Fünfzehntes Kapitel
Rooker wurde Anfang der Woche in das HMP Salisbury verlegt, eines der wenigen Gefängnisse landesweit, die über einen Trakt für Häftlinge im Zeugenschutzprogramm verfügten. Er erklärte, er sei höchst zufrieden mit der Verlegung. Jetzt hatte er nur eine Hand voll anderer Knackis um sich herum, und Pinsel waren weit und breit keine in Sicht.
»Wie hat Billy Ryan Sie angesprochen?«, fragte Thorne. »Wie kam das Gespräch darauf, Alison Kelly umzubringen?«
Der in einem hellen Gelb frisch gestrichene Verhörsaal war zweckmäßig, aber beileibe nicht so glamourös, wie der Name nahe legte. Wer immer die Räume geplant und ausgestattet hatte, übermäßig angestrengt hatte er sich nicht: ein Tisch, Stühle, Aufnahmegeräte, ein Aschenbecher …
Rooker räusperte sich. »Ich hab Ryan ein paar Mal getroffen.«
»Zum Beispiel, als Sie den ursprünglichen Auftrag für den Mord an Kevin Kelly erhielten?«
»Darüber spreche ich nicht.«
»Ryan hat Sie doch auch dafür geholt?«
»Ich dachte, das hätten wir hinter uns …«
»Schon eigenartig, dass er wieder auf Sie zukam, nachdem Sie den ersten Auftrag derart vergeigt hatten.«
Rooker lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er sah aus wie ein trotziges Kind.
»Jetzt hören Sie mal zu«, sagte Thorne. »Das wird vor Gericht zur Sprache kommen. Ryans Anwalt wird Sie löchern.
Er wird alles tun, um Ihre Aussage unglaubwürdig wirken zu lassen. Sie sind schließlich nicht gerade ein Musterbürger.«
Rooker beugte sich langsam vor, zog seine Tabakdose heran und begann sich eine zu drehen. Er unterschied sich von Grund auf von dem Rooker, den Thorne vor einem Monat im Park Royal kennen lernte. Es war klar, dass er sich noch nicht von der Stecherei erholt hatte, aber ebenso klar war, dass sein großspuriges Auftreten nur ein Teil der Geschichte war. Thorne wusste, um im Gefängnis zu überleben, war die richtige Fassade entscheidend. Wofür einen die anderen hielten. Die Fassade war genauso wichtig wie eine Telefonkarte oder ein gestohlener Meißel.
»Ich war eben der perfekte Mann für den Job«, sagte Rooker. »Man erzählte sich, ich hätte ein Jahr zuvor den Auftrag gehabt, Kevin Kelly umzulegen.«
»Genau. Das erzählte man sich.«
»Wie gesagt, es war ein Gerücht, an das alle glaubten. Und dadurch war ich der ideale Mann für Billy Ryan, als es darum ging, die Tochter zu beseitigen.«
»Das perfekte Cover.«
»Genau.«
Rookers Zigarette war bereits angezündet. Thorne sah den Rauch aufsteigen, und dabei fiel ihm ein, was er vor einer Woche zu Memet Zarif gesagt hatte. Damals war er so neidisch gewesen wie jetzt. Wie immer in Gegenwart von Leuten, die noch rauchten. Einige der prosaischen Träume von Thorne waren erfüllt von Rauchringen und Nikotin und dem wunderbaren Engegefühl in der Brust, wenn die Wirkung einsetzte.
