3 - Revanche
Mit den ersten Sonnenstrahlen rief Angel die Geschwister zum Frühstück. Caiden empfand ein Gefühl der Dankbarkeit, nicht länger mit seinen Gedanken allein zu bleiben. Er hatte ohnehin kaum ein Auge zugetan. Cassidy hingegen wehrte sich standhaft gegen den viel zu frühen Morgengruß, bis Angel ihr damit drohte, den Humvee nicht mehr fahren zu dürfen.
Im Licht der Morgensonne erstrahlte der verlassene Gutshof mit seinen weitläufigen Feldern und Weiden beinahe wieder in alter Pracht, auf denen so weit im Norden seit über zwanzig Jahren unkontrollierter Wildwuchs herrschte. Ein holpriger Trampelpfad, der wohl noch von Pferdekutschen angelegt worden war, führte den mürrisch grollenden Geländewagen kurz darauf zurück zur asphaltierten Hauptverkehrsstraße in Richtung Brackwood. Den ganzen Tag lang behielt Angel den Himmel im Auge, immer auf der Suche nach unbemannten Aufklärungsdrohnen, die ihre Ankunft vorzeitig verraten könnten. Der Krieg zwischen Sicarii und Vultures war mit Sicherheit noch nicht entschieden und die Gegend daher äußerst gefährlich. Umsomehr wunderte es Angel, dass sie auf keinen einzigen Nachschubkonvoi stießen. Eine Belagerung des massiven Gefängniskomplexes, den die Vultures zur Festung ausgebaut hatten, dürfte selbst mit Hilfe moderner Infanterieartillerie eine Weile dauern.
Unbehelligt und hoffentlich unbemerkt jagte Cassidy den schweren Humvee stundenlang durch die leblose Einöde, die nur selten von Fernfahrerrasthöfen oder Abzweigungen in verlassene Großstädte unterbrochen wurde. Ihr war äußerst unwohl beim Gedanken an eine Rückkehr nach Brackwood, wo sie die Sicarii zwei Tage lang in ein dunkles Kellerverlies gesperrt hatten. Besonders die jungen und attraktiven Frauen von Eagle Village waren schnell der Panik verfallen und fürchteten Vergewaltigungen, wie sie bei den Vultures und anderen Gangs häufig vorkamen. In der Tat beäugten die Wärter sie ständig mit lüsternen Blicken, tauschten anzügliche Bemerkungen aus und drohten bei Ungehorsam mit allerlei kreativen Züchtigungsmaßnahmen; und doch hatten sie es nie zum Äußersten kommen lassen. Nachdem sich Jesse unbemerkt durch einen Spalt in der Gefängnistür gequetscht hatte, berichtete er von Gesprächen, in denen sich die Männer vor der Vergeltung seitens ihrer Vorgesetzten fürchteten, sollten sie sich an den Frauen vergehen. Cassidy wurde schon damals bewusst, dass die Sicarii keinem der bekannten Gangprofile entsprachen, die man im Geschichtsunterricht von Silver Valley lehrte. Sie bereute es, Angel nicht davon erzählt zu haben, aber vor einer Woche lagen ihre Prioritäten noch ganz woanders.
Nach der sechsstündigen, beschwerlichen Reise durch die Steppenlandschaft erreichten sie die ersten Vororte von Brackwood im einfachen Holzbaustil, die sich die Natur schon kurz nach dem globalen Untergang vor dreiundzwanzig Jahren zurückerobert hatte. Um nicht denselben Zufahrtsweg wie bei Cassidys Rettung zu nutzen, führte Angel sie auf einem großzügigen Umweg von Norden an die Stadt heran. Kniehohes, gelbgrünes Gras wucherte aus den verlassenen Häusern, deren Überreste den Straßenrand säumten. Häufige Sandstürme hatten die Dächer abgetragen und die oberen Etagen zu Nistplätzen von Raubvögeln werden lassen, die in den Ruinen einen täglichen Kampf um Mäuse und Ratten gegen die herumstreunenden Katzen führten. Tausende zerbrochene Dachziegel knirschten unter den breiten Reifen des schweren Geländewagens, der sich mit majestätischer Behäbigkeit einen Weg durch die verwahrlosten Straßen bahnte. Argwöhnisch betrachtete Angel die zerstörten Fenster und vermutete insgeheim einen Hinterhalt, noch bevor sie die Stadt überhaupt betreten hatten; doch nichts dergleichen geschah. Es schien, als wäre der Krieg schon beendet und die Sicarii weitergezogen.
Gut zwei Stunden vor Einbruch der Abenddämmerung versteckten sie den Humvee im Wohnzimmer einer Doppelhaushälfte, deren Front in Folge einer Explosion des Gastanks im Kellergeschoss herausgerissen worden war. Vom Dachboden aus konnte Angel bereits die Ruinenlandschaft von Brackwood erkennen. Sofort fiel ihr der zusammengestürzte Wohnblock auf, den Victor mit seinem Mörser bei Cassidys Rettungsaktion schwer beschädigt hatte. Ihre erste Vermutung war, dass die Bausubstanz äußerst brüchig gewesen sein musste, so dass das Gebäude kurz darauf von selbst kollabiert war. Das erklärte jedoch nicht die Zerstörung der umliegenden Bauwerke, die von dem Artillerieeinsatz kaum in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Ein Blick durch die Zieloptik ihres Gewehrs ließ sie zumindest einige Sicarii entdecken, die gelangweilt auf dem eingezäunten Areal patrouillierten. Die Bibliotheksgewölbe, in denen sie Cassidy gefunden hatte, schienen keine besondere Aufmerksamkeit zu genießen. Daher ging Angel davon aus, dass die verschleppten Bewohner von Silver Valley an einem anderen Ort auf Rettung warteten.
Die beiden Geschwister hatten bereits ihre Ausrüstung angelegt und mussten sich eine halbe Stunde lang in Geduld üben, bis Angel endlich vom Dachboden herabstieg und sie über die Lage informierte. Ihr Adlerauge hatte unterhalb der Ruinen aufgeplatzte Abflussrohre entdeckt, die zum Kanalisationssystem der Stadt gehörten und groß genug schienen, um auf diesem Weg unbemerkt in den feindlichen Stützpunkt einzudringen. Kim hatte bei ihrer Aufklärungsmission mit Faith dieselbe Idee geäußert, doch die südlichen Zugangswege waren von den Sicarii zugeschüttet worden. Angel hoffte im Norden auf etwas mehr Glück, denn ansonsten blieb ihnen nur die gefährliche, oberirdische Infiltration bei Nacht, die sie weder Caiden noch seiner Schwester zumuten wollte.
Vor Einbruch der Dunkelheit stärkten sich die drei mit trockenem Brot und den letzten Kaffeeresten, die ihre Sinne für den riskanten Auftrag schärfen sollten, auch wenn der Effekt nur temporär war und eher als Ritual diente. Wie schon an den Tagen zuvor redeten sie kaum miteinander. Jeder kämpfte mit seinen eigenen Dämonen, die in Brackwood auf sie warten würden.
Cassidy überprüfte ihre Ausrüstung mindestens vier Mal, um keinesfalls wieder in Gefangenschaft zu geraten. Ihr älterer Bruder strich sich nachdenklich über die tiefe Narbe seines linken Auges, die ihn beinahe mehr als alles andere an Faith erinnerte - und dazu unaufhörlich juckte. Die einzige Ausnahme war ihr zauberhaftes Panflötenspiel, das selbst den barbarischen Eric und seine Bande von masochistischen Vultures becircen konnte. Wann immer sie eines ihrer äußerst seltenen Konzerte gegeben hatte, war es in der Festung still geworden. Andächtig setzten sich die Mörder und Vergewaltiger um das Lagerfeuer und lauschten gemeinsam mit ihren Sklaven den melancholischen Tönen aus dem unscheinbaren Holzinstrument. Caiden war überzeugt, dass Faith ihre Panflöte als eine ihrer tödlichsten Waffen betrachtete. Während des Spielens wirkte sie unglaublich zerbrechlich, so dass sich selbst der ruchloseste Widersacher einen Moment der Schwäche erlauben würde, den sie im richtigen Augenblick auszunutzen wüsste.
