länge und fast zwei Metern Höhe ein wahrer Straßenkreuzer von einem Geländewagen, dessen riesige, silberne Felgen über Cassidys Knie hinausreichten. Die Lackierung wirkte gleichmäßig zerschlissen, so als wäre sie per Hand abgeschmirgelt worden, um dem ansonsten perfekt erhaltenen Fahrzeug das auffällig glänzende Äußere zu nehmen. Mit einem überlegenen Zwinkern drückte Jiao auf eine kleine Fernbedienung und ließ den angriffslustig grollenden Motor anspringen.
»Keine Bewaffnung oder Panzerung?«, fragte Angel.
»Du meinst sowas wie aufgeschweißte Stahlplatten und Zaungitter vor den Fenstern?«, erwiderte Jiao spöttisch und zeigte auf kleine Löcher in der Karosserie. »Der Wagen wurde vor dem Zusammenbruch von Regierungen genutzt und ist im Gegensatz zu den schaukelnden Eigenkonstruktionen der Sicarii professionell geschützt.«
»Wo habt ihr den denn gefunden?«, wollte Cassidy beeindruckt wissen.
»Wir? Gar nicht. Als in der McKnight Air Force Base alles Drunter und Drüber ging, hat es auch ein paar Politiker erwischt, die vor den ausbrechenden Unruhen dorthin geflüchtet waren. Bei unserem Auszug hat mein Vater den Wagen an einen der Hubschrauber gehängt und mitgenommen. Wir hatten mal zwei davon, aber der andere dient nur noch als Ersatzteilquelle«, erklärte Jiao und drückte dabei eine weitere Taste auf ihrer Fernbedienung, woraufhin sich das schwarze Ungetüm ganz von selbst aus dem Aufzug fuhr. Wehmütig erinnerte sich Angel an die durstigen Dieselmotoren der Humvees, die nur in Ausnahmefällen auf große Touren geschickt worden waren. Der monströse Luxusgeländewagen musste deren Treibstoffverbrauch jedoch noch bei weitem übertreffen.
»Wo bekommt ihr das Benzin für solche Spritschlucker her?«, fragte sie aus professioneller Neugier.
»Von unseren Ölquellen«, erwiderte Jiao im Affekt, hielt sich aber gleich danach die Hand vor den Mund. »Das ... habt ihr nicht gehört, okay?«
»Ihr habt ... was? Und auch noch mehrere!?«, platzte es aus Angel heraus. »Ist ja unglaublich! Alle Welt sitzt direkt am Tropf. Nur wir gehen natürlich leer aus!«
»Wart ihr etwa der Meinung, dass alle Ölfelder pünktlich zum Ende der Welt ausgetrocknet sind?«, sagte Jiao und zuckte hilflos mit den Schultern. »Menschen haben den Untergang der Menschheit herbeigeführt, nicht ein plötzlicher Temperaturanstieg oder Mangel an Erdöl. Das waren nur Nebeneffekte, von denen sich viele ablenken ließen. Der ganze Prozess hat ein Jahrzehnt gedauert und wir sind uns nicht mal sicher, dass auch wirklich alle Nationen untergegangen sind. Der Terroranschlag auf das globale Satellitennetzwerk hat die weltweite Kommunikation über Nacht in die Steinzeit zurückversetzt. Wer weiß, wie viele andere selbsternannte Imperien da draußen noch existieren.«
Jiao schloss die Aufzugtüren per Knopfdruck und führte Angel und Cassidy zum Heck des Geländewagens, während sie mit ihren Erklärungen fortfuhr.
»Die Sicarii betreiben selbst ein paar Ölförderanlagen. Bei den meisten ging damals lediglich die Effizienz so weit zurück, dass ihr Betrieb wirtschaftlich keinen Sinn mehr gemacht hat. Darum wurden die Anlagen kurzerhand abgeschaltet und anschließend in der Landschaft stehengelassen. Heutzutage will aber niemand mehr Millionen von Autos bewegen. Uns reichen zwei Hubschrauber völlig aus, denn der Wagen verbraucht eigentlich gar kein Benzin.«
Sie öffnete die Heckklappe, unter der vier große Gasflaschen zum Vorschein kamen.
»Der Motor arbeitet mit einer Wasserstoff-Brennstoffzelle. Den stellen wir per Elektrolyse selbst her, falls euch das etwas sagt. Dazu braucht man nur Strom und Wasser. Letzteres erhalten wir durch eigene Bohrungen bis in die Tiefe der Gletscherschmelze und für den Strom sammeln wir alle Solarkollektoren ein, die wir finden können.«
Dabei zeigte sie auf die umliegenden Berghänge, die buchstäblich mit Solarzellen zugepflastert worden waren.
