5 - Zuflucht
Der Morgen im Gebirge begann mit einer sanften Verdrängung der Schatten auf den Berghängen, deren höhergelegene Wälder nach dem Abschmelzen der großen Gletscher fast vollständig vertrocknet waren. Die kahlen Gipfel strahlten bereits in beruhigenden Brauntönen, die mit zunehmender Entfernung hellblau erschienen und einen malerischen Kontrast zum beinahe weißen Horizont bildeten.
Cassidy empfand ein ungewohntes Gefühl von Ruhe und Frieden, als sie die wilde Natur am Rand der Lichtung betrachtete. Nur hundert Meter von ihr entfernt labte sich eine Bergziege an den spärlichen Gräsern der Umgebung, sprang über den felsigen Untergrund und freute sich des Lebens.
Zumindest bis plötzlich ein ohrenbetäubender Donnerschlag das Bild wie einen Scherbenhaufen zusammenbrechen ließ und tausendfach von den Berghängen reflektiert wurde. Nur ein paar Sekunden später erschien Angel mit gezückter Pistole im Dickicht hinter ihrer Schülerin. Caiden und Faith waren aus ihren Schlafsäcken hochgeschreckt und starrten ebenfalls fragend den Berg hinab. Aus der Richtung von Dogs Vulturebuggy schepperte es gewaltig, gefolgt von Flüchen, die man Kindern besser nicht erzählen sollte.
»Bist du verrückt geworden?«, brüllte Angel, als sie Cole mit seinem Präzisionsgewehr bewaffnet über die Felsbrocken steigen sah. »Das hat man bis nach Silver Valley gehört!«
»Ach, mach dich doch nicht lächerlich«, grunzte er zurück. »Ich hab's satt, mich von trocken Brot zu ernähren!«
In diesem Moment kam Dog endlich aus dem Waldrand gestolpert. Schlaftrunken rieb er sich die Augen und suchte nach dem heranrückenden Feind, bis er Angel haareraufend zum Humvee zurückkehren sah.
»Ich bring ihn um!«, grollte sie. Cassidy gefiel der Gedanke an die zerstörte Ziegenidylle auch nicht, doch ihr Magen knurrte auf einmal so laut, dass sogar ihre Ausbilderin über die Komik der Situation schmunzeln musste. Ändern konnten sie die unüberlegte Jagd ohnehin nicht mehr, also gestattete Angel das Entzünden eines Lagerfeuers bei Tageslicht, um das Fleisch zu rösten.
Während sich die anderen die Ziege eine Stunde später schmecken ließen, bezog sie am Rand der Lichtung Position, von wo aus sie die Umgebung im Auge behielt und die Weiterfahrt plante. Die Landkarten der Ranger waren völlig nutzlos, so dass Angel nur wage Vermutungen über ihre Entfernung zum Ziel anstellen konnte.
»Na, gewinnen wir?«, fragte sie Dogs tiefe Bassstimme, der mit einem Tablett voll dampfender Fleischstücke aus dem Dickicht heraustrat. Nach einem Kuss des Dankes verzehrte Angel die erste richtige Mahlzeit seit einer Woche. Ihr Gefährte amüsierte sich dabei jedes Mal über ihre Tischmanieren. Nur in Ausnahmefällen berührte sie das Fleisch mit den Händen und führte immer ein komplettes Besteckset mit sich. Fett auf ihrer Ausrüstung oder gar dem hochempfindlichen Scharfschützengewehr war für die ansonsten so pragmatische Kommandeurin ein Graus. Sogar ihren Kampfdolch an der rechten Wade setzte sie nur äußerst ungern zur Nahrungszerkleinerung ein.
»Weit kann es nicht mehr sein«, murmelte sie mit vollem Mund. »Die werden Cole sicher schon gehört haben.«
Dogs geballte Fäuste sprachen Bände über den Morgengruß seines Konkurrenten, aber sein knurrender Magen hatte ihn davon abgehalten, den übermütigen Motorradfahrer unangespitzt in den Boden zu rammen.
»Und was dann?«, fragte er mit verschränkten Armen und lehnte sich stirnrunzelnd an eine vertrocknete Fichte. Faul herumzusitzen kam für ihn nicht in Frage, besonders nicht nach seiner schmachvollen Gefangenschaft.