Angel versuchte ihre Rache an den Sicarii zu planen, um sich von der mehr als unwahrscheinlichen Hoffnung abzulenken, Dog lebendig wiederzusehen. Noch einmal prüfte sie Victors Sprengladungen, die im unverdienten Ruf standen, entweder zu früh oder gar nicht zu detonieren. Schadenfroh erinnerte sie sich daran, dass sie größtenteils für diesen Ruf verantwortlich war. Es fiel ihr nach wie vor schwer zu glauben, dass Butchs schwerhöriger Bruder gerade ihr verfallen gewesen sein sollte. Warum hatte er nie etwas gesagt? Nicht, dass es ihn irgendwie weitergebracht hätte. Aber zumindest wäre ihm eine geringfügig freundlichere Behandlung zuteilgeworden. Nein - ihr Herz gehörte Dog, seit er es der Red Dragon Gang zusammen mit ihrem Körper entrissen hatte. Selbst Cole war nur ein Spielzeug in ihren Händen gewesen, mit dem sie Dog eifersüchtig machen wollte und zudem ihre eigenen Triebe befriedigen konnte, wenn der Hüne gerademal wieder den Kriegsherren in der Wüste mimte. Nun blieb ihr als einziger Trost der apokalyptische Untergang, bei dem ihr mächtiger Gefährte sein heroisches Ende gefunden hatte; gemeinsam mit General Monroe, dem sie ebenfalls ein würdiges Denkmal zu setzen gedachte. Insgeheim beneidete sie die gefallenen Helden, die auf ewig in den Geschichten beider Seiten weiterleben würden, während sie den Karren aus dem Dreck ziehen musste, wie der alte Paul es ausgedrückt hatte.
Kaum war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden, banden sich Angel und Cassidy die langen Haare eng am Kopf zusammen, um nicht aufgrund eines zufälligen Windhauchs entdeckt zu werden. Zu dritt schmierten sie sich gegenseitig das Gesicht mit Tarnschminke ein. Anschließend führte Angel die Geschwister im Gänsemarsch durch den Vorstadtdschungel bis zu den Ausläufern des Kanalisationssystems. Das Nachtsichtgerät aus der verfluchten Militärbasis kam ihr dabei sehr gelegen. Butch hatte sie mit einem selbstgebauten Adapter zum Aufladen an der Autobatterie des Humvees versorgt. Cassidy und ihr Bruder mussten sich mit dem spärlichen Licht der abnehmenden Mondsichel am Himmel begnügen. Je näher sie Brackwood kamen, desto häufiger stoppte Angel ihren geduckten Vormarsch, suchte nach Sicariipatrouillen, die bei Einbruch der Nacht zugenommen hatten, und ließ sie unbehelligt passieren. Weit entfernten diese sich jedoch nie von der Stadt, weswegen Angel froh war, den Humvee einige Kilometer außerhalb des Vorpostens versteckt zu haben.
Nachdem sie sich dem Maschendrahtzaun des Stützpunkts bis auf einhundert Meter genähert hatten, erfuhren sie den Grund für die vielen eingestürzten Gebäude, denn plötzlich begann die Erde unter ihren Füßen zu beben. Eine Patrouille, die gerade auf ihrer Höhe an der Absperrung nach Auffälligkeiten suchte, krallte sich an den Maschen fest, um nicht zu Boden zu stürzen. Dabei fiel ihr Blickfeld genau auf Angels Annäherungsweg.
»Nicht bewegen«, zischte sie den Geschwistern leise zu und erstarrte selbst zur Salzsäule. Caiden lehnte in diesem Moment an einem alten Elektroautowrack und hatte keine Probleme mit dem Befehl. Seine Schwester hingegen hockte zwischen einem gelben Schulbus und einer defekten Werbetafel. Solange sie unbeweglich blieb, könnten die Sicarii sie im schwachen Mondlicht für eine prall gefüllte Mülltüte oder eins der überall herumliegenden Autoteile halten. Verlor sie jedoch die Nerven, und würde versuchen, sich bei ihrem Bruder in Sicherheit zu bringen, wären die zwei vorsichtig herangeschlichenen Kilometer für die Katz gewesen. Angel holte mit sehr langsamen Bewegungen ihr schweres Scharfschützengewehr hervor und legte auf die beiden Männer an. Aufgrund des andauernden Erdbebens bestand nicht der Hauch einer Chance, die Sicarii auszuschalten, bevor sie Alarm auslösen konnten, aber ein paar Schüsse dürften genügen, um zumindest ihre eigene Flucht zu ermöglichen.
Auf einmal hörte das unheimliche Geschaukel so abrupt auf, wie es begonnen hatte. Angel behielt die Patrouille genau im Auge. Nur eine verdächtige Bewegung, ein Fingerzeig in ihre Richtung, und sie hätte beiden eine Kugel mitten durch die Brust gejagt. Zu ihrem Glück schienen sie lediglich über die Naturgewalt zu lachen und ihre scharlachroten Militärbaretts zurechtzurücken, die ihnen bei dem Erdbeben vom Kopf gerutscht waren, ehe sie ihren Weg fortsetzten.
»Wieso haben die mich nicht bemerkt?«, flüsterte Cassidy, die sich schleunigst neben Caiden in Sicherheit gebracht hatte. »Ich stand doch völlig frei!«
»Der Mensch ist ein Bewegungsseher«, erklärte Angel erleichtert und verstaute das Präzisionsgewehr wieder in ihrer Ledertasche. »Wenn du still stehenbleibst und dich wie der Hintergrund verhältst, werden dich ungeübte Beobachter häufig übersehen.«
Nachdem die Patrouille endgültig zwischen den Wohnblöcken verschwunden war, führte Angel ihr kleines Team schnellstmöglich zu den Abwasserrohren. Im ersten Moment stellte sie enttäuscht fest, dass die Sicarii die Nordseite ebenfalls mit Müll und Schutt verstopft hatten, bis ihr eine mannshohe Betonröhre auffiel, die mit einem massiven Stahlgitter verschlossen war. Noch vor einer Woche hätte sich dieser Zugang wohl als unpassierbar herausgestellt, doch die Erdbeben hatten das Gitter im Fundament so stark gelockert, dass es sich ohne große Kraftanstrengung herausreißen ließ.
Im Inneren des jahrhundertealten Kanalisationssystems gab es weder brauchbare Hinweisschilder noch Orientierungspunkte, weswegen Angel ausschließlich ihrem Kompass folgen konnte. Angewidert stieg das ungleiche Kommandoteam über menschliche und tierische Überreste zugleich. Brackwood schien von der Welle der Anarchie während des globalen Untergangs nicht verschont geblieben zu sein. Die weitläufigen Tunnel waren schnell zum Schauplatz blutiger Gefechte zwischen perspektivlosen Jugendgangs geworden, bei denen keine Seite als Sieger hervorgegangen war. Mit Kreide an die Wände gemalte Markierungen warnten vor fremden Hoheitsgebieten, die keinerlei Bedeutung mehr hatten, aber zumindest vom Versuch der Ordnung zeugten. Vermutlich wählten die Sicarii Brackwood als Stützpunkt, weil die ehemaligen Gangs schon lange vor ihnen für einen gewissen Grad an Befestigungsanlagen gesorgt und die Stadt frei von Scavengern gehalten hatten.
Angels Orientierungssinn zufolge sollten sie sich nach einer halben Stunde kurz vor dem Stützpunktzentrum befinden. Sie suchte sich einen Abwasserschacht, der breit genug war, um mitsamt dem Gepäck hinaufzusteigen. Sorgfältig überprüfte sie die Lage mit Hilfe ihres zusammenklappbaren Schminkspiegels. Direkt neben dem massiven Gullideckel türmte sich ein hoher Berg aus Kleidung und Schuhen auf. Lederjacken mit Gangsymbolen vermischten sich mit Kinderschuhen, flickenübersäten Rangeruniformen, nietenbeschlagenen Armbinden und gewöhnlicher Unterwäsche. Hier waren sie richtig. Doch kaum wollte Angel den schweren Eisendeckel von dem Abwasserschacht wuchten, hörte sie sich nähernde Schritte. Sofort zog sie ihre Hände zurück und deutete den Geschwistern mit ihrem Zeigefinger auf den Lippen, absolut still zu sein. Die beiden hockten sich lautlos an die zerbröckelte Tunnelwand und lauschten mit Angel den Wortfetzen, die von dem Gehweg über ihnen hinunterschallten. Zumindest bestätigte die Ruhe, mit der die Sicarii ihre Patrouille durchführten, dass sie noch nicht entdeckt worden waren.