»Wie hat Ryan Sie also angesprochen? Er konnte es nicht riskieren, mit Ihnen gesehen zu werden.«
»Nicht direkt, nein. Es lief über einen Dritten. Einen Typen namens Harry Little. Ist jetzt tot …«
»Verdächtige Umstände?«
»Soweit ich weiß, nicht. Er müsste damals Ende fünfzig gewesen sein.«
»Und weiter?«
»Wir haben uns in einem Pub in Camden getroffen. Könnte das Dublin Castle gewesen sein, ich weiß es nicht mehr. Wie auch immer, Harry kroch mir hinten und vorn rein. War übertrieben freundlich. Wir waren nie die besten Kumpel gewesen, daher war mir klar, dass er was vorhatte. Und zwar was Größeres, schließlich hatte er einen entsprechenden Ruf. Er begann über Billy Ryan zu reden und hörte gar nicht mehr auf. Ich meine, wir tranken in der Zeit einige Bierchen, verstehen Sie? Und dann sagte er, Billy würde mich gerne treffen, und er würde sich dann zu gegebener Zeit bei mir melden. Schon da war klar, dass es hier um etwas Besonderes geht.« An Thornes verändertem Gesichtsausdruck konnte er ablesen, dass er verstand. »Etwas Besonderes im Sinne von etwas anderem, ja? Nicht die übliche Vorgehensweise.«
Thorne nickte. Die übliche Vorgehensweise. Jemandem eine Kugel in den Hinterkopf jagen oder jemanden aus dem Fenster werfen oder totprügeln …
»Wo fand das Treffen mit Ryan statt?«
Rooker drückte seine Zigarette aus und schob seinen Stuhl zurück. »Könnten wir eine kleine Pause einlegen? Ich muss pinkeln.«
Während Rooker weg war, stand Thorne auf und vertrat sich die Beine. Er ging ans andere Ende des Zimmers, lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Die Gesichter drehten sich in seinem Kopf, suchten nach ihrem Platz. Billy Ryan, Memet Zarif, Marcus Moloney, Ian Clarke, Carol Chamberlain. Die toten Gesichter von Muslum und Hanya Izzigil. Das Gesicht ihres Sohns Yusuf.
Die zwei Gesichter der Jessica Clarke …
Ein Gefängnisaufseher öffnete die Tür und brachte Rooker zurück. Thorne setzte sich wieder zu ihm an den Tisch.
»Haben Sie Kinder, Mr. Thorne?«
»Nein.«
Rooker zuckte die Achseln, als ob das, was er sagen wollte, damit irrelevant oder gegenstandslos geworden sei.
Thorne war neugierig, aber noch wichtiger war es ihm, weiterzukommen. Er drückte auf die rote Taste des Aufnahmegerätes an der Wand. »Die Befragung wird fortgesetzt um … 11 Uhr 45.« Er sah zu Rooker. Er war schon wieder dabei, sich eine Zigarette zu drehen. »Erzählen Sie mir, was geschah, als Sie Billy Ryan trafen.«
»Es war auf einem Waldweg im Epping Forest, oben bei Loughton. Harry Little rief mich eines Abends an, und ich fuhr rauf.«
»Außer Ihnen beiden war niemand dabei?«
Rooker nickte. »Wir saßen in Ryans Auto, und er verriet mir seinen Plan.«
»Er sagte Ihnen, dass Sie Kevin Kellys Tochter, Alison, umbringen sollten.«
Rooker sah Thorne in die Augen. Er wusste, jetzt ging’s ans Eingemachte. »Ja, genau.«
»Was haben Sie sich gedacht?«
Rooker wirkte verwirrt.
»Na ja, wie Sie sagten, das war nicht die übliche Vorgehensweise.«
»Jeder wusste, dass Ryan nicht ganz richtig tickt …«
»Aber ein Kind?«
»Er wollte einen Krieg. Er wollte etwas tun, das ein Loch in die Welt reißt, verstehen Sie?«
Thorne blinzelte, Ryans Gesicht fiel ihm ein. Er hatte es ganz aus der Nähe gesehen, seine Wangen beinahe so rot wie sein Schal. Die Augen glasig. Das leichte Zucken um den kleinen Mund, als er sagte: »Lassen wir also das Geplauder …«
»War es Ryans Idee?«, fragte er. »Das Anzünden?«
»Ja doch.« Rooker fuhr sich mit der Hand durch die Haare, und ein Schauer weißer Schuppen regnete auf den Tisch. »Er dachte, dass es mir nichts ausmachen würde, weil es nicht das erste Mal für mich war.«
»Nichts ausmachen?«
»Wie ich schon sagte, er tickt nicht richtig …«
»Aber Sie waren bekannt dafür? Für Feuer? Brennspiritus? Und Sie hörten nicht die Alarmglocken schrillen, als Ryan diese Methode erwähnte?«
»Was?« Rooker grinste. »Meinen Sie den Feueralarm?«
»Ich lach mich krank, Gordon«, sagte Thorne mit unbewegter Miene.