»Ist nicht unbedingt effizient, aber es funktioniert. Der Panzer hat ebenfalls einen Wasserstoffantrieb. Nur die beiden Hubschrauber fliegen noch mit unseren spärlichen Kerosinvorräten, die Amy nur sehr langsam wieder auffüllen kann. Deswegen nehmen wir auch stattdessen den Wagen.«
»Was hat Amy mit eurem Sprit zu tun?«, wunderte sich Angel.
»Sie steuert sämtliche Funktionen der Biosphäre. Luft- Strom- und Wasserversorgung, unsere Raffinerie, die Gewächshäuser und so weiter.«
Für Cassidy grenzte es an ein Wunder, dass man aus purem Wasser Treibstoff herstellen konnte. Angel hingegen nickte beim Einsteigen lediglich anerkennend. Eagle Village hatte jahrzehntelang eine ähnliche Anlage mit Hilfe von Windrädern betrieben. Keine der beiden fand es merkwürdig, einem Computer die Aufsicht über nahezu alle lebenswichtigen Systeme zu übergeben. Für sie funktionierte es einfach. Genauso wie die sprichwörtliche Mikrowelle.
Angel beanspruchte standesgemäß den Beifahrersitz, was von Jiao skeptisch zur Kenntnis genommen wurde. Erstaunt stellten Angel und Cassidy fest, dass es im Wageninneren bereits angenehm kühl war und Jiao nicht übertrieben hatte, als sie von der Klimaanlage sprach. Eine ausgeblichene Holzverkleidung zog sich von der Mittelkonsole über das Armaturenbrett und verlieh dem überdimensionierten Straßenkreuzer eine edle, wenn auch altersbedingt abgenutzte Optik, die seinem äußeren Erscheinungsbild in nichts nachstand.
Bevor sie losfuhr, holte Jiao eine schmale, silberumrahmte Sonnenbrille hervor. Nachdem Cassidy ihre eigene, kreisrunde Brille aufgesetzt hatte, blickten die beiden Angel fragend an.
»Ich hab keine«, antwortete sie knapp, woraufhin ihre Schülerin endlich einmal den Grund dafür wissen wollte. Sie hatte unzählige Ranger mit Sonnenbrillen gesehn. Nur die leidenschaftliche Scharfschützin schien einen weiten Bogen darum zu machen.
»Weil die Dinger dem Gegner eure Position verraten und gleichzeitig das farbliche Sehen verringern«, erklärte sie.
»Wie lange führt ihr eigentlich schon Krieg gegeneinander?«, erwiderte Jiao zynisch, aber bevor ihr Angel antworten konnte, vernahmen sie dumpfes Gepolter von der anderen Seite der Fahrstuhlschleuse. Angel traute ihren Augen nicht, als sie das Bild von Dog auf dem Monitor neben den Schotten erblickte, der sich mit Leon und Sergej prügelte.
»Und du wolltest mir erzählen, es gäbe gar keine Barbaren, wie sie mein Vater immer beschrieben hat«, kommentierte Jiao die Szene in Cassidys Richtung, während sich Angel stöhnend über das Gesicht rieb. Nachdem Jiao Amy versichert hatte, dass sie die Situation friedlich lösen könne, öffneten sich die massiven Tore.
»Was zum Teufel soll das?«, brüllte Angel ihren Gefährten aus vollem Hals an, so dass sogar die Soldaten strammstanden.
»Du bist nicht die einzige, die noch eine Rechnung mit denen offen hat!«, erwiderte Dog erzürnt.
»Das ist nur eine Aufklärungsmission verdammt!«
»Erzähl das meinetwegen den anderen, aber du gehst nicht ohne mich!«
Erst die unendlich langen Verzögerungen und nun das. Angel massierte sich frustriert die Schläfen und spürte eine drohende Migräne auf sich zukommen, wenn der Stress nicht bald nachließe. Sie erinnerte sich an Jiaos Warnungen über die Gefahren des Auffallens im Gebiet der Sicarii und Dog gehörte nicht gerade zu den Menschen, die mit Subtilität gesegnet waren.
»Meinetwegen kann er mitkommen. Jetzt wissen es ohnehin alle«, seufzte Jiao resigniert. Anschließend trat sie jedoch selbstbewusst auf den zwei Köpfe größeren Hünen zu, starrte ihm in die verdutzten Augen und zeigte erst auf sich selbst und anschließend auf Angel.