»Sollten wir nicht allmählich abgelöst werden?«, fragte eine jung und unerfahren klingende Stimme.
»Jetzt mach mal halblang«, konterte sein gelangweilter Kamerad. »Die Nacht hat grade erst begonnen. Ich hab dir doch gesagt, du sollst beim Schweinebraten richtig zulangen!«
»Was ist eigentlich mit dem Konvoi passiert, der aus diesem ... wie nannten die das nochmal, Silver Valley?«
»Die kommen nicht weit«, antwortete der gelangweilte Soldat selbstsicher. »Angeblich haben wir sie heute Morgen auf dem Weg ins Gebirge aufgespürt.«
Cassidys Augen versteinerten bei dem letzten Satz, bis sie Angels ausdruckslosen Blick bemerkte. Die abgebrühte Kämpferin starrte nach wie vor mit gespitzten Ohren auf den mit Kanalisationsmüll übersäten Boden, so als wäre nichts geschehen. Wahrscheinlich hatte sie Recht. Kim wegen der Aussage eines dahergelaufenen Nachtwächters abzuschreiben, erschien ihrer Schülerin auf einmal furchtbar naiv.
Angel wartete geduldig, bis sie die beiden ahnungslosen Sicarii außer Hörweite glaubte, ehe sie die Lage erneut sondierte und kurz darauf den schweren Gullideckel mit einem unterdrückten Stöhnen beiseiteschob. Ohne zu zögern führte sie die Geschwister in eine Ruine neben der Straße und schloss anschließend den Abflusskanal, um keine Spuren zu hinterlassen.
Angel erinnerte sich an den etwaigen Aufbau des Stützpunkts, aber die Erdbeben hatten viele Gebäude einstürzen lassen. Meterhohe Schuttberge aus Stahlbeton, verbogenen Feuerleitern und rasiermesserscharfen Glassplittern blockierten immer wieder aufs neue ihren Weg. Inzwischen waren sie fast am zentral gelegenen Lagerhaus angekommen, das Angel als wahrscheinlichstes Gefängnis betrachtete. Sie rechnete jeden Augenblick mit dem alarmierenden Aufschrei eines Wachpostens, doch vorerst verbarg sie die dunkle Nacht vor allzu neugierigen Blicken. Die Leichtigkeit ihrer Infiltration kam ihr zunehmend suspekt vor, aber beschweren wollte sie sich auch nicht.
Nach zwei weiteren Patrouillen, denen sie geschickt auswichen, erblickten sie die Überreste des Sicariibunkers, von dem aus Johnny so schwer verletzt worden war und den Victor kurz darauf mit seinem Mörserbeschuss zerstört hatte. Angel stoppte den Vormarsch und ließ Cassidy mit Hilfe einer Räuberleiter das erste Stockwerk eines der angrenzenden Wohnhäuser vor dem ehemaligen Stadtpark erkunden. Zu ihrer Erleichterung erwies es sich als völlig unbewohnt. Aufgrund der befohlenen Funkstille erschien sie ein paar Minuten später im Treppenhaus und winkte ihr Team herein.
Das Zentrum des Stützpunktviertels bestand neben der östlichen Lagerhalle aus fünfstöckigen Wohnblöcken, die sich um den inzwischen mit Artilleriekratern entstellten Park wanden. Die pastellfarbenen Fassaden wiesen hunderte Einschusslöcher auf und ließen darauf schließen, dass die Kleinstadt schon lange vor den Endzeitkonflikten heftigen Gefechten ausgesetzt gewesen war. Mit großer Wahrscheinlichkeit lag hier der Ursprung einer der vielen Gangs, die später in die klimaveränderte Steppe zogen und ihr eigenes Territorium zu besetzen begannen.
Die Sicarii hatten rund um den zerstörten Bunker Lagerfeuer angelegt, die die ausgeblichenen Hausfassaden in einem warmen, nahezu beruhigenden Licht flackern ließen. Ein paar Schritte weiter westlich neben den Betonüberresten reihten sich hölzerne Sitzbänke im Kreis um eine ungleich größere, aber erloschene Feuerstelle. Genau wie der Rest des Stützpunktzentrums waren sie, bis auf ein einzelnes Paar Beine, das vor dem Schutthaufen herausragte und vermutlich zu einem schlafenden Sicarii gehörte, völlig menschenleer.
Nach und nach suchte Angel das gesamte Areal mit ihrer Zieloptik ab, immer auf der Suche nach einer Art Kommandozentrale, die sie infiltrieren, oder einem Gefängnis, deren Insassen sie befreien könnte. Gerade als sie die abgedunkelten und mit Sicherheitsgittern versehenen Schaufenster auf der Westseite in Augenschein genommen hatte, tippte ihr Cassidy nervös auf die Schulter und zeigte auf das Zentrum.
Angel traute ihren Augen nicht, als sie die Überreste des Bunkers erneut untersuchte. Da saß Dog, direkt vor ihrer Nase und an daumendicke Seile gefesselt! Die Sicarii hatten ihn ausgestellt wie eine Zirkusattraktion, als wollten sie ihren großen Fang stolz auf dem Silbertablett präsentieren.
»Eine Falle«, hauchte Angel, setzte ihr Präzisionsgewehr ab und hockte sich mit dem Rücken an die Wand. Sie ließ ihren Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken sinken und tadelte sich für ihre eigene Unvorsichtigkeit.
»Woher sollen die wissen, dass gerade du zu seiner Rettung kommst?«, flüsterte Cassidy ihr zu. »Die kennen dich doch gar nicht. Ich hab denen nichts erzählt!«
»Jade«, erwiderte Angel säuselnd, als wollte sie ihre unheimliche Widersacherin mit einem magischen Spruch herbeibeschwören. »Sie hat sich mit mir duelliert. Mit einem Schwert! Nur um mir anschließend genau zu zeigen, wo wir dich und die anderen finden würden. Und sie kannte meinen Namen. Sie kannte mich!«
Ungläubig starrte Cassidy auf den gefesselten Hünen, der sich immer wieder umzusehen schien, als erwartete er ein kommendes Ereignis.
»Das alles, dieser ganze Krieg, ist nur ein Spiel für sie«, fuhr Angel mit einer weit ausholenden Handbewegung fort. »Sie hat vor unseren Augen einen ihrer Männer ermordet, nur damit er mir nicht verrät, worum ich mit ihr kämpfen sollte. Das da unten ...« Sie zeigte blind mit ihrem Daumen auf den hinter ihr liegenden Schutthaufen. »... das ist ihre Einladung zur Revanche.«
Es war nicht das erste Mal, dass der berüchtigten Kommandeurin eine derartige Aufmerksamkeit von ihren Feinden zu teil wurde, doch noch nie zuvor hatte sie gleichzeitig so viel und so wenig zu verlieren gehabt. Neugierig auf Jades Falle spähte sie nochmals durch ihre hochempfindliche Zieloptik und musste unfreiwillig schmunzeln, nachdem sie Dog eine Weile in seiner neuen Rolle als Köder beobachtet hatte. Er wirkte ausgesprochen wütend. Wie immer, wenn man ihn einsperrte und er seinen Willen nicht bekam - oder als wüsste er über seine schmachvolle Aufgabe Bescheid. Nichtsdestotrotz empfand Angel ein unbeschreibliches Glücksgefühl, das er der Explosion des Wüstenschlachtschiffs entkommen war. Außerdem erklärte die völlig offensichtliche Falle das Fehlen jeglicher Sicariitruppen, die sie im Zentrum des Vorpostens erwartet hatte, und den geradezu mühelosen Zugang zum Stützpunkt.
»Und was nun?«, fragte Cassidy sichtlich verwirrt. »Wir können ihn doch nicht einfach zurücklassen!«
Dem stimmte ihr Bruder voll und ganz zu. Für ihn stand fest, dass er Brackwood nicht ohne Dog verlassen würde.
