11 - Feindliches Territorium

 

 

Die Reise dauerte inzwischen mehrere Stunden und Angel bekam langsam Hunger. Immerhin hatte sie ja eine gefühlte Ewigkeit auf Cassidy und Jiao warten müssen. Mit zunehmender Sorge wühlte sie im mitgeführten Verpflegungspaket. Da gab es jede Menge Sandwiches mit süßer Konfitüre, Honig, Käse, Eier und natürlich Muffins aber kein einziges Stück Fleisch.

»Oh, das könnt ihr ja noch nicht wissen«, beantwortete Jiao ihre verdutzten Blicke. »Ich bin Vegetarierin und esse kein Fleisch.«

»Und warum?«, fragte Cassidy neugierig.

»Naja ... es ist totes Fleisch!«, erwiderte Jiao mit einem verständnislosen Schulterzucken. »Der Gedanke daran widert mich bereits an.«

»Wäre es dir lebendig lieber?«, stichelte Dog von der Rückbank, woraufhin Jiao frustriert seufzte.

»Natürlich nicht«, nörgelte sie hervor. »Keiner in der Biosphäre hat das je verstanden. Akzeptiert es einfach, okay?«

»Hast du nicht gesagt, die Hälfte von eurem Fleisch kommt aus dem Labor?«, wunderte sich Cassidy.

»Schon, aber auch dafür werden noch Stammzellen von echten Tieren gebraucht.«

»Agnes war Vegetarierin«, murmelte Angel nachdenklich und erinnerte sich dabei an ihre häufig missverstandene Freundin, nach deren gewaltsamem Tod sie die Seiten gewechselt hatte. »Dürfen wir in deiner Anwesenheit kein Fleisch essen?«

»Nein, so ist das nicht«, wiegelte Jiao ab. »Was ihr macht, ist mir egal, solange ihr die Tiere nicht vor meinen Augen ausweidet, aber eigentlich sollte ich ja allein auf diese Mission gehen, weswegen Maxwell mir nur vegetarisches Zeug eingepackt hat. In Arnac gibt es Fleisch zu kaufen, wenn ihr risikofreudig seid.«

»Kaufen?«, wiederholte Cassidy, die noch nie in ihrem Leben mit Geld bezahlt hatte. Daraufhin holte Jiao ein kleines Ledersäckchen hervor, in der Kupfermünzen mit dem Konterfei des ersten sicariianischen Imperators herumklimperten. Der Name Marcus Avianos war im Halbkreis hineingestanzt worden. »Die haben sich bereits kurz nach dem globalen Untergang vom Tauschhandel abgewandt. Damit kann man einfach kein größeres Reich kontrollieren.«

»Und die paar Kupferstücke werden stattdessen ohne Weiteres akzeptiert?«, argwöhnte Dog. »Die könnt ihr doch sicher selber herstellen!«

»Theoretisch, ja«, gab Jiao zu. »Aber ein Teil des Abkommens besagt, dass wir das nicht dürfen. Mit unseren Medikamenten und Forschungsunterlagen haben wir ohnehin mehr als genug Eigenkapital.«

»Wie lange gibt es die Sicarii eigentlich schon?«, fragte Angel.

»In der jetzigen Form als selbsternanntes Imperium seit zwei Jahrzehnten, allerdings existierten sie bereits lange vor dem Kollaps als isolationistische Weltuntergangssekte. Ihre Gemeinschaft besaß ein weiträumiges Farmland mit großen Viehherden und eigenen Industriezweigen, wie beispielsweise deren Ölquellen. Dort konnten sie fast alle Versorgungsgüter selbst produzieren und sich von der Welt abschotten. Nach dem globalen Zusammenbruch hatten sie regen Zulauf und sind aufgrund des Wegfalls staatlicher Autoritäten schnell zur Großmacht aufgestiegen. Seit dem haben die Sicarii ihr Reich immer weiter ausgedehnt, bis sie auf uns gestoßen sind.«

In diesem Moment begann das Funkgerät auf der Mittelkonsole zu knistern.

»Violet, hier Basis. Ihr nähert euch den Keltenhügeln. Fünf Klicks westlich befindet sich ein Sicariikonvoi im Gefecht mit unidentifizierten Angreifern.«

Gleichzeitig schaltete sich der Bildschirm ein und zeigte kurz darauf Livebilder einer Aufklärungsdrohne.