»Schon gut, schon gut.«
»Schöpften Sie keinen Verdacht?«
Rooker zog lange an seiner Zigarette und inhalierte tief.
»Kommen Sie, es deutete doch alles auf Sie, oder? Wollen Sie mir ernsthaft weismachen, dass Ihnen nicht einmal der Gedanke kam, Ryan könnte Ihnen eine Falle stellen? Obwohl Sie davon überzeugt waren, dass er nicht richtig tickt?«
Mit einem geräuschvollen Seufzen ließ Rooker den Rauch aus seinen Lungen entweichen. »Der kam mir später. Nachdem es passiert war und man mich auf dem Kieker hatte. Ja, dann hätte es auch der Blödeste kapiert. Und ich hab gemerkt, wie bescheuert ich war. Aber da war es ein bisschen zu spät. Ich saß in der Falle, und Ryan hatte seine Ausrede, um mich platt zu machen. Zu dem Zeitpunkt war mir natürlich klar, dass er mich aus dem Weg räumen und mir für immer das Maul stopfen musste.«
»Was dachten Sie, als er Sie fragte?«
»Ich dachte, auf keinen Fall, verdammt.«
»Weil es riskant war?«
»Weil es, verflucht noch mal, ein Kind war.«
Thorne beugte sich über das Aufnahmegerät. »Mr. Rooker schlägt mit der Hand auf den Tisch. Um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen.« Er bedachte Rooker mit einem aufgesetzt strahlenden Lächeln. »Ich sag das nur, falls jemand glaubt, ich verprügele Sie mit dem Stuhl oder dergleichen.«
Rooker knurrte.
»Also, was passierte, als Sie Ryan einen Korb gaben?«
»Er war nicht gerade glücklich darüber.«
»Was sagte er?«
»Er meinte, dass er sich jemand anderen für den Job sucht. Ich kann mich genau daran erinnern. Ich stieg aus dem Wagen, und er sagte, bevor er losfuhr: ›Es gibt immer einen anderen …‹«
Und Thorne konnte sich vorstellen, wie Ryan das sagte. Er sah Ryans Gesicht vor sich, wie er es sagte. Und er spürte, wie sich in seinem Magen etwas verkrampfte. Denn Ryan hatte die bittere Wahrheit ausgesprochen. Die Erfahrung hatte Thorne gelehrt, dass das eines der wenigen Dinge war, auf die man sich verlassen konnte. Es gibt immer einen, der die Drecksarbeit macht, die andere nicht machen wollen. Etwas noch Düstereres und Kränkeres. Etwas Unerklärliches, Unfassbares …
Für das Protokoll kündigte Thorne an, das Gespräch werde unterbrochen.
Dann drückte er die rote Taste.
»Wir machen nach dem Mittagessen weiter.«
Kurz vor Newbury verließ Thorne die M4 und fuhr langsam auf den Parkplatz bei Chieveley Services. Bei einem Auto blinkten die Scheinwerfer auf, als er näher kam, und Thorne stellte seinen BMW daneben ab. Holland stieg aus einem Rover, der aus dem Polizeipool für Zivilfahrzeuge stammte, lehnte sich an den Kotflügel und wartete auf Thorne.
Thorne hatte den Anruf kurz nach sieben erhalten, als er auf der M3 unterwegs war, auf dem Heimweg von Salisbury. Er war an der nächsten Raststätte rausgefahren, um sich ein Sandwich zu kaufen und einen Blick in den Straßenatlas zu werfen. Der Verkehr auf dem Autobahnzubringer zur M4 war dicht gewesen und noch schlimmer auf der Straße zurück in den Westen.
Holland hielt Thorne eine wuchtige Taschenlampe entgegen. Nach einem Blick darauf entschied Thorne sich für die Maglite in seinem Kofferraum und nahm auch gleich die Handschuhe heraus. Während sie mit ihren Taschenlampen den Boden vor ihren Füßen absuchten, liefen sie zum anderen Ende des Parkplatzes.
»Wie haben wir das so schnell erfahren?«, fragte Thorne.