»Jade hat uns ohnehin bereits den Rückweg abgeschnitten«, erwiderte Angel und ließ dabei ihren Galgenhumor in der Stimme mitschwingen. »Wir kommen hier nur noch lebend raus, wenn sie uns lässt.«
Cassidy fühlte sich auf einmal an jenen Zeitpunkt in Silver Valley zurückversetzt, an dem Angel ihr von Vulturespionen innerhalb der Freien Enklaven erzählt hatte. Fröstelnd rieb sie sich über die Gänsehaut auf ihren Oberarmen.
»Heißt das, wir sollen einfach so in ihre Falle laufen und hoffen, dass sie uns anschließend gehen lässt?«
»Nein«, erwiderte Angel kopfschüttelnd. »Wir müssen ihr schon was bieten, um uns die Flucht zu verdienen.«
Während sich die beiden über die weitere Vorgehensweise unterhielten, bat Caiden um das Scharfschützengewehr, um den Köder selbst einmal aus der Nähe begutachten zu können. Angel betrachtete ihre Waffen als Verlängerung ihres Körpers und verlieh sie nur in absoluten Ausnahmefällen, doch der Benutzung als Fernrohr, ohne den Abzug zu betätigen, stand wohl kaum etwas im Wege.
»Naja, Caiden und ich könnten Dog befreien. Wir warten dann, bis sie auftaucht, und du gibst ihr, wonach sie verlangt. Mit Überschallgeschwindigkeit«, schlug Cassidy vor, was bei Angel eine weit hochgezogene Augenbraue auslöste. Anscheinend hatte ihr Protegé trotz der misslichen Lage weder den Humor verloren noch ihren zweiwöchigen Crashkurs über Schusswaffen vergessen.
»Da hinten bewegt sich etwas«, murmelte Caiden und war kurz davor, die Rädchen der hochpräzisen Zieloptik zu verstellen, ehe Angel ihr Gewehr freundlich aber bestimmt an sich reißen konnte. Erneut musterte sie die vergitterten Schaufenster auf der Westseite des großen Platzes, die sie vor Cassidys schicksalhafter Entdeckung interessiert hatten. Nun erkannte sie die Silhouetten von gefesselten Männern, die in der Dunkelheit zusammengepfercht ausharrten.
»Die sind ja alle ... nackt!«, berichtete sie stutzig, doch dann erinnerte sie sich an die aufgestapelten Kleider neben dem Gullideckel. Ein leicht veränderter Blickwinkel vom Nachbarfenster ließ sie die Vermutung äußern, dass dort unten ausschließlich Vultures gefangen gehalten wurden. Sie vermochte nicht eine einzige Frau zu erkennen. Außerdem behauptete sie zynisch, die hygieneresistenten Ferkel ihrer alten Gang nun quer über den Platz riechen zu können. Nicht gerade die Nachricht auf die Kim gehofft hatte, aber äußerst vorteilhaft für Angels Plan. Nacheinander holte sie vier kleine Sprengladungen aus ihrem Armeerucksack hervor, die Victor zum Öffnen von Schlössern und Türen vorgesehen hatte.
»Kannst du mit sowas umgehen?«, fragte sie Caiden. Der junge Mann fuhr sich zögernd durch seine nackenlangen Haare und nahm vorsichtig eins der Päckchen in die Hand. Sie fühlten sich wie weiche Knete an und ließen sich mit Leichtigkeit in Türritzen oder zwischen Gitterstäbe pressen. Der einzige Nachteil waren die primitiven Zeitzünder in Form von fettigen Lunten, die laut Victor pro Minute dreißig Zentimeter lang sein mussten.
Caiden nickte zuversichtlich und steckte die Sprengsätze ein, nachdem Angel ihm erklärt hatte, dass die plötzliche Freilassung der Vultures ein gewaltiges Chaos anrichten würde. Dadurch könnte ihnen die Flucht mit Dog auch ohne Jades Einverständnis gelingen. Skrupel über die Benutzung seiner ehemaligen Kameraden als Kanonenfutter hatte er dabei nicht. Er war kein Vulture gewesen. Er war Teil von Dogs Team und bei ihm lag seine Loyalität.
Cassidy fiel schon wieder eine Unterstützungsaufgabe zu. Sie sollte von ihrem Fenster aus die Augen offenhalten und Angel notfalls Feuerschutz geben. Ihr leiser Protest war völlig hoffnungslos, vor allem weil ihr Bruder der Entscheidung ganz und gar zustimmte. Widerwillig fügte sie sich dem Mehrheitsbeschluss, schaltete ihr Headset ein und wartete auf das große Spektakel.
Minutenlang schwenkte Cassidy ihr rotes Leuchtpunktzielvisier immer wieder über Dog im Stadtzentrum hinweg. Der hatte es inzwischen offenbar aufgegeben, seine daumendicken Fesseln mit purer Muskelkraft zerreißen zu wollen und wandte seine Aufmerksamkeit der südlichen Seite des Bunkers zu, die Cassidy nicht einzusehen vermochte.
Auf einmal schreckte er jedoch hoch und sah sich nach Norden um, als hätte er ein verdächtiges Geräusch gehört. Angel war dem flackernden Lagerfeuerlicht geschickt ausgewichen und schlich sich bereits um den Geröllhaufen des zerstörten Bunkers herum. Nur noch wenige Schritte trennten sie von ihm, nur noch ein kurzer Augenblick, ein schneller Schnitt mit ihrem Kampfdolch und er war frei.
»Bist du verrückt?«, zischte Dog, nachdem er den Schatten identifiziert hatte. »Das ist eine Falle!«
»Wissen wir«, erwiderte Angel flüsternd. »Wo sind unsere Leute?«
»Heute Morgen in Richtung Hadesgebirge fortgeschafft. Diese Irre hat mich extra für dich hierbehalten und du fällst auch noch drauf rein!«
Kommentarlos setzte sie Dog ein Headset auf und reichte ihm das Messer für die übrigen Fesseln.
»Der Hund ist aus dem Zwinger. Status?«
»Hier tut sich nichts«, antwortete Cassidy über Funk und klang dabei sichtlich nervös.
»Die Päckchen wurden abgeliefert«, bestätigte Caiden seine erfolgreiche Mission. »Die ... äh ... Vögel sind bereit zu fliegen!«
Etwas Besseres fiel ihm nicht ein, aber er wollte die bevorstehende Freilassung der Vultures, was übersetzt immerhin Geier bedeutete, nicht einfach so herausposaunen. Wer Aufklärungsdrohnen einsetzte, verfügte sicherlich auch über eigene Funkgeräte. Inzwischen hatte Dog seine restlichen Fesseln durchtrennt, sprang auf die Beine und humpelte in nördlicher Richtung um den Schutthaufen herum.
»Wo willst du hin?«, zischte Angel ihm hinterher. »Wir müssen hier raus!«
»Nicht ohne Faith!«
»Faith? Was ist mit Faith?«, schallte Caidens energische Frage aus den Ohrstöpseln, doch weder Dog noch Angel gingen darauf ein. Die unglaublich hochmütige Amazone, die Angel als makellos schöne und bezaubernde Erscheinung in Erinnerung behalten hatte, lag leblos und gefesselt etwas nördlich von Dogs Position, die von Cassidy nicht einzusehen gewesen war. Nachdem ihr Bruder keine Antwort erhalten hatte, kam er keuchend auf den großen Platz gestürmt. Die Sicht auf die aufgeplatzte Haut seiner Freundin raubte ihm den Atem. Faiths einst so elegantes, hautenges Lederkorsett hing zerfetzt an ihrem geschundenen Körper herunter, die unzähligen Klingen waren verschwunden. Nur die Panflöte hatten ihr die Sicarii gelassen; in zwei Teile zerbrochen und achtlos in den Sand geworfen. Das Zerschneiden ihrer Fesseln ließ Faith für einen Moment erwachen. Mit gläsernen, ausdruckslosen Augen blickte sie ihren Freund an, ohne ihn zu erkennen oder sich ihrer Situation bewusst zu sein. Während Caiden sie und ihre Panflötenteile in den schützenden Schatten der Nordseite des Bunkers trug, fiel sie zurück ins Delirium. Aber sie war am Leben und das war für ihn Grund genug, nicht mehr von ihrer Seite zu weichen. Insgeheim fragte er sich, warum sie ihre eigenen Leute direkt neben Dog platziert hatten, doch ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Angel!«, knisterte die Stimme seiner Schwester aus dem Funkgerät. »Sie ist da!«
Aus der pastellgelben Häuserfassade der Südseite kamen genau sechs schwerbewaffnete Sicarii in einer Reihe gemächlich auf sie zu. Vier Männer und zwei Frauen, eingehüllt in dicke Schutzwesten, ausgerüstet mit Headsets, unterschiedlichsten Maschinenpistolen und Sturmgewehren. Jeder von ihnen schien für die eigene Ausrüstung Sorge zu tragen, die weit über die übliche Ausstattung der sicariianischen Armee hinausging. Das einzige Merkmal, das sie sich teilten, waren pechschwarze Baretts mit silbern funkelnden Emblemen auf der hochstehenden Seite.