»Die beobachten uns?«, flüsterte Cassidy unruhig.

»Na sicher«, antwortete Jiao völlig selbstverständlich. »Dachtet ihr, mein Vater lässt mich ziehen, ohne mir permanent über die Schulter zu sehen?«

»Und nun?«, fragte Angel zurückhaltend und überließ vorerst bewusst Jiao die Entscheidungen.

Sie stoppte den Wagen und zoomte das Bild der Angreifer näher heran. Es schien ein knappes Dutzend Männer bewaffnet mit Baseballschlägern, Brechstangen und kleinkalibrigen Pistolen zu sein, die einen Konvoi aus zwei Pick-ups und einer alten Familienkutsche umstellt hatten. Den vielen Waren auf den Ladeflächen nach zu urteilen handelte es sich um zivile Händler, die über keine nennenswerte Eskorte verfügten und sich mit ein paar veralteten Jagdflinten zur Wehr zu setzen versuchten. Der Kombi war allerdings derart ungünstig zum Stehen gekommen, dass die Angreifer einen permanenten Flankenangriff durch eine breite Lücke zwischen den Wagen ausführen konnten, ohne sich selbst in echte Gefahr zu bringen.

»Das sind wahrscheinlich entflohene Häftlinge oder Sklaven. Die greifen uns genauso wie die Sicarii an«, erklärte Jiao. »Allein würde ich einen großen Bogen um sie machen; dafür ist die Luftüberwachung da. Aber wenn ihr wollt, können wir dem Konvoi helfen. Vielleicht beantworten die euch anschließend ein paar Fragen.«

»Wir sollen den Bastarden helfen!?«, rief Dog erzürnt.

»Das sind keine Soldaten«, versuchte Jiao ihn zu beschwichtigen. »Nicht alle eroberten Landstriche werden so verwüstet wie eure Siedlungen. Viele ergeben sich, lange bevor es zu einem Vernichtungskrieg kommt, und versuchen, sich danach so gut es geht zu integrieren.«

»Die könnten also selbst von den Sicarii unterworfen worden sein?«, fragte Cassidy. Angel vermochte bereits deutlich das Mitleid für die vollkommen unterlegenen Händler in ihrer Stimme zu hören.

»Vermutlich«, antwortete Jiao nickend. »Wir sind hier nicht im Heimatgebiet des Imperiums. Das liegt viel weiter im Westen.«

»Dann helfen wir ihnen«, entschied Angel. »Aber ich will beide Seiten befragen können. Also schießt nur, wenn die uns keine Wahl lassen!«

Dog glaubte noch immer nicht, dass er plötzlich seine Feinde verteidigen sollte, allerdings vertraute er dem Urteilsvermögen seiner Gefährtin mehr als seinem eigenen Stolz. Cassidy starrte in einer Mischung aus morbider Faszination und Anspannung über den bevorstehenden Kampf auf den Bildschirm, während sie blind ihr Sturmgewehr entsicherte und den Sicherheitsgurt löste. Jiao zeigte sich angenehm überrascht von Angels Pragmatismus, von der sie eigentlich erwartet hatte, dass sie ihrem fanatischen Hass auf die Zerstörer ihrer Heimat nachgeben würde. Sie ließ den Motor aufheulen und jagte den dreieinhalb Tonnen schweren Geländewagen die Hügelkette hinauf.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis sie die Schreie und Schüsse des Kampfgetümmels vernahmen und kurz darauf von einer Anhöhe auf das Gefecht hinabstürzten. Angel hatte die Landschaft die ganze Zeit mit einem mulmigen Gefühl betrachtet. Die Position war für einen Hinterhalt geradezu prädestiniert. Hohe Gesteinsformationen, enge Straßenverhältnisse mit vielen Winkeln und dutzende Autowracks hinter denen Angreifer ihrer Beute auflauern konnten. Allein wäre sie niemandem derart blind zu Hilfe geeilt und sie hoffte inständig, dass die Luftüberwachung keinen Heckenschützen übersehen hatte.

Der riesige Geländewagen sorgte bereits mit seinem einschüchternden Auftritt für eine kurze Unterbrechung des Kampfes. Banditen und Händler renkten sich gleichermaßen die Köpfe aus, als der schwarze Straßenkreuzer mit einer gewaltigen Staubwolke im Schlepptau hupend und mit blitzenden Scheinwerfern die Straße hinunterpreschte. Die Sicarii erlangten als erste die Fassung zurück und nutzten die Feuerpause, um ihre Waffen nachzuladen.