»Das ist meine Mission, nicht ihre, verstanden? Wenn du mir auch nur einmal widersprichst oder entgegen meinen Anweisungen handelst, schicke ich dich persönlich als Eilpaket verpackt zurück zu meinem Vater, der dich im Quarantänebunker verrotten lassen wird!«
Angel und Cassidy trauten ihren Ohren nicht. Die bis eben so unbeschwert in den Tag lebende Rebellin schien plötzlich wie ausgewechselt. Ihr Ton ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie es todernst meinte und keinerlei Toleranz gegenüber unzivilisiertem Verhalten duldete. Angel lachte leise hinter vorgehaltener Hand, als ihr Liebhaber die schmächtige Asiatin verdutzt ansah und keinen Laut mehr hervorbrachte. Bevor Dog sein verletztes Ego wieder aufbauen konnte, zog Angel ihn mit einem schmerzhaften Nackengriff in Richtung Geländewagen davon.
»Soll ich nicht doch besser mitkommen und auf ihn aufpassen?«, fragte Leon, der sich ganz gut gegen Dog behauptet hatte, aber Jiao schüttelte den Kopf. Sie wartete, bis er zusammen mit Angel und Cassidy eingestiegen war.
»Ich glaube nicht, dass die das Problem sind, und so wie er sich aufführt, wird er kaum auffallen.«
»Wie du meinst. Ich werd trotzdem ein Auge auf ihn haben«, erwiderte Leon mit verschränkten Armen.
Angesichts der neuen Situation hielt Angel es für vernünftiger, sich mit Dog die Rückbank zu teilen, um ihm im Zweifelsfall ein paar schmerzhafte Seitenstöße verpassen zu können. Damit bekam Jiao gleichzeitig ihren Willen und konnte Cassidy auf dem Beifahrersitz Platz nehmen lassen.
»Anschnallen, bitte«, befahl sie freundlich und erntete fragende Blicke ihrer drei Passagiere. Jiao ließ sich jedoch nicht beirren und wartete, bis auch Dog sich grummelnd ihrem Befehl fügte. Dabei holte sie das laminierte Foto der chinesischen Frau aus ihrer Jacke und heftete es an eine scheinbar extra dafür vorbereitete, magnetische Stelle des Armaturenbretts.
»Wer ist das?«, fragte Cassidy, während sie ihren Gurt im Schloss einrastete.
»Meine Mutter«, antwortete Jiao. Dabei starrte sie das Bild an, als würde sie durch es hindurchsehen und Erinnerungen wachrufen. »Sie starb, kurz nachdem mein Vater die McKnight Air Force Base evakuiert hatte.«
»Aber damals warst du doch noch ...«
»Ich hab sie nie gekannt«, sagte Jiao nickend und fügte hinzu, »Sie ist mein Glücksbringer.«
Auf den folgenden Moment hatten sich Cassidy und sie schon den ganzen Morgen gefreut. Jiao holte eines ihrer Speichermodule hervor und stöpselte es ins Armaturenbrett neben dem Zigarettenanzünder. Einen Augenblick später begannen die überall im Wagen verteilten Lautsprecher zu vibrieren und erfüllten den Innenraum mit rhythmischer und vor allem lauter Musik. Die junge Fahrerin trat das Gaspedal durch und jagte den PS-starken Geländewagen an der Biosphäre vorbei auf die zweispurige Straße, die sie bis zur Grenzschlucht führte.
***
Als sie eine Viertelstunde später zwischen den künstlich in den Felsen gesprengten Gesteinsformationen entlang fuhren, schien Jiao sichtlich unruhig zu werden. Sie kniff die schmalen Augenlider zusammen, als würde sie nach etwas suchen.
»Was ist?«, fragte Cassidy.
»Unser Panzer ist weg!«
Sie drehte die Musik leiser und griff bereits nach dem Schalter für das Bordfunkgerät, um in der Biosphäre nachzufragen, da fegte eine riesige Staubwolke nahe dem Ausgang der Schlucht über die Straße hinweg.
»Fletcher«, raunte Jiao zähneknirschend. Kaum waren sie wieder von der trockenen Ebene umgeben, sahen sie den mächtigen Kampfpanzer in voller Fahrt über die Dünen springen.
»Fletcher! Was verdammt nochmal macht ihr da!?«
Sie bekamen keine direkte Antwort, sondern hörten lediglich das Geheul von Männern, die ganz offensichtlich einen Riesenspaß hatten. Eine Stimme davon kam Angel dabei sehr bekannt vor. Sie lächelte auf der Rückbank in sich hinein, blieb aber still, bis das stählerne Ungetüm längsseits ging und stoppte.
»Ein Wahnsinn!«, brüllte Butch herüber. »Angel! Wir müssen uns so ein Teil besorgen! Das ist der reine Wahnsinn!«
Er stand zusammen mit Fletcher im Kommandoturm des Panzers, der sein Versprechen auf einen Blick unter die Haube offenbar ausgebaut hatte.
