Dreiunddreißigstes Kapitel

Es war der Tag vor dem Pokalendspiel – etwas mehr als ein Monat, nachdem Gordon Rooker in seinem Heim ermordet aufgefunden worden war –, als Thorne den Anruf erhielt.

Die dritte Maiwoche, und draußen nieselte es. Vorhersehbar wie alles andere.

Die Zarif- und Ryan-Ermittlungen waren auf ein paar Dutzend Hängeregister zusammengeschrumpft, und andere Fälle füllten die Lücke. Andere Opfer zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich, es mangelte nie an Wut, Lust oder Gier. Und an Toten ebenso wenig.

Tom Thorne las das Murder Investigation Manual in einer Stunde und vergaß das Gelesene beinahe ebenso schnell. Er kannte seine Begabung, Dinge zu vergessen, die nicht wirklich zählten; für die es keinen Raum gab. Jeder Tag brachte neue Informationen, die ein ordentliches, sauberes Plätzchen brauchten. Denen die Möglichkeit gewährt werden musste zusammenzurücken – wie eng auch immer –, sich ineinander zu verschränken, Funken zu sprühen und vielleicht die Idee oder den Geist einer Idee zu erschaffen, die dabei half, einen Mörder zu fassen.

Aber vieles andere war keineswegs vergessen. Thorne schob es nur immer wieder herum, verbannte es in immer kleinere Ecken in seinem Kopf und seinem Herz. Und dort, in diesem Knäuel, das sich fester und fester zusammenzog und für das es nicht einmal einen richtigen Namen gab …

Bei den paar Gelegenheiten, bei denen er Carol Chamberlain gesehen oder mit ihr gesprochen hatte, hatten sie sich mehr oder weniger fröhlich über ihre jeweiligen Fälle ausgetauscht: seine aktuellen und ihre kalten. Nur ihre unmittelbare Vergangenheit klammerten sie in gegenseitigem Einvernehmen aus.

Allein war es schwieriger, alldem zu entrinnen.

Alison Kelly rief eines Nachmittags an, und sie sprachen ein paar Minuten miteinander. Thorne erkundigte sich, wie es ihr ging. Das Gespräch war so oberflächlich, so Mitleid erregend nichts sagend, dass er sie beinahe fragen wollte, wo sie denn gerade sei. Je mehr Zeit verstrich, desto weniger dachte er an ihr Gesicht und ihren Körper, und desto mehr an das Messer in ihrer Hand. Aber jedes Mal, wenn er an sie dachte, fiel ihm die Inschrift auf dem Grundstein des Holloway Prison ein, in dem sie auf ihren Prozess wartete, der in ein paar Wochen stattfand.

»Möge Gott … dieses Gebäude zu einem Ort des Schreckens machen für jene, die Böses getan haben.«

Für Alison Kelly gab es keinen gottgegebenen Grund, sich zu fürchten.

Zeit heimzugehen. Thorne hatte unter einem Betonvordach Zuflucht gesucht und atmete nun den Rauch von Hollands Zigarette ein, während er zusah, wie der Regen sein Auto versaute, das er erst an diesem Vormittag hatte waschen lassen.

»Warum kommen Sie nicht morgen vorbei?«, fragte Thorne. »Schauen sich das Spiel mit mir und Phil an …«

Trotz Thornes Anstrengungen war Hollands Fußballbegeisterung noch immer nicht mehr als lauwarm. »Mich reißt so was nicht vom Hocker«, meinte er.

»Vom Hocker? Das ist das Cup Final …« Thorne ließ einen Hagel sarkastischer Beschimpfungen auf ihn niederprasseln, als sein Handy läutete.

Etwas in Eileens Stimme ließ das Grinsen auf Thornes Gesicht gefrieren, trieb ihm das Blut aus den Wangen.

»Tom …?«

»Was ist passiert?«

Thorne begann zu seinem Auto zu laufen, er wurde mit jeder Sekunde schneller, die verstrich, bevor Eileen weitersprach.

»Es hat gebrannt …«

»Gott, nicht schon wieder!« Thorne hielt das Telefon mit der Schulter gegen das Ohr und kramte in seinen Taschen wild nach dem Autoschlüssel. »Geht es ihm gut?«

Hinter ihm rief Holland etwas. Thorne hob eine Hand, ohne sich umzudrehen. »Eileen? Geht es ihm gut?«

»Es tut mir so Leid, Tom.« Sie fing an zu weinen. »Sie haben ihn im Schlafzimmer gefunden.« Sie klang wie ein kleines Mädchen.

Thorne ließ sich gegen das Auto fallen. Er atmete tief aus, ließ den Schmerz raus und unterdrückte ihn schnell, um nicht laut loszubrüllen. Ihm war augenblicklich klar, zu klar, wie viel Zeit er nun haben würde. Er sagte sich, dass jetzt Eileen seinen Trost brauchte.

Er riss die Tür auf und stieg in den Wagen. »Eileen, nein.« Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss.

Ein Feuer …

Der Ofen fiel ihm ein, den zu entfernen er nie die Zeit gefunden hatte. Ein Telefonanruf hätte genügt. Victor hätte es gerne übernommen. Eileen hätte jemanden auftreiben können, das Ding abzuholen, sie hatte es sogar von sich aus angeboten, aber Thorne hatte versprochen, es zu organisieren.

Nicht einmal ein Schloss an der Küchentür hatte er angebracht.

Es war seine Schuld.

»Wo ist er, Eileen? Wohin haben sie ihn gebracht?« Thorne hörte aufmerksam zu, aber Eileen brachte keinen zusammenhängenden Satz heraus, sie musste ständig schluchzen. »Ist gut, Eileen. Ich bin unterwegs …«

Und dann traf ihn ein anderer Gedanke mit der Wucht einer Abrissbirne. Warf ihn nach hinten gegen den Sitz und hielt ihn dort. Seine Hand am Lenkrad zitterte.

Er sah Arkan Zarif am Tisch sitzen, erinnerte sich, was sie über die Abmachung betreffend Gordon Rooker gesprochen hatten.

»Eine Vereinbarung, die ich halten möchte, eine Frage der Ehre …«

Die Vereinbarung umfasste sicher ein gewisses Maß an Schutz. Beinhaltete sie vielleicht auch Vergeltung für den Fall, dass Rooker etwas zustieß?

Es lag nur an seiner wie zugeschnürten Brust, dass er sich nicht übergeben musste.

Ein Unfall oder ein arrangierter Unfall? Würden sie das je wissen? Würde Thorne es je wissen …?

Wie auch immer. Es war seine Schuld.

Er blickte nach rechts und sah eine Gestalt auf das Auto zukommen, durch den Nieselregen hasten. Holland hob die Hand und formte mit dem Mund die Worte: »Alles okay?«

Thorne fühlte sich, als habe er vergessen, wie man atmet.

Er nickte langsam und ließ den Motor an.