Jiao kam hinter dem wahllos zusammengewürfelten Konvoi zum Stehen und schloss damit die Flanke, auf die sich die Angreifer zuvor eingeschossen hatten. Nachdem ihre Kugeln nahezu wirkungslos an dem Neuankömmling abprallten und die Händler nicht länger feuerten, stürmten die Banditen kurzerhand mit ihren Baseballschlägern und Brechstangen auf die durchlöcherten Fahrzeuge zu. Angel stieg auf der dem Konvoi zugeneigten Seite aus, beorderte Cassidy als Feuerschutz zu den Sicarii und ließ ihren silbergrauen Kampfstab auf seine volle Länge herausschnellen. Mit einem großen Satz sprang sie über die Motorhaube, erwischte dabei den ersten Angreifer mit den Füßen und einen zweiten mit einer Stabdrehung.

Dog saß auf der gefährlicheren Fahrerseite des Geländewagens, doch das störte ihn nicht im geringsten. Er wartete, bis der erste Wegelagerer an seiner Tür zerrte, und stieß sie mit voller Wucht auf, was den ausgemergelten Mann für einen Moment ins Land der Träume schickte. Der Hüne schnappte sich sofort den nächsten, der mit einer Brechstange auf ihn einzuschlagen versuchte, da knallte es hinter ihm. Der Angreifer heulte getroffen auf und stürzte röchelnd zu Boden. Die Sicarii hatten ihre Jagdflinten neu geladen und nahmen die Banditen im Schutz der Neuankömmlinge wieder aufs Korn. Bevor Dog sich über den gefährlich nah an seiner Hüfte vorbeigerauschten Schuss beschweren konnte, musste er sich schon gegen das erwachte Türopfer wehren, der ihm beinahe ein Messer in die Wade gerammt hätte. Wütend schlug ihm der Hüne die Klinge aus der Hand und schleuderte ihn kurzerhand quer über die Straße.

Jiao war inzwischen durch das Dachfenster aus dem Wagen geklettert und schwang sich mit einem gewagten Manöver hinter Angel, die es mit gleich drei Angreifern zu tun bekommen hatte. Ihr Kampfstil ähnelte Kims Techniken, was aufgrund ihrer fernöstlichen Herkunft kaum verwunderte. Doch obwohl sie mitunter blitzschnelle Ausweichmanöver und gut gezielte Handkantenschläge platzieren konnte, wirkte sie alles andere als in ihrem Element. Sie schien eher einer einstudierten Choreografie zu folgen, als instinktiv auf ihren Gegner zu reagieren. Ihr Talent lag ganz klar bei den Hightech-Maschinen der Biosphäre und nicht im staubigen Straßenkampf, weshalb sie sich darauf konzentrierte, Angel den Rücken zu decken, ohne selbst in die Offensive zu gehen.

Die Sicarii staunten unterdessen nicht schlecht, als Cassidy in ihre Stellung hineinrutschte und ihnen Befehle zu erteilen begann. Ein paar der Angreifer waren zurückgeblieben und nicht dem Drang erlegen, sich im Nahkampf auf die Störenfriede zu stürzen. Cassidy versuchte sie mit gezielten Schüssen gegen die Felsen, hinter denen sie sich verschanzten, niederzuhalten, um sie nicht töten zu müssen. Natürlich wussten die Wegelagerer das nicht, und als sie Hals über Kopf die Stellung wechselten, boten sie den Sicarii ein perfektes Schussfeld, die keinerlei humane Absichten verfolgten.

Das Gefecht dauerte keine fünf Minuten, dann war der Kampfeswille der ausgezehrten Banditen bereits gebrochen. Geradezu kopflos löste sich die Gruppe auf und flüchtete in alle Himmelsrichtungen. Angel brüllte ihnen nach, stehenzubleiben, doch niemand hörte auf sie. Stattdessen erhoben sich die drei überlebenden sicariianischen Händler und schossen den davonlaufenden Angreifern in den Rücken.

»Feuer einstellen!«, befahl Angel, aber es war schon zu spät. In den unübersichtlichen Pfaden der Hügelkette war es selbst mit Hilfe der Luftunterstützung unmöglich, sie gefahrlos zu verfolgen. Frustriert und erschöpft ließ Angel ihren Kampfstab zusammenschnellen und betrachtete die zurückgebliebenen Opfer genauer.