Angeführt wurden sie von der adelig stolzierenden Schwertkämpferin, die sich Angel als Jade zu erkennen gegeben und Cassidy vor dem Angriff auf Eagle Village wie ein Stück Vieh auf dem Markt begutachtet hatte. Dem Mädchen lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als sie die gleichmäßigen Schritte der hochgewachsenen Frau verfolgte. Neben ihrem rasiermesserscharfen Katanaschwert in seiner japanischen Saya-Scheide ragte eine hochmoderne Schrotflinte mit Zielvisier über ihrer rechten Schulter empor. Darunter verbarg ein hellbrauner, knielanger Trenchcoat aus feinstem, naturfarbenen Hirschleder ihren durchtrainierten Körper, den Angel nach eigener Überzeugung nur aufgrund ihrer Schulterverletzung hatte besiegen können. Der breite, heruntergeklappte Kragen bot ein freies Sichtfeld auf ihr kantiges, hellhäutiges Gesicht und den beinahe anzüglich tiefen Ausschnitt ihres darunterliegenden Hemdes. Ihre kupferfarbenen Haare waren zu einem einzigen, perfekten Zopf zusammengeflochten worden, der bis zwischen ihre Schulterblätter reichte und damit eine vollendete Symbiose mit den parallel nebeneinanderliegenden Waffen bildete. Zusätzlich hielt sie einen hellgrauen, einen Meter langen und, verglichen mit ihrer schlanken Statur, drei Finger dicken Stab in den Händen, den Angel aus der Entfernung nicht zu identifizieren vermochte.
Dog schnaufte zornig und ließ sich nur mit einem beherzten Griff an seinen verschwitzten Nacken davon abhalten, wie ein tollwütiger Grizzlybär auf die unbeeindruckt näherkommenden Sicarii zuzustürmen. Für einen Augenblick glaubte Angel sogar, Schaum vor seinem unterdrückt aufheulenden Mund zu sehen, ehe er sich notgedrungen wie ein geschlagener Hund fügte.
»Caiden«, murmelte sie und warf ihm dabei einen ernsten Blick zu, als ginge es um Leben und Tod. »Dreißig Sekunden.«
Er verstand und sandte mit seiner kleinen Stabtaschenlampe unbemerkt Lichtzeichen an die eingesperrten Vultures, während Angel bedächtig auf die Sicarii zustolzierte und sie damit ablenkte.
»Ich glaube, du schuldest mir eine Revanche!«, rief Jade, als sie nur noch ein paar Meter voneinander entfernt standen. Die sechsköpfige Eskorte blieb einige Schritte hinter ihr zurück. Mit ihren auf den Boden gerichteten Gewehren machten sie deutlich, dass sie sich nicht einmischen würden. Aus den dunklen Hausecken traten zusätzlich vereinzelte sicariianische Patrouillen hervor, die offensichtlich nicht verstanden, was hier vor sich ging, und vorerst im Schatten der Gebäude verharrten.
Als Angel ihre Kontrahentin nicht sofort mit einer Antwort würdigte, schleuderte Jade ihr die hellgraue Kunststoffstange zu, die sie die ganze Zeit lang vor ihrem Körper präsentiert hatte.
Während hochrangige Befehlshaber bis in die letzten Kriegsjahre blitzende Dolche und Säbel als zeremonielle Symbole führten, schufen sich Spezialkommandos mit Teleskopstäben aus neuartigen Verbundwerkstoffen ihren eigenen Mythos. Im Gegensatz zu den größtenteils nutzlosen Stichwaffen gewöhnlicher Offiziere dienten die extrem stabilen Stäbe als Stützen für Feldlager, provisorische Bahren zum Transport von Verwundeten, Fahnenmasten für Feldzeichen oder in Nahkämpfen als tödliche Waffen. Ein kleiner Schieberegler entsicherte die Teleskopmechanik, die anschließend auf Knopfdruck je zwei weitere Elemente pro Seite aus dem Stab herausschoss. Auf Wunsch konnte man auch nur eine Seite ausfahren, da militärische Zelte hinter feindlichen Linien wohl kaum zwei Meter in die Höhe ragen sollten, was die Gesamtlänge des Kampfstabs darstellte. Absolut staub- und wasserdicht, mit reichhaltiger Ausstattung über einen Kompass bis hin zum sicher verstauten Nähset reichte diese Waffe an die Vielseitigkeit der legendären Schweizer Taschenmesser heran.
Ein wahrhaft königliches und äußerst seltenes Geschenk, das Angel aufgrund ihrer langjährigen Stabkampferfahrung nur allzu gern entgegennahm, egal, von wem es stammte. Sie nickte ihrer Widersacherin bestätigend zu und akzeptierte damit die Herausforderung. Jade vollführte rudernde Handbewegungen in Richtung ihrer Männer, die kommentarlos zurücktraten und den Platz für das bevorstehende Duell freiräumten. Diesmal wiederholte sie ihren Fehler aus Eagle Village nicht, sondern überließ Angel den ersten Angriff, die sich problemlos mit der Mechanik des Kampfstabes vertraut gemacht hatte.
Doch Angel zögerte. Noch ein paar Sekunden, nur noch einen kurzen Moment. Endlich explodierten die vier Sprengladungen an den vergitterten Schaufenstern im Westen. Die Sicariieskorte suchte instinktiv Schutz hinter herumliegenden Trümmerteilen des zerstörten Bunkers und auch Jade zuckte einen Augenblick lang zusammen, starrte dann aber geradezu entzückt auf das von Angel angerichtete Chaos.
Kaum waren die Detonationen und das Geprassel des Schutts verhallt, stürmten zwei Dutzend Vultures mit nacktem Oberkörper auf die überraschten Sicarii zu. Jades Kommandoeinheit bildete sofort mit angelegten Gewehren eine Defensivformation, bis ihre Anführerin ihnen per Handzeichen Befehle erteilte. Anschließend wendete Jade sich wieder Angel zu und ignorierte das Treiben hinter ihrem Rücken. Sie riss ihr blitzendes Katana aus der verzierten Scheide und hielt es mit beiden Händen aufrecht vor ihren Körper. Mit leicht nach vorn gesenktem Kopf lächelte sie Angel aus den Augenhöhlen zu, die ihrerseits den Kampfstab blitzartig auf seine volle Länge ausfuhr und anschließend mit einem zornigen Kampfschrei die Initiative übernahm.
Erst als die Vultures schon den halben Platz überquert hatten, eröffneten die sicariianischen Patrouillen eigenmächtig das Feuer auf die lebensmüde kreischenden Barbaren. Caiden und Cassidy konnten das ungleiche Gefecht teilweise zu ihren Gunsten beeinflussen, indem sie immerhin zwei Gegner ausschalteten. Zur selben Zeit fielen jedoch auch zahlreiche Vultures dem Beschuss zum Opfer. Nur Jades Kommandoeinheit hielt sich auffällig zurück und wartete, bis sich die Gang angeführt von Dog im Nahkampf auf die Sicarii stürzte, wodurch ein Feuerschutz durch die Geschwister nicht länger möglich war.
Das erste Aufeinandertreffen von jahrhundertealtem Stahl und Hightech-Kampfstab verlief für beide Seiten zufriedenstellend. Angel fand schon nach wenigen Sekunden großen Gefallen an der ungewöhnlich leichten Waffe, während Jade ihre genesene Stärke unter Beweis stellte. Nach einer schnellen Drehung, von der sie wusste, dass Angel sie problemlos abwehren konnte, lehnte sie sich mit aller Kraft in ihr Schwert hinein, bis sie nur noch ein paar Zentimeter von ihrer knurrenden Kontrahentin entfernt war.