»Dann ...«, antwortete Angel nuschelnd, ehe sie das Silberbesteck beiseitelegte und ihre Lippen mit einem löchrigen Taschentuch säuberte. »Dann helfen wir unseren Leuten beim Aufbau der neuen Siedlung.«
Augenrollend ließ sich Dog auf den Boden rutschen und rieb sich frustriert über die Stirn.
»Ich hasse Bauarbeiten! Was glaubst du, warum wir für sowas Sklaven hatten?«
Amüsiert blinzelte Angel in die hochstehende Morgensonne und stellte sich den Hünen mit einem knallgelben Schutzhelm und einer Schaufel in der Hand vor.
»Ich werd schon eine anspruchsvolle Aufgabe für dich finden«, versuchte sie ihn zu beruhigen und erinnerte Dog gleichzeitig daran, dass er schließlich einen guten Draht zur Chefin hätte. »Wir können ohnehin nicht lange bleiben. Ein paar Tage, mehr nicht.«
Die Furchen auf seiner Stirn verwandelten sich bei Angels Geheimniskrämerei in kleine Schützengräben.
»Jade hat mir die Richtung gezeigt, in der wir Hilfe finden werden.«
»Jade!«, echote Dog erzürnt in Gedanken an seine schmachvolle Zeit als ihr persönlicher Gefangener. »Wahrscheinlich willst du Cole auch noch mitnehmen! Genau wie deine ganze Bande von ach so hilfreichen Versagern!«
Er stand auf und blickte griesgrämig den Berg hinab.
»Warum machen wir es nicht wie früher? Nur du und ich!«
»Und was wird aus deinen Leuten?«
»Kalidas und Samuel?«, erwiderte Dog nachdenklich. »Anständige Männer, aber es hatte Gründe, dass sie nicht in meinem Team waren. Der Alte würde deine Kriege nicht mehr durchstehen und Kalidas kann besser kochen als schießen.«
»Ang ... ko ... du bald?«, kratzte eine Stimme aus Angels Ohrstöpsel. Die Akkus der Funkgeräte gaben kurz vor dem Ziel den Geist auf und niemand hatte daran gedacht, sie während der Nacht an den Autobatterien aufzuladen. Das war bisher immer Butchs Aufgabe gewesen. Bei diesem Gedanken verspürte Angel einen Moment lang unglaubliches Heimweh. Es wurde wirklich Zeit aufzubrechen. Sie kehrte mit Dog auf die Lichtung zurück und rief die anderen zur Versammlung.
Der Weg zum Kloster war nicht schwer zu finden, aber die einspurige Bergstraße hatte schon lange vor dem globalen Zusammenbruch keine Wartung mehr erfahren. Gletscherschmelzen und Gerölllawinen stellten den kleinen Konvoi vor Gefahren, denen sie noch nie im Leben begegnet waren. Angel brummte Cole ein Geschwindigkeitslimit von maximal fünfzig Kilometern pro Stunde auf, was Sharon überaus freute. Aufgrund der zusammengebrochenen Funkverbindung sollte er außerdem permanent in Sichtweite bleiben, um nicht nach einem Unfall vergessen zu werden, woraufhin Dog auf einmal Partei für ihn und seine waghalsigen Fahrmanöver ergriff.
Die hochstehende Sonne sorgte während des Tages für Unmut bei den Fahrern, da sie auf den Serpentinen im Minutentakt von vorn nach hinten und wieder zurück wanderte. Nachdem Angel ihrer Schülerin die gefährlichen Manöver zunächst nicht zumuten wollte, ließ sie sich aufgrund ihrer immer stärker werdenden Höhenangst doch dazu erweichen, Cassidy das Steuer zu übergeben.
Nur selten passierten sie verlassene Berghütten, kleine Wegschreine und gelegentlich ein unbekanntes Dorf, die ein unheimliches, ausgestorbenes Bild der ansonsten atemberaubend schönen Landschaft malten. Die Gegend lag weit von den großen Touristenzentren entfernt, besaß weder Skilifte noch Hotels und schien aufgrund ihrer Abgeschiedenheit bereits vor dem Weltuntergang kaum Verkehr gesehen zu haben. Auf den Straßen standen auch keine Elektroautos, die man von den Hauptverkehrsadern in den Ebenen der Wastelands gewohnt war. Die angeblich saubere Mobilitätsrevolution hatte im schwer zugänglichen Gebirge abseits der gut ausgebauten Autobahnpässe nur wenig Anklang gefunden.