»Das liegt an der guten und reibungslosen Zusammenarbeit zwischen uns und den wunderbaren Jungs vom Thames Valley.« Holland musste über Thornes ungläubiges Gesicht grinsen. »Ich weiß, schwer zu glauben. Sie haben den Lastwagen heute Morgen gefunden, das Kennzeichen durch den Computer laufen lassen, und am Ende einer langen Liste – alles unterschiedliche Firmen – tauchte gleich wieder welcher Name auf? Ein Programm in ihrem Computersystem alarmierte die Leute im Thames Valley, teilte ihnen mit, dass wir sehr interessiert an diesem Namen sind, und da wären wir …«
»Was, sie haben uns einfach angerufen?«
»Super, oder, diese Zusammenarbeit? Jemand sollte Mulder und Scully Bescheid geben.«
Der Lastwagen wurde fast vollkommen von der Dunkelheit verschluckt. Der Lichtschein aus dem zweihundert Meter entfernten Restaurant-und-Einkaufs-Komplex reichte nicht so weit, sodass die beiden Streifenpolizisten aus dem Thames Valley nur als zwei dunkle Gestalten wahrnehmbar waren. Als Thorne und Holland näher kamen, ließen ihre Taschenlampen die reflektierenden Streifen an den Uniformen der beiden Polizisten und das flatternde blaue Absperrband aufleuchten, das um das Fahrzeug gespannt war.
Man begrüßte sich freundlich, und die beiden Polizisten nahmen dankbar das Angebot an, eine Tasse in dem Restaurant zu trinken. Thorne und Holland gingen langsam um den Lastwagen herum.
Es handelte sich um eine weiße Mercedes-Zugmaschine mit einem zehn Meter langen, geschlossenen Anhänger. Schmutzig, dunkelgrün. Kein Firmenname oder sonstiger Schriftzug.
Thorne stieg zur Beifahrertür hoch und tastete vorsichtig nach dem Türgriff.
»Die Thames-Valley-Jungs haben sich das sicher alles angesehen«, sagte Holland.
Thorne zog die Tür auf. »Hoffentlich haben sie dabei aufgepasst. Wir müssen die Spurensicherung holen.«
»Sind schon unterwegs.«
Thorne ließ den Schein seiner Taschenlampe über das Innere der Fahrerkabine gleiten. Auf den Sitzen und über den Boden waren Unterlagen verstreut. Wer immer hier etwas gesucht hatte, war nicht besonders vorsichtig vorgegangen. Ob das die Polizisten gewesen waren, die das verlassene Fahrzeug entdeckten, oder der Kidnapper, blieb offen.
»Was hatte er geladen?«, fragte Thorne und sprang von der Fahrerkabine herunter. »Was hatte er angeblich geladen?«
»Laut der Unterlagen, die man in der Fahrerkabine fand, DVD-Geräte. Voll beladen mit dem Besten, was der Markt zu bieten hat. Kein schlechter Fang.«
»Was immer da drin war, es würde mich nicht wundern, wenn Billy Ryan bereits seine Hand draufhätte. Er hat sich vorgenommen, die Zarifs da zu treffen, wo es ihnen richtig wehtut. Was ist mit dem Fahrer?«
»Keine Spur weit und breit. Nicht ein Krümelchen.«
»Was vermuten Sie?«
»Keine Ahnung«, sagte Holland. »Vielleicht haben sie ihn mitgenommen …«
Thorne kniete auf dem Boden und leuchtete unter den Lastwagen. Öl, Dreck, das war’s. »Oder sie haben ihn verprügelt, und er ist zurück zu den Zarif-Brüdern. Wie auch immer, ich möchte nicht in seiner Haut stecken.«
Ein paar Halbwüchsige, die auf den Lichtschein der Taschenlampen aufmerksam geworden waren, kamen mit ihren Hamburgern und ihrer Cola vom Restaurant herüber. Thorne richtete die Taschenlampe auf sie. Sie schrien etwas und hielten die Hand schützend vors Gesicht.
»Dave, sagen Sie ihnen, sie sollen sich verpissen.« Thorne blickte Holland nach, wie er zu ihnen ging, bevor er sich wieder dem Lastwagen zuwandte. Hier traf das alte Klischee wirklich zu, dass es »nichts zu sehen« gab. Die Türen hinten waren nicht verriegelt, aber ins Schloss gefallen. Nachdem Thorne vergebens versucht hatte, eine der riesigen Türen mit einer Hand zu öffnen, legte er seine Taschenlampe auf den Boden und riss mit beiden Händen daran.