»Ist dir eigentlich klar, was das an Treibstoff kostet!?«, fuhr Jiao den dicken Kommandanten an.
»Ach jetzt hör schon auf!«, erwiderte er. »Du hast doch selbst gesagt, wir sollen uns mit denen anfreunden!«
»Ja aber ...«
Jiao rieb sich ratlos über ihr Gesicht und blickte zurück in die Schlucht, hinter der die Biosphäre lag.
»Lass das bloß nicht meinen Vater rausfinden!«
»Amy hat unsere Reserven gecheckt und mir grünes Licht für eine halbe Stunde gegeben«, beruhigte sie Fletcher. »Sie wird dem Alten nichts davon erzählen!«
»Na dann«, brummte Jiao, doch ihr besorgter Gesichtsausdruck verschwand bereits.
»Alexandros! Los, noch eine Runde!«, befahl Fletcher und hämmerte dabei auf das Dach.
Butch hielt sich mit seiner gesunden Hand fest und hob die andere hoch in die Luft, als der Panzer wieder an Fahrt aufnahm. Jiao konnte in den Augen ihrer Passagiere erkennen, wie sehr sie den Mechaniker um seine neuen Freunde beneideten. Besonders Dog wäre am liebsten hinten aufgesprungen und mitgefahren.
»Ist das derselbe, der den Panzer kommandiert hat, als ihr Sharon befreit habt?«, wunderte sich Cassidy.
»Wer? Fletcher? Ja, da war er mit seiner Crew dabei«, antwortete Jiao nickend. »Die Sicarii haben damals ein kleines Arsenal an lasergesteuerten Luftabwehrraketen direkt vor unserer Haustür geparkt.«
»Sharon hat uns erzählt, dass er gar nicht glücklich über deine Hilfe war.«
Jiao zog ein nachdenkliches Gesicht.
»Das war kurz nach Ausbruch des Krieges«, erklärte sie. »Mein Vater hatte gerade erst den Befehl erlassen, niemandem jenseits der Schlucht Unterstützung zu gewähren. Die Sicarii haben unsere Gutmütigkeit zuvor mehr als einmal ausgenutzt.«
»So hab ich Butch seit Monaten nicht erlebt«, sagte Angel. Sie war sichtlich froh darüber, dass ihr erster Freund bei den Rangern endlich wieder zu lachen vermochte. Nachdem der Panzer in einer Staubwolke am Horizont verschwunden war, schaltete Jiao erneut ihre Musik ein und setzte die Reise zur Grenze fort.
Es dauerte seine Zeit, bis sich die beiden ehemaligen Vulturekommandeure an die permanente Beschallung aus nahezu allen Seiten gewöhnt hatten. Die bequemen Ledersitze und die angenehmen Temperaturen im Inneren des schwarzen Straßenkreuzers ließen die Reise dennoch zu einer geradezu entspannenden Safari werden. Auch die kleinen Luxusaccessoires hörten nicht auf, die Passagiere in Erstaunen zu versetzen. Als Angel fragte, ob Jiao an Getränke gedacht hätte, öffnete sie einen eingebauten Kühlschrank, in dem eiskalte Cola und Wasserflaschen auf die ungläubig mit dem Kopf schüttelnde Überlebenskünstlerin warteten.
Bereits nach einer guten Stunde erreichten sie die stählerne Bogenbrücke, auf der Jiao die Fahrt unterbrach, ausstieg und die Gruppe bat, ihr zur Heckklappe zu folgen. Nacheinander händigte sie dem Team ihre Waffen aus, die am Tag zuvor von Leon und seinen Männern konfisziert worden waren. Dazu gab es für jeden einen Ohrhörer und ein Kehlkopfmikrofon, das die Laute direkt am Hals aufnahm, wodurch störende Geräusche wie Gefechtslärm die Kommunikation nicht beeinträchtigen konnten. Sie selbst trug eine vernickelte Pistole, die fest unter ihrem linken Arm saß und von einem schneeweißen Poncho verdeckt wurde.
»Ich dachte, ihr habt mit denen ein Waffenstillstandsabkommen?«, fragte Angel misstrauisch und überprüfte ihr geliebtes Scharfschützengewehr.