Kniehohe, halbtrockene Gräser und verholzte Sträucher dominierten den hellbraunen Farbmix der Täler, an denen sich hin und wieder recht reproduktionsfreudige Schafsherden labten. Auf den strahlenden Felshängen sonnten sich graue Bergwölfe, die angesichts des Nahrungsüberschusses aus verwilderten Nutztieren ihren ehemaligen Lebensraum zurückerobert hatten. Auf den höher gelegenen Klippen sprang eine kleine Gruppe Bergziegen umher und lieferte sich lautstarke Zweikämpfe, deren zusammenstoßende Geweihe über das ganze Tal hinweg hörbar waren.
Sprachlos starrten die Reisenden auf die unberührte Natur und verfluchten die jahrelangen Konflikte, die im Angesicht einer solchen Pracht auf einmal furchtbar unbedeutend schienen. Allerdings hatte General Peterson Silver Valley bewusst in einer der trockensten Gegenden errichtet, die er finden konnte. In einem derartigen Paradies wären sie nur in absoluter Isolation vor den Gangs sicher gewesen und das kam für ihn nicht in Frage. Die engen Serpentinen und die unbegrenzte Anzahl von Aussichtspunkten boten zwar einen gewissen Schutz, hätten aber zu allem entschlossene Banden wie die Vultures oder Fanatiker wie die Snakes nicht von ihren Angriffen abgehalten. Dasselbe galt nun für die Sicarii, weshalb Angel bereits nach geeigneten Plätzen für Spähposten Ausschau hielt.
Cole und Sharon hatten ihre Sturzhelme abgenommen, um die saubere Bergluft bei der gemütlichen Fahrt in vollen Zügen genießen zu können. Cassidy bat Caiden ans Steuer und stellte sich in den Geschützturm des Humvees. Sie nahm ihre Sonnenbrille ab, breitete die Arme aus und ließ ihre langen, blonden Haare mit geschlossenen Augen im Fahrtwind wehen. Das unbeschreibliche Gefühl glich ihrer Vorstellung vom Schweben der Adler, die im Segelflug über den Tälern kreisten. Sogar Faith schien zum ersten Mal wieder so etwas wie Lebensmut zu verspüren und steckte ihren Kopf genau wie Caiden weit aus dem Fenster.
Doch plötzlich endete die surreale Fahrt durch das trockene Paradies, als Caiden den Fuß vom Gas nahm und den Humvee stoppte. Cole hatte umgedreht und kam direkt neben ihm zum Halten, was auch die Neugier der Vultures im Buggy hinter ihnen weckte.
»Was ist?«, fragte Dog, als er Angel mit ihrem Gewehr in der Hand aussteigen sah. Wortlos kletterte sie auf die Ladefläche des schweren Geländewagens, öffnete die Schutzklappen und blickte durch ihre Zieloptik. Die anderen konnten es mit bloßem Auge kaum erkennen, doch ihrem geschulten Scharfschützenblick waren die hellgrauen Klostermauern am Horizont nicht verborgen geblieben. Aufgrund der im Berg gespeicherten Wasservorkommen hatte die tieferliegende Gebirgsvegetation große Teile der Festungsmauern zurückerobert, so dass nur noch die Ruinen der Ecktürme über den Baumwipfeln emporragten. Hauptsächlich Nadelgewächse, die auch jahrelange Trockenperioden überstehen konnten.
»Nichts«, murmelte Angel unentschlossen. »Niemand zu sehen.«
Sie setzte ihr Gewehr stirnrunzelnd ab und wartete auf Coles Einschätzung, der als Einzelgänger hinter feindlichen Linien ebenfalls ein talentierter Beobachter war. Nickend bestätigte er kurz darauf ihre Aussage.
»Vielleicht hat Kim sich verfahren?«, fragte Sharon vorsichtig.
»Der Weg verlief seit der Lichtung nur geradeaus«, erwiderte Caiden kopfschüttelnd.