Der scharfe Gestank von Urin schlug ihm entgegen. Er bückte sich nach der Taschenlampe und leuchtete hinein. Holland kam um die Ecke, und Thorne zuckte zusammen.
»O Mann …«
»Tschuldigung«, grinste Holland. Er half Thorne mit der Taschenlampe, und sie leuchteten den leeren Lastwagen aus. »Riecht gut, hm? Wahrscheinlich hat ein Penner drin geschlafen. Oder ein paar Kids …«
Thorne setzte ein Bein auf die Rampe und fasste nach oben. »Helfen Sie mir.«
Holland verschränkte die Finger zu einer Räuberleiter für Thorne. Thorne kletterte in den Anhänger. Drinnen war der Gestank noch schlimmer.
»Ugh …«
»Vielleicht war jemand so sturzbesoffen«, meinte Holland, »und hielt das hier für ’ne Art Toilette. Mal was anderes, als in Telefonzellen zu pinkeln …«
Er hatte genug gesehen und drehte sich um, um hinunterzuspringen, als der Schein der Lampe auf ein paar Kratzer oben an der Containerwand in der Nähe der Fahrerkabine fiel. Thorne richtete den Lichtstrahl auf die Stelle und ging langsam darauf zu.
»War schon jemand hier?«, rief er. Er kannte die Antwort bereits. Bei Tageslicht hätte das niemand übersehen.
»Wer weiß«, sagte Holland. »Vielleicht haben die nur die Tür aufgemacht und gesehen, dass der Kasten leer ist.«
Die Kratzer waren frisch, da war Thorne sicher. Sie hoben sich hell gegen das stumpfe, dunkle Metall ab.
Holland beugte sich in den Container, wobei er seine Taschenlampe auf Thorne richtete. »Was ist denn los?«
Nur ein Wort. Er kannte die Sprache nicht. Mit einem Messer tief in den Container gekratzt. Oder mit einem Nagel.
UMIT.
»Das waren keine Penner oder Kids«, sagte Thorne. »Und die Zarifs schmuggeln auch keine raubkopierten Videos.« Er drehte sich um zur Tür, in der sich Hollands Umrisse abzeichneten. »Sie schmuggeln Menschen.«
»Was? Illegale Immigranten?«
»Oder Frauenhandel, aber das glaub ich nicht. Ich tippe darauf, dass die Leute freiwillig hier waren. Ihre Ersparnisse drangaben für das Versprechen eines Gangsters.«
Holland sagte etwas darauf, das Thorne jedoch nicht verstehen konnte. Langsam machte er kehrt, der Schein seiner Lampe tanzte gemächlich über die schmutzigen Wände. Er fühlte sich elend, die Frau fiel ihm wieder ein.
Die Frau in der U-Bahn, am ersten Tag. Ein Baby und eine leere Tasse.
Arkan Zarifs Worte.
Brot und Arbeit …
Es war weit nach Mitternacht, als Thorne in die Ryland Road einbog und hinter einem dunkelblauen VW Golf parkte. Er fühlte sich wie erschlagen. Als er an dem Golf vorbei zu seiner Wohnung lief, entdeckte er auf dem Fahrersitz einen schlafenden Mann. Thorne ging langsamer und beugte sich zum Fenster, um ihn näher zu betrachten. Einige Meter entfernt stand eine Straßenlaterne, die etwas Licht spendete, aber nicht allzu viel. Der Mann im Auto schlug die Augen auf, lächelte Thorne an und schloss sie wieder.
Thorne ging weiter zu seiner Haustüre und kramte in seiner Tasche nach den Schlüsseln. Vielleicht hatte er Billy Ryan kräftiger in den Hintern getreten, als er gedacht hatte …
Hendricks lag bereits auf dem Bettsofa und las in einem Taschenbuch mit einem gewollt künstlerischen Umschlag.
Thorne erzählte von seinem Tag.