»Danke Freunde!«, rief ein stark übergewichtiger, in eine orangefarbene Kutte gekleideter Sicarii. »Ohne euch hätten uns diese Schweine sicher alle umgebracht!« Anschließend warf er einen verächtlichen Blick auf seine gefallene Eskorte und fügte mit gerümpfter Nase hinzu, »Diese verdammten Söldner aus Persephone. Zu nichts zu gebrauchen!«

»Wer waren die?«, wollte Jiao wissen. »Einfache Wegelagerer arbeiten nicht in derart großen Gruppen.«

»Oh, das waren keine simplen Banditen!«, bestätigte der Händler nickend, wobei sein Doppelkinn hoch und runter schwappte. »Diese Mistkerle stammen aus einem Sklavenlager in der Nähe von Arnac. Angeblich gab es da einen Aufstand, nachdem dort zu viele Kriegsgefangene aus dem Süden hineingepfercht wurden.«

»Süden?«, wiederholte Angel. »Von dem Feldzug gegen die Ranger?«

»Davon weiß ich nichts. Ich interessiere mich nicht für deren Namen, nur für die Kriegsbeute!«, antwortete der Sicarii lachend und zeigte auf seinen schwer beladenen Pick-up. In diesem Augenblick vernahmen sie das Gurgeln eines der für tot gehaltenen Angreifer, der sich hinter dem schwarzen Geländewagen hervorquälte und seine Hand nach Cassidy ausstreckte. Sie beugte sich bereits zu ihm runter, da donnerte ein Schuss aus dem Gewehr des fetten Händlers heran und traf den jungen Mann mitten in die Brust.

Nun reichte es Angel. Sie zückte ihre Pistole, zielte auf den eben geretteten Sicarii und befahl Dog mit einem Kopfnicken, die drei zu entwaffnen. Jiao holte zum ersten Mal ihre vernickelte Handfeuerwaffe hervor und unterstützte Angel ohne Widerrede. Verständnislos ließen die Händler ihre Gewehre fallen und lehnten sich mit erhobenen Händen rückwärts an ihre Wagen.

»Cassidy ...«, röchelte der getroffene Mann. »Du lebst ...«

»William?«, japste das Mädchen entsetzt, als sie den besten Freund ihres Bruders unter dem verkrusteten Blut und Schmutz auf seinem Gesicht erkannte. Sie rief nach Angel und versuchte seine Blutung zu stoppen, und obwohl ihre Mentorin wusste, dass es bereits zu spät war, presste sie gemeinsam mit ihrer Schülerin auf die Wunden.

»Wo kommt ihr her?«, fragte Angel ruhig, ohne dabei ihre medizinische Hilfe zu vernachlässigen. »Wie viele seid ihr? Wer führt euch?«

»Ranger ... Vultures ... Aufstand ...«, bemühte sich William zu antworten, doch sein Bewusstsein entglitt ihm unwiederbringlich. Mit dem letzten Atemzug hauchte er Cassidy ein Wort entgegen, dass ihr und Angel einen Adrenalinstoß mitten ins Herz versetzt: »Johnny!«

Cassidy fühlte, wie er in ihren Armen zusammensackte und leblos zu Boden sank. Einen Augenblick lang standen ihr die Tränen in den Augen, doch dann riss sie ihr Sturmgewehr vom Rücken und zielte wutentbrannt auf die Sicarii.

»Wer zum Teufel seid ihr?«, fragte der Händler mit dem Doppelkinn. Dog und Jiao hielten die drei noch immer regungslos von zwei Seiten in Schach.

»Deine Entscheidung«, flüsterte Angel ihrer Schülerin zu und würdigte die verängstigten Männer dabei keines Blickes.

Cassidy erinnerte sich an ihre Lektion in Sienna, wo Angel kaltblütig zwei Vultures erschossen hatte, damit sie ihr Team nicht verraten konnten. Nun waren die Positionen vertauscht und Cassidy musste zum ersten Mal selbst über eine Hinrichtung entscheiden. Trotz der Sonnenbrille vermochte sogar ein Blinder die Trauer und die Wut um den verlorenen Freund in ihrem jungen Gesicht abzulesen.