Misstrauisch beobachtete Angel die Greifvögel am Himmel auf der Suche nach Spionagedrohnen, aber jeder davon schien in regelmäßigen Abständen mit den Flügeln zu schlagen, um wieder an Höhe zu gewinnen.
»Lasst uns doch einfach nachsehen?«, schlug Dog vor. »Wenn da etwas schiefgelaufen wäre, hätten wir schon längst Wracks von dem Konvoi oder Rauchschwaden aus den Gemäuern gesehen.«
Angel wusste genau, auf was für dünnem Eis sie sich befand. Mit der Fahrt durch das Gebirge folgte sie bereits dem Pfad, den Jade für sie vorgesehen hatte. Ihr Gefühl wollte der Schwertkämpferin trauen, aber ihre Vernunft mahnte zu äußerster Vorsicht. Mangels Alternativen stimmte sie dennoch zu und setzte die Reise fort.
Aus ein paar Kilometern Luftlinie wurden in den engen Bergstraßen schnell anderthalb Stunden. Erst mit der hereinbrechenden Abenddämmerung erreichten sie die steile Kopfsteinpflasterauffahrt zum Kloster, die mit ihren scharfen Kurven für den geopferten Tanklaster unpassierbar gewesen wäre. Caiden stand genau wie Kalidas einsatzbereit am Bordgeschütz und Dog hatte sein Maschinengewehr auf dem Armaturenbrett des Buggys fixiert. Cole blieb ein paar Meter hinter ihnen zurück, da er bei einem Hinterhalt feindlichem Feuer ungeschützt ausgesetzt sein würde.
Plötzlich knisterte es im Unterholz abseits der Straße. Sofort richteten Caiden und Kalidas ihre Geschütze darauf aus, gefolgt von dem Poltern kleiner Äste, die unkontrolliert den steilen Berghang hinunterrollten.
»Nicht schießen!«, rief Cassidy schockiert und sprang bei laufendem Motor aus dem Humvee. Schützend stellte sie sich vor den zwölfjährigen Jesse, der wie versteinert nur wenige Meter neben der Auffahrt stand und sein fleißig gesammeltes Feuerholz vor Schreck fallengelassen hatte. Sofort sicherte Caiden das Bordgeschütz und winkte Kalidas zu, seinem Beispiel zu folgen. Einen Augenblick später tauchte Scott hinter Jesse auf und hüpfte freudig bellend um Cassidy herum.
Nacheinander trauten sich nun fünf weitere Kinder aus den Büschen. Die meisten von ihnen hielten ebenfalls trockenes Feuerholz in den Händen und strahlten von einem Ohr zum anderen, als sie Angel und Cassidy erkannten. Nachdem Cole zum Konvoi aufgeholt hatte, eskortierten die Jungen und Mädchen sie bis hoch zum Kloster, wo die Neuankömmlinge mit lauten »Sie sind hier! Sie sind hier!«-Rufen angekündigt wurden, ehe sie überhaupt den Torbogen passiert hatten.
Umgeben von einer dicken Mauer aus Natursteinen thronte im Zentrum der Anlage die standesgemäße Kirchenruine, die unzweifelhafte Ähnlichkeit mit dem Gotteshaus von Temple Town aufwies. Allerdings trotzten die Außenwände bis zu diesem Tag der erbarmungslosen Witterung. Lediglich das Dach fehlte, was auch beim Konventhaus links daneben der Fall war. In dem standhaften Gemäuer mit seinen kleinen Kachelfenstern pflegten die Mönche zu wohnen, bevor das Kloster vor einem Jahrhundert aufgegeben und zur Touristenattraktion umfunktioniert worden war.
Die Ankunft der Flüchtlinge hatte die Ruine inzwischen mit neuem Leben erfüllt. Ein knappes dutzend Lagerfeuer loderten zwischen den zusammengekehrten Trümmerhaufen, deren Grillgestänge einen appetitlichen Duft von geröstetem Fleisch und Brot ausströmten. Neben den Rangern und Zivilisten, die froh über die Rückkehr ihrer Anführerin waren, humpelte der alte Paul aus der Kapelle heraus, um Angel und ihre Kameraden zu begrüßen. Bei Dog und seinen Leuten schienen gerade die Bewohner aus Eagle Village etwas zurückhaltend, doch die Heldentaten von ihm, Faith und Caiden bei der Rettungsmission in Brackwood und der Verteidigung von Silver Valley waren längst in aller Munde. Enttäuscht verbreitete sich die Kunde, dass Angel keinen ihrer Familienangehörigen und Freunde zu retten vermocht hatte.