»Die Sicarii sind nicht das Problem«, antwortete Jiao ernst, hängte sich eine der taktischen Einsatzbrillen um den Hals und schloss anschließend den Kofferraum. »Die Gegend um Arnac ist noch weit davon entfernt, eine sichere Provinz zu sein. Es gibt immer wieder Angriffe von den Neces, aufständischen Rebellen und Wegelagerern. Die machen keinen Unterschied zwischen denen und uns.«
»Neces? Wer sind die?«
»Eine Plage der Sicarii. Degenerierte Gestalten, die es nach dem Zusammenbruch nicht aus den Großstädten geschafft haben und daran zugrunde gingen. Die sehen aus wie Tiere und benehmen sich auch so. Die meisten können nicht mal mehr sprechen«, erklärte Jiao.
»Scavenger«, brummte Dog. »Die werden wir wohl nie los.«
»Sca-ven-ger?«, wiederholte Jiao.
»So nennen wir diesen Abschaum.«
»Gab es die bei euch vor den Sicarii nicht?«, fragte Cassidy.
Jiao schüttelte den Kopf.
»Nicht in der Form. Die Neces sind viel aggressiver und gehen geradezu selbstmörderisch vor. Einmal haben die sogar den Ares mit Knüppeln und Steinen angegriffen«, erklärte sie.
»Hm. Also so blöd waren unsere Scavenger nicht«, brummte Dog zustimmend.
»Was ist mit uns?«, fragte Angel und zeigte auf die taktische Einsatzbrille um Jiaos Hals. »Kriegen wir keine davon?«
Jiao schüttelte abermals mit dem Kopf.
»Ihr wisst doch, keine hochentwickelte Technologie für ...«
»Ja ja«, schnitt Dog ihr das Wort ab. »Für uns Barbaren!«
»Ich mache die Regeln nicht«, erwiderte Jiao ernst.
»Wie weit ist es eigentlich bis zu der Stelle, wo ihr uns gefunden habt?«, fragte Angel.
»Von hier? Etwa vierzig Klicks direkt nach Süden.«
Angel und Dog sahen sich einander erstaunt an. Jade hatte sie also doch nicht auf eine chancenlose Reise geschickt. Ohne Sharons unvorhersehbare Verstrahlung und den Sandsturm wäre ihnen die Mission wahrscheinlich ganz allein gelungen.
»Können wir uns da mal umsehen?«, fragte Angel.
»Klar. Mein Vater will ohnehin, dass wir die Luftaufnahmen vor Ort überprüfen«, antwortete Jiao nickend.
Gemeinsam stiegen sie wieder ein und setzten die Fahrt fort. Auch querfeldein bewies der dreieinhalb Tonnen schwere Geländewagen einen erstaunlichen Komfort, wenngleich die Treibstoffverbrauchsanzeige jede Skala sprengte.
***
Als sie das Schlachtfeld erreicht hatten, waren die Spuren des Gefechts noch deutlich im blutverkrusteten Sand zu sehen, in dessen Zentrum Jiao Sharons funkelnde Brille aufhob und sorgfältig säuberte. Hunderte Patronenhülsen lagen überall verstreut, zusammen mit einem aufgerissenen Verband, der Kim vor dem Abflug aus den zitternden Händen gefallen war. Erleichtert grub Angel ihren silbergrauen Kampfstab aus dem Wüstenstaub aus, den sie in der Eile der nächtlichen Flucht nicht mehr gefunden hatte.
»Was ist denn das?«, fragte Jiao neugierig.
Eingefahren wirkte der Stab eher wie ein Stäbchen und nicht sehr imposant. Angel witterte ihre erste Chance, die verwöhnte Göre beeindrucken zu können und fuhr die Hightech-Schlagwaffe mit einem Knopfdruck auf ihre einschüchternde Länge von zwei Metern aus. Jiao wich reflexartig zurück, als Angel die Stange aus Verbundwerkstoffen gekonnt vor ihrem Oberkörper rotieren ließ.
»Ein Geschenk von Jade«, erklärte sie. »Damit ich mich mit ihr duellieren kann.«
»Du hast dir mit Jade ein Duell geliefert?«, erwiderte Jiao erschrocken, woraufhin Angel überrascht nickte.
»Zwei Mal.«
»Und du lebst noch?«
Angel hörte mit ihren Übungen auf und ließ den Stab zurück auf seine Transportgröße schrumpfen.
»Kommt das denn häufiger vor?«
»Unter den Sicarii gilt es als ihre Macke«, antwortete Jiao. »Jade ist dafür bekannt, dass sie sich für ihr Leben gern duelliert. Nur gab es seit Jahren niemanden mehr, der sich das freiwillig getraut hat.«
»Angel hat sie besiegt«, warf Cassidy räuspernd ein.