»Na? Gefällt er dir?«, fragte Jade schelmisch und lachte mit glänzend weißen Zähnen, die man in den Wastelands nur noch äußerst selten zu Gesicht bekam. Angel antwortete ihr nicht, sondern drehte sich ihrerseits um die eigene Achse. Dabei wirbelte sie den aluminiumgrauen Kampfstab auf Bodennähe herum, wodurch Jade in die Luft springen musste, um nicht von den Beinen gerissen zu werden. Ohne zu zögern, revanchierte sie sich mit einem hohen Angriff, dem Angel mit einer seitlichen Ausfallrolle entging und ihrer Gegnerin anschließend den Stab in den Rücken schmetterte.
Mit einem zornigen Grollen, wohl eher bezogen auf ihre eigene Unachtsamkeit als auf den kräftigen Schlag, rammte Jade ihr Katana in den Boden und krümmte sich einen Augenblick lang nach hinten. Mit beiden Händen rieb sie an den Hüften über ihren hellbraunen Trenchcoat, bis der Schmerz nachließ, und ignorierte dabei Angel, die inzwischen wieder aufrecht stand. Ihre geradezu fahrlässige Achtlosigkeit inmitten des blutigen Gefechts zwang nun Angel, ihrerseits die Mundwinkel hochzuziehen. Sie hatte jahrelang betrogen, gelogen und skrupellos gemordet, um ihre Ziele zu erreichen, und doch fiel es ihr nicht mal im Traum ein, Jade in diesem Moment in den Rücken zu fallen.
Während die beiden Frauen in ihrem surrealen Spiel versunken waren, kämpften sowohl Sicarii als auch Vultures um ihr Leben. Jades Leibgarde erwies sich im Nahkampf als ausgesprochen gut ausgebildet, aber auf die psychotisch kreischenden, halbnackten Wilden hatte sie ihr Training nicht vorbereitet. Überdeutlich vernahm man unter all dem Lärm Dogs röhrendes Kampfgeschrei. Aus vollem Hals brüllte er den eingeschüchterten Sicarii die kreativsten Beleidigungen ins Gesicht, die schon aufgrund seiner hünenhaften Statur zurückwichen.
Endlich war sein Tag der Rache gekommen! Für die schmachvolle Niederlage der Vultures, den Tod seiner Kameraden und den Verlust seines geliebten Wüstenschlachtschiffs! Einem Berserker gleich schlug er mit einem faustdicken Kantholz um sich, das beinahe so lang wie Angel groß war. Es spielte keine Rolle, wo er seine Gegner damit traf, sie gingen in jedem Fall zu Boden. Die Glücklichen blieben bewusstlos liegen, den anderen versetzte er brüllend den Gnadenstoß.
Das laute Schlachtgetümmel hatte inzwischen die etwas weiter entfernten Patrouillen aus der Umgebung angelockt. Darunter auch den Unerfahrenen und den Gelangweilten, der von der unmittelbar bevorstehenden Vernichtung des Flüchtlingskonvois ausgegangen war. Während der dienstältere sich mit dem Beschuss des Stadtparks zurückhielt, versuchte der jüngere, Jade zu helfen und nahm Angel aufs Korn. Cassidy wollte ihr Feuerschutz geben, aber die beiden befanden sich direkt unterhalb ihres Fensters. Bevor sie sich entscheiden konnte, ob sie ihre Stellung verlassen oder sich hinauslehnen sollte, zischte bereits ein Schuss aus Jades Schrotflinte heran. Ein Teil der Schrotladung traf den rechten Oberschenkel des übermütigen Frischlings. Sein älterer Kamerad wusste genau, warum er sich nicht in das Duell eingemischt hatte und zog den vor Schmerz heulenden Jungspund in den Hausflur hinein. Zwar war damit die Gefahr für Angel gebannt, doch Cassidy musste von nun an auf der Hut sein, nicht von hinten erwischt zu werden.
Angel hatte die Ablenkung unterdessen genutzt und sich das eingestürzte Bunkerdach erkämpft. Sie stand somit gut einen Meter über Jade, die mit dem gesenkten Katana in der rechten Hand wie ein Wolf im Jagdfieber um den Schutthaufen herumtänzelte. Ihre geradezu manisch leuchtenden, smaragdgrünen Augen und ihre gefletschten Zähne, zwischen denen sie ihre Zunge entlangstreichen ließ, zeigten eindeutig, dass sie nur für Momente wie diese lebte. Von einem Augenblick zum anderen wechselte sie ihre Schwerthand, ein Manöver, das Angel schon einmal fast das Leben gekostet hatte, und katapultierte sich mit Hilfe einer herausstehenden Stahlstrebe auf die entgegengesetzte Seite des Bunkerdachs. Kaum hielt Jade das Katana wieder in beiden Händen, wirbelte sie es auf Hüfthöhe im Kreis herum und schlich dabei wie auf Katzenpfoten über die zerbrochenen Betonplatten. Angel hingegen stellte sich unbeweglich in die Mitte der eingestürzten Ruine und beobachtete ihre Kontrahentin nur aus den Augenwinkeln. Erst als Jade plötzlich zu ihren gefürchteten Stichattacken überging, erwachte die Statue zu neuem Leben und versuchte, ihren Schwertarm zu treffen. Diesmal jedoch wurde ihre Widersacherin nicht durch eine Verletzung behindert und führte die blitzende Klinge mit beiden Händen.
Jades Kommandoeinheit war es inzwischen gelungen, einen Großteil der geschwächten Vultures auszuschalten, doch an den laut brüllenden Hünen trauten sie sich nur in großer Zahl heran. Langsam aber sicher schwanden Dogs Kräfte, der sich mit dem schweren Kantholz völlig verausgabt hatte. Caiden musste ihm immer häufiger den Rücken decken und riskierte dabei jedes Mal, Faith aus den Augen zu verlieren. Cassidy konnte sie zwar im Notfall schützen, würde jedoch gleichzeitig ihre eigene Position an die unter ihr verharrenden Sicarii verraten.
»SCHLUSS!«, schmetterte Jade plötzlich durch den ehemaligen Stadtpark. Dog versuchte gerade zwei Männer loszuwerden, die sich mit aller Kraft an seinen Hals klammerten und ihn rückwärts zu Boden reißen wollten. Als sie den Befehl von den Wohnblöcken tausendfach reflektiert hörten, verloren sie einen Moment lang die Konzentration, wurden von seinen Stahlfäusten ergriffen und kopfüber auf die zerfurchte Erde geschleudert. Trotz der beginnenden Schwäche loderte in ihm noch immer der Blutrausch der Vergeltung, bis er Angel auf der Betonplatte der Bunkerruine liegen sah, mit Jades funkelndem Katana an ihrer Kehle.
Im Gegensatz zu den Vultures verfielen die übriggebliebenen Sicarii nicht dem Schockzustand und nutzten den Moment, um etwas Abstand zu gewinnen. Zum ersten Mal entsicherte Jades Kommandoeinheit die Gewehre. Ein eindeutiges Signal, dass das Spiel vorbei war.
»Die Waffen runter!«, befahl Jade erschöpft und blickte dabei zunächst Caiden und dann die pastellgelbe Hausfassade an, hinter der sich seine Schwester nach wie vor verschanzt hielt. »Das gilt auch für dich, Cassidy!«
Die donnernden Worte stachen der Teenagerin mitten ins Herz. Vereinzelte Schüsse aus der dritten Etage zu bemerken war bestimmt kein Kunststück, aber sich nach einer fünfminütigen, zufälligen Begegnung an ihren Namen zu erinnern, grenzte für Cassidy an Zauberei. Kaum hatte sie ihr Sturmgewehr gesenkt, hörte sie das Poltern von schweren Fußtritten hinter sich. Kurz darauf führte sie der dienstältere Sicarii zusammen mit seinem verletzten Kameraden auf den großen Platz. Auch Caiden war inzwischen entwaffnet worden, ließ sich jedoch nicht von Faiths Seite bewegen.
Nachdem sie alle versammelt waren, reichte Jade ihrer Widersacherin die Hand, so wie Angel es nach ihrem Sieg in Eagle Village getan hatte. Anschließend trat sie vor und stellte als eindeutige Siegerpose ihren linken Fuß auf einen großen Betonbrocken oberhalb des Schutthaufens. Erneut kehrte sie dabei Angel den Rücken zu, die immer noch über einen Kampfdolch und ihre auffällig sichtbare Pistole am rechten Oberschenkel verfügte.