Nachdem sie weder Kim noch Butch in der Menge entdecken konnte, erklärte ihr Paul, dass die beiden eine Höhle nördlich des Klosters erkundeten, die Jesse mit ein paar anderen Kindern entdeckt hatte. Bei einer kurzen Erfrischung ließ Angel sich den Weg erklären und folgte anschließend ihren Kameraden, begleitet von Dog.
Der Pfad führte den Kopfsteinpflasterweg hinunter ins Tal und einen knappen Kilometer nördlich wieder hinauf. Anhand von abgebrochenen Zweigen und umgetretenem Gestrüpp konnte Angel mit Leichtigkeit erkennen, wo Butch mit seinen Bärentatzen entlang gestiefelt war. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis sie den überwucherten Eingang entdeckten und den Abstieg begannen.
Die Höhle war auf natürlichem Weg entstanden und wies keinerlei Nutzung als Touristenattraktion auf. Glitzernde Felsen reflektierten das kegelförmige Licht der Taschenlampen und führten sie über spiegelglatte Natursteine in die Tiefe. Nach ein paar Metern hatte Angel das Gefühl, an den Wänden nasse Hände zu bekommen, und die steigende Luftfeuchtigkeit bestätigte kurz darauf ihre Annahme, dass sie sich einer Wasserquelle näherten. Aus der Ferne drangen bereits Echos von bekannten Stimmen durch den engen Tunnel, in dem Dog ständig den Kopf einziehen musste.
»... Frage ist nur, wie lange das Wasser reichen wird«, brummte ein vertraut pessimistischer Tonfall.
»Länger als unsere Vorräte!«, erwiderte Angel ächzend, die sich gerade an einem gigantischen Felsbrocken vorbeizwängte. Sofort richteten sich zwei Taschenlampen auf sie, begleitet von einem bekannt klingenden Revolverklicken.
»Tolle Begrüßung!«, hallte Dogs Bassstimme durch die Höhle. »Dafür hab ich mich nun geopfert!«
Amüsiert half ihm Angel über den riesigen Stein und musterte anschließend interessiert die Felsgrotte. Die ovalen Ausmaße betrugen gut zwanzig Meter in der Länge und noch einmal fünf in der Breite, ohne dabei geringfügige Unregelmäßigkeiten mitzurechnen. Bis auf einen kleinen Gang entlang der Wände, auf dem man sich höchstens kriechend bewegen konnte, und eine spitze Insel im Zentrum war sie komplett mit Wasser gefüllt. Die leichte Oberflächenbewegung ließ die Lichter der Taschenlampen an der hellgrauen Gesteinsdecke in einem unheimlichen Ballett entlangwabern.
Kim und Butch kamen ihnen geduckt auf dem schmalen Grat entgegen, begrüßten Angel mit einer herzhaften Umarmung und Dog mit einem kräftigen Händedruck. Da die beiden Männer wahrscheinlich nicht mal im kalten Wasser aufrecht stehen konnten, setzten sie sich kurzerhand an den Rand.
Kim lagen unzählige Fragen auf der Zunge, aber die erste vermochte Angel ohne Nachzudenken zu erraten. Dogs Anwesenheit machte deutlich, dass sie Gefangene befreit hatten, doch nun musste sie ihr beichten, dass ihr Freund nicht darunter war.
»Jade? Diese Verrückte hat jetzt meinen Johnny?«, erwiderte Kim mit einer Mischung aus Entsetzen und Unglauben. »Wieso lässt die ihn über die Berge schleppen und dich wieder laufen?«
»Ich glaube nicht, dass es dabei um den Dicken geht«, versuchte Angel ausweichend zu erklären, was sie selbst nicht ganz verstand. »Angeblich wollten ihn die Truppenkommandeure als Rache für Monroes Feuerwerk und seine mangelnde Sklaventauglichkeit hinrichten lassen, doch sie ließ ihn stattdessen versorgen und abtransportieren. Ich denke, sie wird ihn als Druckmittel gegen mich einsetzen wollen.«
»Ein Druckmittel? Warum gegen dich?«
»Die Schlampe ist völlig durchgedreht!«, warf Dog grollend ein, was von der Höhle mit einem wütenden Echo gewürdigt wurde. Er war längst nicht über seine schmachvolle Rolle in Jades kleinem Spiel hinweg, aber damit Kim und Butch die Geschichte verstehen konnten, mussten sie beim Anfang beginnen.