Was die Arbeit an dem Fall anging, hatte Hendricks praktisch seit der Autopsie an Marcus Moloney nichts mehr damit zu tun gehabt, aber es war wichtig, dass er Teil des Teams blieb. Außerdem war Thorne sicher, dass sie ihn als Spezialisten wieder benötigen würden, bevor alles vorbei war.
»Auf dem Anrufbeantworter ist eine Nachricht für dich«, rief Hendricks in die Küche. »Klingt interessant …«
Thorne kam mit seinem Tee zurück, drückte auf die Taste und setzte sich auf die Lehne des Sofas, um zuzuhören. Die Nachricht kam von Alison Kelly. Sie fragte, ob er am nächsten Abend Zeit habe, und hinterließ ihre Nummer.
Hendricks legte sein Buch weg. »War das die, von der ich annehme, dass sie es war?«
Thorne schaltete das Licht im Wohnzimmer aus und steuerte das Schlafzimmer an. »Kann ich nicht sagen«, antwortete er. Grinsend öffnete er die Schlafzimmertür. »Ich weiß ja nicht, wer du glaubst, dass es war …«
Ein paar Stunden später tapste Thorne zurück ins Wohnzimmer, noch genauso wach wie zu dem Zeitpunkt, als er es verlassen hatte. Langsam tastete er sich Richtung Fenster. Als er an dem Bettsofa vorbeischleichen wollte, stieß er mit dem Fuß dagegen.
Hendricks schreckte hoch. Der Schlag musste ihn geweckt haben – oder das Fluchen.
»Es ist vier Uhr früh …«
»Weiß ich.«
Obwohl niemand da war, den sie hätten stören können, gebot es die Dunkelheit, zu flüstern.
»Was machst du denn da?«, stöhnte Hendricks.
Thorne war gereizt, und der pochende Schmerz in seinem Fuß machte es nicht besser. »Im Augenblick denke ich gerade, dass es hier etwas sehr eng ist.« Er trat ans Fenster. »Wie lange dauert es denn noch, das bisschen Feuchtigkeit loszuwerden?«
Hendricks sagte nichts darauf.
Thorne zog das Rollo hoch und sah hinaus auf die Straße. Der Golf war verschwunden.
18. Mai 1986
Heute war ich mit Ali in der Stadt. Wir sind einfach nur rumgelaufen. Ali kaufte sich eine Tasche und ein paar neue Tops, und ich holte mir ein paar LPs. Danach aßen wir einen Hamburger und saßen auf einer Bank vor der Bibliothek. Ein paar Jungs hingen herum und starrten uns an. Ich meinte im Witz, auf welche von uns beiden sie wohl stehen. Solche Sachen habe ich früher immer gesagt. (Übrigens standen die Jungs schon immer auf Ali!) Irgendwie hat sie das getroffen. Sie warf ihren Hamburger weg, und mir war klar, dass ich jetzt besser die Klappe halten sollte. Aber irgendwie wollte ich sie zum Lachen bringen. Ich sagte, anscheinend sei an dem Spruch was dran, dass gut aussehende Mädchen immer eine hässliche Freundin dabeihaben. Und da fing sie an zu heulen.
Jetzt fühle ich mich schlecht, weil ich sie zum Weinen gebracht habe, und gleichzeitig bin ich wütend, weil sie traurig ist oder sich schuldig fühlt oder was auch immer. Das kommt mir so trivial vor, wenn ich in den Spiegel an der Schlafzimmertür gucke und die eine Hälfte meines Gesichts noch immer aussieht wie das Hackfleisch in ihrem Burger.
Ich weiß, morgen denke ich anders drüber, und Ali und ich sind wieder die besten Freundinnen. Aber es fällt mir wirklich schwer, gute Miene zu machen, wenn ich das alles aufschreibe. Und das hat nur mit mir zu tun. Ich schreibe immer abends, dann schaue ich aus dem Fenster und höre die Smiths oder eine andere Band, die mich noch mehr runterziehen. Vielleicht hätte ich mir fröhlichere Musik kaufen sollen. Für den Soundtrack morgen geht dann mein Dank an Cliff Richard oder die Wombles oder was …
Beschissener Moment des Tages
Die Sache mit Ali.
Glücksmoment des Tages
Ein Comedian im Fernsehen, der einen Witz darüber machte, wie Brandopfer immer aneinander kleben.