Für Dog war die Sache klar. Wenn Cassidy den Abzug nicht betätigen wollte, würde er mit Vergnügen den Henker für sie spielen. Das Mädchen blickte zu Jiao, die sich die ganze Zeit nicht einen Millimeter gerührt hatte. Sie war ein paar Jahre älter als Cassidy, aber weitaus naiver, was die Konflikte in der Endzeitwelt anging, wie sie am heutigen Tag festgestellt hatte. Noch vor zwölf Stunden hätte sie die Sicarii ohne Frage laufen lassen, doch inzwischen verstand sie, dass es um deutlich mehr ging, als ihre Neutralität zu wahren. Sie stand mit dem Rücken zu Cassidy, den linken Arm eng am Körper, den rechten ausgestreckt und mit der vernickelten Pistole in der Hand auf die verängstigten Männer gerichtet. Sie drehte ihren Kopf herum, blickte durch ihre violette Haarsträhne hindurch und war froh, nicht selbst entscheiden zu müssen. Die Sprachlosigkeit ihres Vaters verwunderte sie ein wenig, denn eigentlich mischte er sich in nahezu alle ihre Reisen ein. Sie war vollkommen davon überzeugt, dass er das Geschehen vor seinen Bildschirmen mitverfolgte.

»Verschwindet!«, entschied Cassidy schließlich und senkte ihr Gewehr. Etwas unsicher darüber, ob auch der schnaufende Hüne ihrer Anweisung auf freien Abzug folge leisten würde, sprangen die Händler schnellstmöglich in ihre beiden Pick-ups und sahen zu, dass sie Land gewannen. Die Familienkutsche ließen sie zurück, da Jiao den Wagen völlig eingeparkt hatte und sie viel zu eingeschüchtert waren, um dagegen zu protestieren.

»Willst du ihn begraben?«, fragte Angel und strich ihrer Schülerin dabei über die Schultern.

»Hätte ich sie erschießen sollen?«, erwiderte Cassidy. »Was ist, wenn die uns jetzt verraten?«

»Dann werden wir mit den Konsequenzen leben«, antwortete ihre Ausbilderin, ohne ihr unrealistische Hoffnungen auf eine Läuterung der hochnäsigen Händler zu machen. »Das bedeutet es, Entscheidungen zu treffen.«

An Angel war wirklich keine Seelsorgerin verloren gegangen, aber es war gerade die unbequeme Offenheit, aufgrund derer Cassidy ihr vollkommen vertraute.

»Wichtig ist, dass du dir morgen noch in den Spiegel sehen kannst«, fügte sie hinzu, was von Jiao mit großer Anerkennung gewürdigt wurde.

Für ein echtes Begräbnis fehlte ihnen die Zeit, daher reihten sie die Toten abseits der Straße auf. William erhielt von Cassidy ein Schild mit seinem Namen und einem Abschiedsgruß von Caiden und ihr. Angel legte eine Nachricht für Johnny dazu. Sie verfasste sie anonym, bezeichnete ihn stattdessen als den Dicken, was er definitiv verstehen würde, und unterzeichnete als Vulturebraut, obwohl sie diese Bezeichnung immer gehasst hatte. Sie wies ihn an, keinesfalls impulsive Eigenaktionen durchzuführen, sondern auf ihr Signal zu warten. Über den Verbleib des Rettungskonvois und seiner Freundin Kim hielt Angel sich bedeckt, da es keine Garantie gab, dass er die Botschaft auch wirklich erhalten würde. Insgeheim schöpfte sie wieder Hoffnung. Johnny besaß ein außergewöhnliches Improvisationstalent und könnte die Sicarii wochenlang beschäftigen, sollte es nötig werden.

 

***

 

Die Sonne hatte sich während des ungeplanten Gefechts stetig dem Horizont genähert und Jiao drängte zur Eile, wenn sie nicht bei Nacht mitten durch das Sicariigebiet fahren wollten. Kaum hatten sie die felsige Einöde verlassen, säumten hochstehende Getreidefelder und dicht verschlossene Gewächshäuser beide Seiten der Straße. Die drei Meter hohen Zäune erinnerten Angel an die Absperrungen der Farm im Süden von Silver Valley, wunderten sie nach dem gerade erlebten Überfall aber nicht. Am Straßenrand patrouillierten zwei bewaffnete Männer mit einem Schäferhund, die den hochmodernen Geländewagen beim Vorbeifahren argwöhnisch begutachteten.

»Die gehören schon zu Charles«, erklärte Jiao, nachdem sie den Wachen aus dem offenen Fenster zugewunken hatte.