Eine Stunde lang berichteten die beiden von ihren unterschiedlichen Erlebnissen der letzten Tage. Angefangen von der Zerstörung des Wüstenschlachtschiffs, dem verlorenen Duell in Brackwood bis zu den ausgebrannten Konvoiwracks. Kim bestätigte die Vermutung, den Tanklaster selbst gesprengt zu haben. Am Tag vor der Schlacht hatte die Nachhut der Ranger die herannahende Armee gemeldet, die genau zu wissen schien, wo sich der Konvoi befand. Das untermauerte Angels Befürchtungen von Spionen in den eigenen Reihen. Daraufhin hatte Kim die Eskorte geteilt und war mit einer Gruppe Freiwilliger zurückgeblieben, um den Verfolgern eine Falle zu stellen. Währenddessen führte Paul den Konvoi unbehelligt auf Schleichwegen um Eagle Village herum in die Berge und traf einen ganzen Tag vor Angel im Kloster ein.
Anders als die diszipliniert vorgehenden Angreifer von Silver Valley waren die Sicarii diesmal jedoch eher wie eine wilde Gang auf sie zugestürmt. Bei diesen Worten rieb sich Dog frustriert über das erschöpfte Gesicht und erklärte, dass die Vultures nun zum sogenannten Sicariianischen Imperium gehörten. Dadurch war die Frage nach der Herkunft der neuen Truppen beantwortet worden.
Am Ende verstand Kim aber noch immer nicht, warum ausgerechnet ihr handzahmer Johnny ein Kriegsgefangener bleiben musste, während Killermaschinen wie Dog und Faith freigelassen wurden. Nachdenklich starrte sie auf Jades Silberamulett, das Angel herumgereicht hatte.
»Und du bist dir sicher, dass sie uns nicht in eine Falle lockt?«, fragte sie gedankenversunken.
»Sicher? Wohl kaum«, antwortete Angel mit einem Kopfschütteln. »Wenn sie uns auslöschen wollte, hätte sie jedoch mehr als genug Möglichkeiten gehabt. Ich denke, sie verfolgt ganz eigene Pläne, die nicht unbedingt mit den Zielen der Armee übereinstimmen.«
»Willst du der Psychopatin jetzt etwa helfen?«, brummte Butch mürrisch, dachte dann aber einen Moment über seine Worte nach und fügte vorsichtig hinzu, »Glaubst du vielleicht, du kannst sie auf unsere Seite ziehen?«
Überrascht zog Angel die linke Augenbraue hoch. Auf die Idee war sie noch gar nicht gekommen, doch es wunderte sie auch nicht, dass gerade ihr erster Freund bei den Rangern diese Vermutung äußerte.
»Warum nicht?«, antwortete sie nachdenklich, wechselte anschließend aber das Thema. »Wenn wir uns stattdessen hier oben verstecken und einfach abwarten, werden die Sicarii irgendwann vor der Klostermauer stehen und uns den Rest geben.«
Dem stimmten ihre Kameraden voll und ganz zu. Die nächste Konfrontation musste im Feindesland erfolgen.
»Momentan erwartet Jade, dass wir das Gebirge überqueren, um unsere verschleppten Leute zu befreien. Genau das wollten wir doch ohnehin tun«, fuhr Angel fort. »Also lasst uns die Flüchtlinge versorgen und anschließend nach Norden aufbrechen.«
Kim gab ihrer Kameradin nickend das Silberamulett zurück und führte die Gruppe aus der Höhle hinaus. Das durch die Felsen sickernde Wasser hatte den unterirdischen Teich während der Gletscherschmelze entstehen lassen. Er würde nicht ewig zur Verfügung stehen, aber das Überleben der Menschen sichern, bis sie jenseits der Berge ein paar Antworten gefunden hätten.