»Ja, aber da war sie verletzt. Außerdem denke ich, dass sie mich gewinnen lassen wollte«, fügte Angel abwinkend hinzu. »In Brackwood hätte sie mich beinahe erwischt. Ich hab noch nie eine Waffe wie ihr gebogenes Schwert gesehen.«
Ohne darauf zu antworten, holte Jiao ihre Fernbedienung heraus, öffnete die Heckklappe des Geländewagens, schob das Gepäck beiseite und zog anschließend die Bodenverkleidung hoch. Darunter verbarg sich neben den Gasflaschen ein ebenso geformtes Schwert wie Jades Duellwaffe. Sie nahm es aus der Transportform und reichte es Angel.
»Man nennt es ein Katana, ein japanisches Langschwert. Mein Vater hat dort seine Wurzeln. Es ist seit zweihundert Jahren in Familienbesitz.«
»Ziemlich schwer«, kommentierte Angel überrascht und versuchte die Bewegungen ihrer Kontrahentin aus dem Gedächtnis nachzuahmen. »Kannst du damit umgehen?«
»Bei weitem nicht so gut wie Jade«, antwortete Jiao und strich sich dabei über die Wunde an ihrem rechten Oberarm. »Nahkampf ist keine meiner Stärken. Ich hab es nur meinem Vater zuliebe gelernt. Aber ich kann dir ein paar Grundlagen erklären, wenn wir zu Hause sind.«
Sie versteckte das Schwert wieder in der passgenauen Hartschaumform und schlug die Heckklappe zu. Angel kam langsam zu der Einsicht, dass sie die vergnügungssüchtige Rebellin vielleicht doch etwas vorschnell verurteilt hatte.
Bevor sie die Reise fortsetzten, untersuchten sie die feindlichen Stellungen des Gefechts. Dabei fiel Angels erfahrenen Augen auf, dass sich für den Mörser, mit dem das verräterische Leuchtgeschoss abgefeuert worden war, keine einzige Granate finden ließ. Bei der überstürzten Flucht vor den Hubschraubern hatten die Sicarii unzählige Waffen und Ausrüstungsgegenstände zurückgelassen. Daher war es unwahrscheinlich, dass sie ausgerechnet die schweren Sprengsätze mitnehmen würden. Angel verglich ihre eigene Perspektive mit den Luftaufnahmen und blickte Jiao anschließend fragend an.
»Wieso seid ihr eigentlich so schnell hier gewesen?«
»Unser Informant hatte gemeldet, dass ein paar entlaufene Sträflinge in der Gegend unterwegs sind, die die Handelsrouten zwischen der Biosphäre und den Sicarii überfallen wollen. Wir lagen schon zwei Nächte in der Nähe der Brücke auf der Lauer. Als auf einmal das Leuchtgeschoss in den Himmel stieg, dachten wir, dass sie das wären. Wir haben uns schon gefragt, warum sie es uns so einfach machen. Dann trafen wir auf euch.«
Angel begann augenrollend zu schmunzeln und reichte Jiao das E-Paper.
»Was ist daran so lustig?«, fragte Dog verdutzt.
»Jade!«, erwiderte Angel und winkte Jiao zu. »Diese kleine Schlange spielt immer noch ihr Spiel mit uns. Sie wusste genau, dass dein Vater uns niemals freiwillig über die Brücke lassen würde, und hat stattdessen diesen Hinterhalt inszeniert. Wahrscheinlich stammt die Information eures Spitzels sogar direkt von ihr!«
Auch Cassidy erinnerte sich an Faiths Worte, dass niemand einfach so in das Gebiet der Biosphärenbewohner eindringen konnte, und, dass Jade einen Plan haben musste, um sie auf die andere Seite der Schlucht zu bringen.
»Aber woher sollte sie wissen, dass wir euch überhaupt mitnehmen? Mein Vater war strikt dagegen und Danny wollte euch ebenfalls zurücklassen!«
»Warum hast du uns dann gerettet?«, fragte Cassidy, woraufhin Jiao einen Moment schwieg und das E-Paper zurück in ihre Jeans gleiten ließ.
»Weil ich Sharon schon einmal gehen lassen musste und es kein zweites Mal übers Herz gebracht habe. Über das Nachtsichtgerät konnte ich sie genau erkennen, und als ich das Blut im Scheinwerferlicht sah ...«, antwortete sie zurückhaltend und betrachtete dabei Jurijs zierliche Brille, die sie ihr vor drei Jahren geschenkt hatte.
»Könnte die verdammte Schlampe davon gewusst haben?«, fragte Dog, der noch immer nicht über seine schmachvolle Rolle in Jades Schachspiel hinweggekommen war.