»Wie schaffen die es, dass das Getreide so gut wächst? Regnet das bei euch noch öfter?«, fragte Angel.

»Nur sehr selten«, antwortete Jiao »Aber die Sicarii haben die Formel für ein besonderes Bodensubstrat wiederentdeckt, das wie ein Schwamm wirkt und das Wasser zwanzig Zentimeter unter der Erdoberfläche hält. Es kann weder versickern noch verdunsten und war ursprünglich für extrem heiße Wetterverhältnisse in Wüstengebieten entwickelt worden. Charles‘ Leute müssen die Bewässerungskanäle nur alle vier Wochen bei Nacht fluten.«

»Woher bekommen die das viele Wasser?«

»Über ein Pumpsystem aus unterirdischen Vorkommen. Die gewaltigen Reserven sind ironischerweise dank der Klimaerwärmung und der darauffolgenden Gletscherschmelze entstanden«, erklärte Jiao. »Allerdings werden auch diese Quellen nach unseren Berechnungen in fünf bis sieben Jahren versiegen.«

»Und wie kommt er zu so einer riesigen Farm?«

 »Das Land hier gehörte seiner Familie bereits vor dem globalen Zusammenbruch, und soweit ich weiß, war er ganz froh, als die Sicarii kamen und für Ordnung sorgten.«

»Er war froh darüber, versklavt zu werden?«, fragte Cassidy überrascht, woraufhin Jiao lachend mit dem Kopf schüttelte.

»Früher war das hier alles mal ein riesiger Agrarbetrieb, dessen Land Charles an kleinere Unternehmer verpachtet hat. Als die Welt zusammenbrach, sorgte er für ausreichenden Schutz, indem er Söldner anheuerte, die er mit gesicherter Verpflegung bezahlen konnte, was damals ja keine Selbstverständlichkeit war. Im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus eine feste Gemeinschaft, fast wie ein richtiges Dorf«, erzählte Jiao. »Nach und nach kapselten sie sich immer mehr ab und trieben am Ende nur noch Handel mit unserer Biosphäre. Im Gegenzug haben wir seine Söldner unterstützt und seine Leute von Doktor Webb versorgen lassen. Allerdings gab es sehr oft Übergriffe von irgendwelchen Gangs, den Neces oder neuerdings den Ragnars aus dem Norden, die wir nicht alle für Charles ausräuchern konnten und die für seine Miliz einfach zu viel waren. Dann kamen die Sicarii.«

Jiao zeigte aus ihrem Fenster auf große Getreidesilos, Scheunen und Viehställe am Horizont, um ihre Ausführungen zu untermalen.

»Bevor die Sicarii uns den Krieg erklärten, haben sie erstmal diese Provinz erobert und dabei wirklich ganze Arbeit geleistet. Die meisten Gangs wurden zerstört oder in die Flucht geschlagen, die Neces haben sie in die Großstadtruinen zurückgetrieben und die Ragnars lassen sich auch nur noch selten blicken«, fuhr sie fort. »Der Gemeinschaft von Charles boten sie eine privilegierte Partnerschaft an. Offiziell gehört sein Land zwar zur Provinz Cor Decat und untersteht dem derzeitigen Militärgouverneur von Arnac, in Wirklichkeit ist Charles aber Herr in seinem eigenen Haus geblieben, solange er die sicariianischen Gesetze befolgt.«

Bei einem Blick in die Runde konnte Jiao deutlich sehen, wie sehr Cassidy und Dog von dem politischen Geschwätz der Kopf brummte. Nur Angel nickte ihr im Rückspiegel nachdenklich zu.

»Und die halten sich an ihre Abmachungen?«

Jiao rieb sich über ihr Kinn und lenkte den Wagen von der asphaltierten Straße auf einen holprigen Feldweg, an dessen Ende der ehemalige Agrarbetrieb auf sie wartete.