***
Bei ihrer Rückkehr zur Klosterruine wartete bereits das Abendessen auf sie. Anthony hatte mit tatkräftiger Unterstützung von Kalidas ein bescheidenes Festmahl zubereitet. Der indischstämmige Koch vermochte gerade Ziegenfleisch in ungeahnte Köstlichkeiten zu verzaubern.
Angel blieben die besorgten, teilweise aber auch vorwurfsvollen Blicke der Menschen nicht verborgen. Warum war ausgerechnet ihrem Liebhaber die Flucht gelungen, während die verschleppten Einwohner von Silver Valley und Jaguar Bay einem Leben in Sklaverei entgegensehen mussten? Mit Ausnahme von Butch und Kim wusste noch niemand von dem Wiedersehen mit Jade und Angel wollte es auch dabei belassen.
Nach Einbruch der Dunkelheit versammelte sie ihre gesamte Führungsriege zur Lagebesprechung. Nacheinander ließ sie jeden zu Wort kommen und die Ereignisse der vergangenen Tage wiederholen, damit alle über denselben Informationsstand verfügten. Dieses Mal gestattete sie Jesse die Teilnahme nicht. Die neuen Entwicklungen waren einfach zu gefährlich und unsicher. Sie durfte nicht riskieren, dass die Sicarii von Jades doppeltem Spiel erfuhren. Sie vertraute dem aufgeweckten Jungen, aber er hatte keine Ausbildung zum Durchhalten eines feindlichen Verhörs erhalten. Sie erklärte Jesse, dass sein Ausschluss von der Besprechung ebenso seinem eigenen Schutz wie dem der Flüchtlinge galt, womit er sich vorerst zufriedengab.
Kim interessierte sich als leidenschaftliche Nahkämpferin sehr für den Hightech-Kampfstab und entdeckte einen versteckten Schalter, durch den man am oberen Ende eine zwölf Zentimeter lange, beidseitig geschliffene Klinge herausschnellen lassen konnte. Mit seinem perfekt ausbalanciertem Gewicht ließ sich die einmalige Waffe dadurch auch als Wurfspeer für die Jagd oder als Lanze benutzen.
Der alte Paul runzelte besorgt die Stirn, als er von Angels erneutem Duell erfuhr und gab zu Protokoll, wie wenig er davon hielt, Jades Vorschlägen zu vertrauen. Den anderen ging es ähnlich, aber niemand hatte eine echte Alternative vorzuweisen. Außerdem bestand die Gefahr, dass Jade beim Nichtbeachten ihrer Anweisungen das Interesse an Angel verlieren könnte - mit nicht absehbaren Konsequenzen für die Flüchtlinge.
Abseits der Gruppe nutzte Kim die Chance, sich bei Faith für ihre waghalsige Rettungsaktion während der Schlacht um Silver Valley zu bedanken. Faith erinnerte sich an ihr plötzliches Verlangen, einer Freundin zu helfen. Ein Gefühl, das sie als Bacchae der Sicarii kaum gekannt hatte. Ebenso wenig wie die tiefe Zuneigung zu einem anderen Menschen, bis Caiden beinahe vor ihren Augen erschossen worden wäre. Beide Male hatte sie instinktiv gehandelt und dabei ihre eigenen Leute ermordet. Sie hoffte aufrichtig, dass der naive Rotschopf nie von ihrer wahren Identität erfahren würde.
Als ihre Freunde schon längst schlafend in den umliegenden Ruinen lagen, hockte Angel auf einem der Festungstürme und ließ ihren Blick über die Kopfsteinpflasterstraße und das Gebirgstal zu ihren Füßen schweifen. Gedankenversunken starrte sie auf ihren mattgrauen Kampfstab, fuhr ihn mit einem Klicken aus und wieder ein, aus und wieder ein. Immer wieder, bis ihr Daumen zu schmerzen begann. Auch wenn es Truppen der Vultures waren, die Kims Konvoi aufgrund ihrer Ortskenntnis mit Leichtigkeit eingeholt hatten, mussten es doch die Sicarii gewesen sein, die über Kenntnisse aus den Reihen der Ranger verfügten. Es existierten demzufolge definitiv Verräter unter ihnen, die selbst in diesem Moment Informationen an den Feind weiterleiten könnten.