»Ich bringe eine frohe Botschaft für die Vultures!«, begann Jade und verwandelte sich innerhalb von Sekunden zurück in die adelige Befehlshaberin, der man allein aufgrund ihres Auftretens Respekt und Ehrfurcht entgegenbrachte. »Euer Anführer Eric ist endlich zur Vernunft gekommen und hat die Schwäche seiner Unabhängigkeit erkannt. Seit heute Morgen gehört der Stamm der Vultures offiziell zum Sicariianischen Imperium!«
Ein Raunen ging durch die halbnackten Männer, die zunächst einander und dann Dog fragend anblickten. Sie waren vor seinem Überlaufen gefangen genommen worden und wussten nichts von den Veränderungen der Befehlshierarchie, weswegen sie sich ohne Fragen zu stellen auf der Seite des charismatischen Hünen in die Schlacht geworfen hatten.
»Allerdings gibt es drei Ausnahmen«, fuhr Jade unbeeindruckt von der Verwirrung fort und konzentrierte ihren Blick auf Dog. »Eric war äußerst ungehalten, als er von eurem Verrat erfahren hat. Erst stehlt ihr seinen Triumphwagen, greift damit diesen Stützpunkt an, während seine Unterhändler mit uns verhandeln, und schlagt euch anschließend sogar gänzlich auf die Seite seiner Feinde!«
Mit diesen Worten zeigte sie auf Angel, die inzwischen ihren Kampfstab aufgehoben hatte und wie eine ehrenhafte Verliererin wartete, bis sie an der Reihe war. Die Vultures hingegen wurden zusehends unsicherer und viele traten ein paar Schritte von Dog zurück, wodurch sie ihn seiner Anklägerin wie auf dem Silbertablett präsentierten.
»Für Verräter wie euch ist kein Platz bei den Sicarii!«, rief sie ihm erbost zu, blinzelte dabei aber beinahe unbemerkt in Faiths Richtung, die nach wie vor bewusstlos vor dem Bunker lag. Da nur Caiden von ihrer wahren Identität wusste, verstand nur er allein den giftigen Blick ihrer grünen Augen.
»Der Rest von euch erhält fünf Minuten, um über sein Schicksal zu entscheiden!«
Ohne weitere Befehle abzuwarten, trennte ihre Eskorte die Vultures von Dog und den Geschwistern. Jade drehte sich zu Angel um und verwandelte sich zurück in die enigmatische Schwertkämpferin mit den manisch funkelnden Augen. Sie ließ ihre Klinge in der Scheide auf dem Rücken ihres Hirschledertrenchcoats verschwinden und tänzelte auf dem Bunkerdach hinab. Mit zusammengekniffenen Lippen stellte sie sich direkt neben Angel und warf ihr aus den Augenwinkeln triumphierende Blicke zu.
»Du hast sicher eine Menge Fragen«, flüsterte sie verspielt. Angel entschied sich, für den Anfang auf ihr Bühnenstück einzugehen, um so möglichst viele Informationen zu erhalten. Eine anschließende Gefangennahme schloss sie nicht aus, allerdings hätte sie Jade dann völlig falsch eingeschätzt.
»Hat noch jemand außer Dog die Explosion überlebt?«
Die Siegerin zögerte einen Augenblick lang.
»Nein«, antwortete sie teilnahmslos und versuchte mit zusammengekniffenen Augenlidern Angels Reaktion einzuschätzen. »Er konnte sich in den gepanzerten Durchgang hinter dem Führerhaus retten, bevor unsere Rakete einschlug.«
Sie rieb sich mit den Fingern der rechten Hand nachdenklich an ihrem Kinn und drehte sich zu dem Hünen um, der seine Leute gerade über die Geschehnisse der letzten Wochen aufklärte.
»Die Explosion hatte ihn ganz schön mitgenommen. Trotzdem gelang es ihm, ein paar übermütigen Schatzsuchern das Genick zu brechen, ehe sie ihn überwältigen konnten«, fügte sie mit einem anerkennenden Unterton hinzu. »Wenn du ihm irgendwann überdrüssig sein solltest, überlass ihn mir. Ich würde schon einen Weg finden, mir seine Ausdauer zu Nutze zu machen.«
Angel wunderte Jades launische Vielseitigkeit längst nicht mehr. Ihren Liebhaber zu teilen, hatte sie jedoch noch nie zuvor in Betracht gezogen. Dafür hatte es einfach zu wenig Frauen bei den Vultures gegeben. Bevor sie allerdings eine treffende Antwort zu formulieren vermochte, wechselte Jade taktvoll das Thema.
»Willst du mich gar nicht nach Johnny fragen?«
»Hat er denn überlebt?«
Jade nickte ihr blinzelnd zu, als versuchte sie, seinen Wert als Kriegsgefangenen abzuschätzen.
»Der Legionskommandeur wollte ihn nach dem Debakel von Silver Valley eigentlich sofort hinrichten lassen. Er wirkte nicht gerade wie ein tüchtiger Sklave und war obendrein schwer verletzt.«
Wieder suchte sie in Angels Gesicht nach einem Anzeichen für versteckte Emotionen, der es aber mit etwas Mühe gelang, weiterhin die Unbeteiligte zu spielen.
»Nachdem ich mich aus den Fängen eurer allzu männlichen Wachen befreien konnte und nach Brackwood zurückgekehrt war, entdeckte ich seinen Wanst unter den frisch eingetroffenen Gefangenen und erinnerte mich an ihn«, fuhr sie nachdenklich fort. »Zu Beginn weigerte er sich mit mir zu reden, aber ich ließ ihn trotzdem von unseren Ärzten versorgen. Anschließend musste ich nur noch warten.«
Die letzten Worte schienen Jade unglaublich zu amüsieren. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und erwiderte Angels fragenden Blick mit einem unschuldigen Wimpernschlag.
»Du kannst ihm wirklich keine Vorwürfe machen. Er hat sich tapfer gewehrt!«
Angel runzelte verwundert die Stirn. Wie sollte sich ein schwerverletzter Mann, der aufgrund seiner Schussverletzungen nicht einmal geradezustehen vermochte, gegen das Verhör einer Spezialistin wie Jade wehren können? Gerade Johnny, dem man nur seine fünf Mahlzeiten am Tag nehmen musste, um ihn in den Wahnsinn zu treiben! Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen ...
»Es stand eine Weile wirklich auf Messers Schneide, aber nachdem ich fast ein halbes Spanferkel vor seiner Nase heruntergewürgt hatte, gab er endlich auf.«
Angel stöhnte bei dem Gedanken an die Höllenqualen, die Kim ihrem Freund zufügen würde, wenn sie davon erführe, und drückte dabei Daumen und Zeigefinger der rechten Hand tief in ihre Augenhöhlen.
»Was hat der Dicke diesmal erzählt?«
»Zu Beginn eigentlich dasselbe, was wir immer zu hören bekommen. Anklagen gegenüber unseren Methoden, eine Aufzählung sogenannter Kriegsverbrechen und natürlich, dass wir am Ende ohnehin verlieren würden«, antwortete Jade und zuckte dabei so unschuldig mit den Schultern, als redete sie von alltäglichen Bagatelldelikten. »Anschließend haben wir über euch gesprochen. Stimmt es, dass du ihn zwei Wochen lang auf eine Diät gesetzt hast, um dich an ihm zu rächen?«
In diesem Augenblick erschien das erste Lächeln seit Beginn des Gesprächs auf Angels verschmutztem Gesicht, was sie als Bestätigung auffasste.