»Meistens, aber nicht immer«, gab sie zu. »Während des Krieges galt das Land von Charles als neutrales Territorium. Trotzdem konnten wir hin und wieder Militärkonvois hindurchfahren sehen. Manchmal haben sie hier sogar ihre Truppen gesammelt und gehofft, dass wir uns daran halten. Außerdem sind da noch die Bacchae, die jeden Vertrag nach Belieben übertreten dürfen.«

Jiao lenkte den Geländewagen an den Getreidesilos vorbei, stoppte vor einem rustikal anmutenden Herrenhaus und fügte ernst hinzu, »Und jetzt setzen sie wohlmöglich ohne unsere Erlaubnis Drohnen ein.«

Bevor Angel antworten konnte, stieg sie mit einem schwarzen Lederbeutel in der Hand aus und hielt auf die staubige Terrasse des luxuriösen Landsitzes zu, auf der sie bereits von einem älteren Mann mit gepflegter Halbglatze erwartet wurden. Er saß in einem antiken Rollstuhl ohne jegliche Elektronik und wirkte etwas misstrauisch, als Jiao die drei Stufen zu ihm heraufeilte.

»Charles!«, rief ihm die Asiatin entgegen und kniete sich mit einem Bein auf den Boden, so dass sie sich mit dem alten Herrn auf Augenhöhe befand. »Wie geht‘s der Gesundheit?«

Angel hielt die Vorstellung beinahe für eine Unterwerfungsgeste, bis Jiao ihm mit erhobenem Haupt die Hand schüttelte und sogleich wieder aufstand.

»Wer sind die?«, fragte Charles wortkarg und deutete mit seinem knöchrigen Zeigefinger auf Cassidy, die mit den anderen Passagieren beim Wagen geblieben war.

»Freunde von mir. Aus dem Süden«, antwortete Jiao und setzte sich auf die oberste Terrassenstufe, wie eine Enkelin neben ihren Großvater. »Die wollen sich in Arnac etwas umsehen.«

»Hmph!«, grunzte Charles. Er glaubte ihr ganz offensichtlich kein Wort. »Die haben Arnac wegen des Sklavenaufstands dichtgemacht. Da kommst du nicht mehr rein.«

»Deswegen sind wir hier«, sagte Jiao nickend und drehte sich zu ihm um. »Leihst du mir nochmal einen deiner Wagen?«

»Ach verdammt Jiao«, fluchte der alte Mann und rieb sich über die funkelnde Halbglatze. »Du kannst nicht alle paar Wochen bei mir reinschneien und mit meinem Pick-up quer durch das Land fahren. Irgendwann werden die misstrauisch und am Ende bin ich meine Farm los!«

Jiao schien seine ablehnende Haltung bereits erwartet zu haben. Schmunzelnd zog sie eine versiegelte Flasche mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit aus ihrem Lederbeutel heraus.

»Kann ich dich vielleicht mit einem fünfzig Jahre alten Brandy bestechen?«

Grummelnd betrachtete Charles das verwitterte Etikett und nickte kurz darauf in die Richtung einer der Scheunen.

»Du bist ein Schatz!«, sagte Jiao und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

Während sich der Alte über die bedrohlich nachgebenden Terrassenbretter in sein Haus zurückkämpfte, rief er Jiao hinterher, »Sam bräuchte außerdem mal wieder etwas Hilfe bei meinen Sonnenkollektoren!«

Ohne auf eine Antwort zu warten oder überhaupt den Kopf zu drehen, verschwand er hinter einer massiven Doppeltür aus Edelhölzern, die von einer Frau in Dienstmädchenuniform aufgehalten wurden. Jiao stieg wieder ein und fuhr auf die größte Scheune der Anlage zu. An den geöffneten Toren erwartete sie ein großer, dunkelhäutiger Mann mit spiegelnder Glatze und freiem Oberkörper.

»Schön dich mal wiederzusehen, Viola!«, rief er ihnen entgegen und knetete dabei einen öligen Lappen durch, um sich die Hände zu säubern.

»Böser Sklave! Du sollst mich nicht so nennen!«, entgegnete ihm Jiao beim Aussteigen mit erhobenem Zeigefinger, begann aber einen Moment später zu lachen und schüttelte ihm die Hand. »Wie sieht der Wagen aus?«