»Es gab Streit darüber«, bestätigte Jiao ausweichend. »Ich ließ Sharon von unseren Drohnen beobachten, bis sie den westlichen Gebirgspass erreicht hatte und selbst das passte meinem Vater nicht.« Sie hob die Hände, formte zwei Gänsefüßchen mit ihren Zeige- und Mittelfingern und ahmte die Stimmlage ihres Vaters nach. »Das ist Ressourcenverschwendung, Jiao. Wir geben uns mit solchen Barbaren nicht ab, Jiao.«
Die Frustration über ihre Ohnmacht war deutlich in ihrer Stimme zu hören, weshalb zunächst niemand an ihren Worten zweifelte. Angel wies Cassidy und Dog stattdessen an, sich in ihre ehemaligen Stellungen zu legen. Jiao übernahm Sharons Position in der Erdvertiefung. Anschließend lief Angel mit ihrem Scharfschützengewehr in die Richtung, aus der vermutlich der entscheidende Schuss gekommen war, und blickte aus vierhundert Metern Entfernung durch ihre Präzisionsoptik.
»Unglaublich«, flüsterte sie in ihr Kehlkopfmikrofon.
»Was? Was ist? Kannst du mich sehen?«, fragte Jiao, der allmählich die Arme einschliefen, als sie sich wie Sharon über Coles imaginären Körper beugte.
»Ich habe ein perfektes Schussfeld auf Cassidy und Dog, aber von dir seh ich so gut wie nichts«, erwiderte Angel. »Kein Scharfschütze der Welt hätte in so einer Situation auf Sharon geschossen! Sie war weder am Kampf beteiligt noch überhaupt bewaffnet.«
Jiao antwortete nicht auf Angels Mutmaßung, sondern verließ die Stellung, um selbst ein Auge auf die toten Angreifer zu werfen. Wortlos verfolgte die Gruppe, wie sie eine Leiche nach der anderen untersuchte.
»Das sind keine Legionäre oder Söldner«, sagte sie naserümpfend und zeigte auf den Unterarm einer der Männer. »Seht ihr dieses Tattoo?«
»Ein Schmiedeamboss«, brummte Dog. »Was ist daran so besonders?«
»Das ist das Zeichen für Häftlinge von Tartaros, dem sicariianischen Gefängnis«, erklärte sie. »Die müssen von dort ausgebrochen sein. Wenigstens dieser Teil der Information hat gestimmt.«
»Was ist mit dem da hinten?«, rief Dog und zeigte auf eine Leiche, die etwas weiter entfernt unter einer Decke aus hellbraunen Fransen lag. »War dem etwa kalt?«
»Sieht aus wie ein Ghillie. Vielleicht ist er ja unser ...«, mutmaßte Angel. Behutsam hob sie den Stoff mit den Füßen an, bis ein langes Gewehr mit Zieloptik zum Vorschein kam. »Jep, das ist unser Scharfschütze.«
Das Innere der Decke war mit einer silbern spiegelnden Schicht überzogen, die wie Alufolie aussah.
»Nicht schlecht«, sagte Angel anerkennend. »Da drunter wird dem nachts sicher nicht kalt. Ohne das ganze Blut und die Einschusslöcher würde ich das Ding glatt mitnehmen.«
»Vielleicht«, murmelte Jiao und untersuchte den Körper genauer. »Aber dadurch haben ihn auch unsere Wärmebildkameras übersehen.«
Auf einmal hielt sie inne und zog ein ausgeblichenes Foto aus der Hosentasche des Toten. Als sie es Angel und ihren Freunden reichte, blickten sie einander fassungslos an. Das Bild zeigte Sharon bei ihrer Flucht in die Berge vor fast drei Jahren.
»Jade ...«, grollte Jiao zähneknirschend.
»Du hast ihr dieses Foto gegeben?«, fragte Angel.
Jiao nickte. »Als ich von ihrem Feldzug gen Süden Wind bekam, habe ich sie gebeten, ein Auge nach Sharon offenzuhalten.«
»Dann seid ihr also dicke Freunde!«, protestierte Dog mit verschränkten Armen. Kopfschüttelnd riss sie das Bild aus seiner Hand und schaute argwöhnisch zum hellblauen Himmel hinauf.
»Die Nachricht über den Hinterhalt kam nicht von Jade, sondern von einem Informanten, den sie nicht einmal kennen dürfte!«, erwiderte Jiao zornig.
»Das erklärt vielleicht, warum sie es gerade auf Sharon abgesehen hatten«, überlegte Cassidy. »Aber woher sollte Jade wissen, dass sie eine von uns ist und wir sie über die Berge mitnehmen?«
»Sie hat Sharon gesehen«, antwortete Angel. »In Eagle Village, als du bereits verschleppt worden warst. Jade hat sie während unseres Duells entdeckt und dann in Brackwood eins und eins zusammengezählt, als sie mir präzise beschrieben hat, wo wir Hilfe finden würden. Ihre genauen Worte waren, dass ich mein Team mit Bedacht wählen solle!«
Cassidy blickte sie verwirrt an und Jiao schien ebenfalls auf eine Erklärung zu hoffen.