»Was wird mit ihm geschehen?«
»Ich will dir nichts vormachen. Er ist als Kriegsgefangener äußerst wichtig für mich und anders als dein muskelbepacktes Statussymbol für unsere Verhöre empfänglich. Darum kann ich ihn dir nicht zurückgeben«, philosophierte Jade. Für einen Moment klang es beinahe, als versuchte sie, ihre Handlungen zu rechtfertigen. »Sei aber versichert, dass wir uns um seine Verletzungen kümmern und er nicht leiden wird.« Mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: »Nun ja, jedenfalls nicht mehr als unter deiner Behandlung. Vielleicht wird mir sein Rotschopf am Ende sogar dankbar sein.«
»Du bringst deine eigenen Männer für ein verlorenes Duell um, versklavst unsere Leute und gibst mir im selben Atemzug andere zurück. Jetzt die Vorzugsbehandlung für Johnny«, fasste Angel ungläubig zusammen und schüttelte dabei den Kopf. »Warum das alles?«
»Warum ich euch nicht einfach umgebracht oder dir überhaupt erst die Position für diesen Stützpunkt verraten habe?«, erwiderte Jade und zuckte erneut mit den Schultern. »Ich sagte es dir doch bereits in Eagle Village. Wir sind immer auf der Suche nach Potential. Provinzen, Sklaven und Soldaten gibt es überall, aber Menschen wie du und ich sind wertvoller als jede Armee, jedes Land und jede Rohstoffquelle. Leider kann man sie nicht erobern, sondern lediglich überzeugen und für die eigene Sache gewinnen.«
»Dann dient dieses ganze Spiel nur dazu, mich zum Überlaufen zu bewegen?«, fragte Angel zweifelnd, obwohl ihr die Rolle keinesfalls unbekannt war. Paul hatte sie ein Jahr vor ihrer schicksalhaften Begegnung mit Butch und Victor zu bekehren versucht. Bedingt durch ihre einzigartige Stellung als weibliche Kommandeurin waren der legendären Vulturebraut und berüchtigten Schlächterin von Archer Hill auch wiederholt Offerten der unterschiedlichsten Gangs zugetragen worden. Jedoch hatte ihr noch nie jemand zunächst wortwörtlich den Boden unter den Füßen weggerissen und erst im Anschluss daran sein Angebot unterbreitet.
»Warum nicht?«, antwortete Jade mit selbstsicherem Blick. »Du hast es doch schon einmal getan.«
Das lange Stehen in tiefster Dunkelheit ließ sie allmählich frösteln. Ihr dünner Ledertrenchcoat war zwar äußerst kleidsam, wärmte aber kaum, so dass sie bibbernd die Arme verschränkte, ihren Kopf zwischen dem hochgeklappten Kragen vergrub und ein paar Schritte um Angel herumstolzierte.
»Wie wäre es, wenn du mir nach all meinen wahrheitsgetreuen Informationen auch mal etwas zukommen lassen würdest?«, fragte sie fordernd. »Ein Nachschubdepot zum Beispiel, an das ihr ohnehin nicht mehr herankommt?«
Angel spürte, wie das Papier mit der Route zur verfluchten Militärbasis auf ihre Brust zu drücken begann. Jade standen mit Sicherheit Mittel und Wege zur Verfügung, um den Bunker zu öffnen, unter dem sich das versteckte Forschungslabor befand. Aber das dort hausende Wolfsrudel war gezüchtet worden, um hochgerüstete Armeen im Kriegseinsatz zu bekämpfen und hatte zwanzig Jahre Zeit zur unkontrollierten Vermehrung gehabt. Nicht einmal die Sicarii sollten auf so einen Gegner vorbereitet sein.
Doch aus irgendeinem Grund zögerte sie, die unschuldig herumtänzelnde Schwertkämpferin in den sicheren Tod zu schicken. Zwischen all den Angeboten des Überlaufens fühlte sie sich ihrem am meisten zugetan. Am Ende stand es für sie dennoch außer Frage, das Andenken General Monroes zu entehren oder ihre Kameraden zu verraten. Außerdem blieb ihr gar keine Wahl, wenn sie den Flüchtlingen Raum zum Atmen verschaffen wollte.
»Versuch es mal hier«, erwiderte sie und zog das zusammengefaltete Papier aus der Brusttasche ihrer Uniform. Jade breitete es aus, drehte sich zum Licht des nächsten Lagerfeuers und zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Wir wussten gar nicht, dass ihr so weit oben noch Enklaven habt.«
»Das ist keine unserer Siedlungen«, erklärte Angel flüsternd und schaltete dabei vorsorglich ihr Headset ab, so als wollte sie verhindern, dass Cassidy von ihrer kleinen Planänderung erfuhr. Sie hielt es für richtig, Jade zumindest eine faire Warnung zukommen zu lassen. »An der Stelle liegt ein verlassener Militärstützpunkt. Mehr kann ich dir nicht sagen, aber geh nicht allein.«
Jade war die Heimlichtuerei nicht verborgen geblieben. Sie respektierte ihren Wunsch und ließ das Papier unauffällig in ihrem Trenchcoat verschwinden.
»Was nun?«, wollte Angel wissen.
»Was nun«, wiederholte Jade gedankenversunken. »Soll ich dich abführen lassen, wie du es mit mir getan hast? In einen Käfig gesperrt und ausgestellt wie eine Zirkusattraktion?« Sie ließ ihre Worte einen Moment lang wirken, obwohl inzwischen beide Frauen wussten, dass es nicht dazu kommen würde. »Nein, ich denke nicht. Du wirst mich auf der Suche nach deinem Stamm von ganz allein aufsuchen. Unser Pass ist wohl kaum der einzige Weg über das Gebirge.«
»Warum sagst du mir nicht gleich, wo ich sie finde?«, schlug Angel vor, woraufhin Jade amüsiert mit den Augen funkelte.
»Weil es ebenso eine Lüge wäre, wie die Karte zu eurer prall gefüllten Waffenkammer, nicht wahr?«
Bevor Angel sich rechtfertigen konnte, winkte sie bereits ab.
»Dein Weg führt über das, was ihr Hadesgebirge nennt. Vierhundert Kilometer östlich von hier auf der anderen Seite wirst du eine tiefe Schlucht finden. Folge ihr, bis du auf eine stählerne Bogenbrücke triffst. Überquere die Brücke in Richtung Osten und halte diesen Kurs einen Tag lang.«
Angel versuchte in ihren smaragdgrünen Augen eine List zu entdecken und vermutete eine weitere Falle.
»Es ist keine Falle«, beschwichtigte Jade ihre offensichtliche Sorge. »Aber auch du solltest ...« Sie schwieg einen Augenblick und zog überlegen den rechten Mundwinkel hoch. »... dein Team mit Bedacht wählen.«
Mit diesen Worten ging sie zum äußersten Rand der Bunkerruine und stellte ihren linken Fuß abermals auf den großen Stein, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren.
»Eure Zeit ist um!«, rief sie den Vultures zu. »Wie habt ihr euch entschieden?«
Trotz der chaotischen Zustände innerhalb der meisten Gangs behielt die Loyalität zur eigenen Flagge einen gewissen Wert. Da sich jedoch ausgerechnet ihre beiden Anführer entzweit hatten, sahen sich die Männer einem echten Dilemma gegenüber. Auf der einen Seite konnte Dog mit seinem gewaltigen Charisma punkten, auf der anderen fürchteten sie Erics blutige Rache für Ungehorsam. Des Weiteren galten die Ranger als Schwächlinge, was ihre Niederlage gegen die Sicarii zu beweisen schien. Am Ende entschieden sich gerade einmal zwei von ihnen, Dogs Schicksal zu teilen. Wortlos gesellten sie sich zu ihm und den Geschwistern, bereit, ihr Todesurteil zu empfangen.
Stattdessen drehte sich Jade stirnrunzelnd zu Angel um und fragte rhetorisch, ob der Humvee denn überhaupt Platz für sieben Personen hätte. Ohne die Antwort abzuwarten, zeigte sie in Richtung Süden, wo der zweite Vulturebuggy im Zuge ihrer Flucht vor der anrückenden Sicariiarmee zurückgelassen worden war. Den könne sie aufgetankt zurückhaben. Cassidy traute ihren Ohren nicht, als ihnen Jade freies Geleit versprach und versicherte, dass sie kein Sicarii im näheren Umkreis von Brackwood aufhalten würde.
Bevor sie Angel entließ, zog sie ein daumengroßes Silberamulett aus ihrem hellbraunen Trenchcoat, dessen Oberseite die Gravur einer Eule mit übergroßen Augen zeigte. Die Rückseite schmückte der Kopf einer Frau mit verbundenen Augen. Sollte Angel je in Bedrängnis geraten, könnte ihr das funkelnde Schmuckstück vielleicht helfen. Anschließend verließ sie die ehemalige Grünanlage mitsamt ihrer Eskorte und den übergelaufenen Vultures, ohne noch ein einziges Mal zurückzublicken.