»Klapprig wie immer«, erwiderte der Mann schulterzuckend und schlug die Motorhaube des Pick-ups zu, an dem er bis eben gearbeitet hatte. Der Wagen besaß wie Butchs Prachtstück eine zweite Sitzreihe, war aber bei weitem nicht so lang und opferte stattdessen einen Teil der Ladefläche dafür. Mit seiner matten, eierschalenfarbenen Lackierung fiel er im hellen Wüstensand überhaupt nicht auf. Angel, Cassidy und Dog versteckten ihre großkalibrigen Waffen auf dem Heck unter einer fest verzurrten Kunststoffplane. Nur die Pistolen und den grauen Kampfstab behielten sie bei sich. Mit der Hilfe des verschwitzten Arbeiters dauerte das Umladen der Wasserkanister und Verpflegungspakete nur ein paar Minuten. Zusätzlich tauschten sie drei verbrauchte Wasserstoffflaschen gegen gefüllte aus, um schon mal die Rückfahrt vorzubereiten. Etwas zögerlich erklärte Jiao, dass sie häufig Zwischenstation auf der Farm von Charles machte, wenn sie im sicariianischen Territorium unterwegs war, und deswegen immer einen kleinen Vorrat an Gasflaschen einlagerte. Zum Schluss nahm sie das Foto ihrer Mutter vom Armaturenbrett und ließ es unter ihrem Poncho verschwinden.

»Danke dir! Ich werd Leon mit unseren Technikern bei dir vorbeischicken, sobald sie Zeit haben«, sagte sie beim Einsteigen in den Pick-up. »Und sag Charles, dass er dich nicht so sehr herumkommandieren soll!«

»Als wenn ich da eine Wahl hätte!«, rief ihr der dunkelhäutige Mechaniker lachend hinterher.

Als sie anschließend am Herrenhaus vorbeifuhren, konnten sie den Rollstuhlfahrer am Panoramafenster seines Wohnzimmers sehen. Charles sah ihnen missmutig nach, als erwartete er, seinen Wagen nie wiederzusehen.

»Das war ein Sklave?«, fragte Cassidy ungläubig, als sie wieder auf die Fernverkehrsstraße abbogen.

»Wer? Sam? Ja klar«, antwortete Jiao und nickte wie selbstverständlich. »Die Hälfte der Arbeiter von Charles sind seine Sklaven.«

Angel und Dog schienen sich mit den neuen Sitzverhältnissen zu arrangieren, die wesentlich unbequemer als die des Luxusgeländewagens waren. Drei widerspenstige Federn ragten aus der Rückbank, die ihnen bei einem unachtsamen Ausstieg mit Sicherheit die Hosen aufreißen würden. Auch die Seitenfenster fehlten komplett und bliesen permanent Staub ins Wageninnere. Trotz seiner klapprigen Außenhaut wies der Pick-up immerhin funktionierende Sicherheitsgurte auf und die junge Fahrerin bestand erneut darauf, sie zu benutzen.

»Bin ich die Einzige, die das stört?«, beschwerte sich Cassidy und starrte ihre Ausbilderin vorwurfsvoll an. Dog begann hämisch zu grinsen und nahm vorsichtshalber die Arme hoch, um einem drohenden Angriff seiner Gefährtin zu entgehen.

»Wir wussten doch, dass die Sicarii Sklaven für sich schuften lassen«, seufzte Angel.

»Ja aber, das könnten unsere Leute sein!«

»Ganz bestimmt nicht«, warf Jiao kopfschüttelnd ein. »Kriegsgefangene werden nicht einfach auf den Märkten verkauft. Die kommen in Arbeitslager, wie das, was euer Freund scheinbar übernommen hat. Sam blieb die Wahl zwischen vier Jahren Gefängnis oder zweieinhalb Jahren Sklavenarbeit. Er hatte nicht viel zu verlieren, und soweit ich weiß, wird Charles ihn nach Beendigung seines Vertrages auf dem Hof anstellen.«

»Gefängnis?«, wiederholte Cassidy verdutzt. »Was hat er denn verbrochen?«

Jiao lachte für einen Moment, als würde sie sich an eine alte Geschichte erinnern.

»Er hat mit einer kleinen Bande Händler überfallen und war ziemlich erfolgreich, bis ihm irgendwann die Idee kam, seine Operationen an unsere Grenze zu verlegen. Wir sind die einzigen, die seltene Handelsgüter wie hochentwickelte Medizin herstellen können. Er dachte, er könnte ganz groß absahnen, wenn er ein paar Kisten Aspirin erbeuten würde. Womit er nicht gerechnet hat, war, dass Danny und ich plötzlich über seinem Kopf aufgetaucht sind. Da er uns keinen Schaden zugefügt hat, haben wir ihn an die Sicarii ausgeliefert. Nun arbeitet er seine Strafe auf Charles‘ Hof ab«, erklärte Jiao. »Er war kein mordlüsterner Schwerverbrecher, sondern brauchte lediglich einen Tritt in den Hintern.«