»Überlegt doch mal! Sharon kommt doch aus dieser Gegend. Da lag es nahe, dass ich sie mitnehme. Jade konnte nicht ahnen, dass sich ihr Gesundheitszustand auf der Reise so rapide verschlechtern würde.«
»Und wenn wir Sharon aus irgendeinem Grund nicht mitgenommen hätten?«, fragte Cassidy. »Was, wenn wir noch ein paar Tage gewartet hätten und sie schon im Kloster erkrankt wäre?«
Angel blickte an ihr vorbei auf die Stelle, an der sie sich Kims Seil um den Fuß gebunden hatte, um den anderen mit ihrem eigenen Leben das Abseilen zu ermöglichen.
»Wer weiß«, brummte sie. »Vielleicht wären wir schneller durch die Berge gekommen und dem Hinterhalt entgangen.«
»Ich bring sie um!«, fluchte Jiao und raufte sich die Haare. »Diese verdammte ...«
Sie unterbrach ihren Ausbruch, als sie Angels versteinerte Augen erkannte. Sie hatte den Scharfschützen mit dem Foto umgedreht, um einen genaueren Blick auf ihren Widersacher zu werfen, der Sharon auf eine nahezu unmögliche Weise getroffen hatte.
»Was ist?«, fragte Jiao argwöhnisch.
Angel kontrollierte ihre Mimik wie eine professionelle Pokerspielerin und zeigte keinerlei Reaktion. Nicht einmal Dog vermochte ihren Gesichtsausdruck zu deuten.
»Wir sollten zusehen, dass wir nach Arnac kommen«, raunte sie und wendete sich von der Leiche ab. »Wir brauchen dringend ein paar Antworten.«
Die Gruppe kehrte zum Geländewagen zurück und setzten stumm ihre Reise in das sicariianische Territorium fort. Diesmal spielte keine Musik. Dafür war selbst der bis dahin so unbeschwerten Jiao die Stimmung vergangen. Jahrelang hatte ihr Vater die Sicarii mit einem Fingerschnippen oder einer Panzergranate zum Schweigen bringen können. Nun stellte sich plötzlich heraus, dass sie von Jade wie Marionetten benutzt worden waren. Das wog schwer auf ihrem Stolz. Besonders da sie es trotz all ihrer fortschrittlichen Technik nicht bemerkt hatten, sondern sie erst eine ebenso rückständige Barbarin darauf hinweisen musste.
Angel fragte Jiao während der Fahrt über Jade aus. Sie vermutete, dass die Schwertkämpferin eine viel größere Rolle in ihrem Leben gespielt hatte, als sie zuzugeben bereit war. Zurückhaltend berichtete Jiao von einem Aufenthalt tief im sicariianischen Imperium zu Zeiten des Krieges, bei dem ihr Hubschrauber zur Notlandung gezwungen worden war und die Rettungsmannschaft ihres Vaters erst nach einigen Tagen eintraf. Zusammen mit Leon und Sergej hatte sie sich in einem ausgetrockneten See versteckt, war jedoch von Jades Kommandoeinheit entdeckt worden. Jade sorgte mit ihrem Status als Bacchae dafür, dass die Legionen einen großen Bogen um den Landeplatz machten, und verlangte im Gegenzug, dass Jiao ihren Vater von einem Waffenstillstand überzeugte. Seit dem hielten sie unregelmäßigen Kontakt miteinander, wie Jiao es ausdrückte.
Cassidy hörte die Erzählungen über den Kult der Bacchae mit ihrer Allmacht und Neutralität nicht zum ersten Mal. Sie schwieg und freute sich innerlich, dass sie ihr Instinkt in Bezug auf Faith nicht im Stich gelassen hatte und, dass ihre Informationen der Wahrheit entsprachen. Außerdem waren Jiaos Berichte für Cassidy äußerst bequem, denn nun wusste Angel darüber alles, was sie wusste, ohne dass sie erklären musste, woher ihre Erkenntnisse stammten.
Angel ließ die ganze Zeit ihre Fingerspitzen über Jades Silberamulett in ihrer Hosentasche gleiten. Sie überlegte, ob sie es Jiao zeigen sollte, um Rückschlüsse aus ihrer Reaktion ziehen zu können, entschied sich dann aber, es bei dem einseitigen Verhör zu belassen.