Zweiundzwanzigstes Kapitel

Vor ein paar Jahren war Thorne auf dem Weg zur Arbeit einem von Pferden gezogenen Leichenwagen begegnet, der ihm aus dem Nebel entgegenkam – ein Anblick, der ihn tief erschütterte. Er hatte am Straßenrand angehalten und zugesehen, wie das Ding an ihm vorbeiratterte. Der Atem hing den Tieren wie Rauch vor den weichen Mäulern, bevor er durch die schwarzen Federn ihres Kopfschmucks nach hinten zog.

Das echte Grauen von damals holte Thorne nun wieder ein, als die Leichenbestatter den Sarg von einem beinahe identischen, mit gläsernen Seiten versehenen Wagen gleiten ließen. Wenn es einen Menschen gab, von dessen Geist er nicht heimgesucht werden wollte, dann war das Billy Ryan.

Der Friedhof von St. Pancras war der größte Friedhof in London. Zwar war er nicht so bekannt wie der Friedhof von Highgate oder Kensal Green und konnte auch nicht mit so vielen pompösen Grabstellen und berühmten Toten aufwarten. Dennoch war er beeindruckend und voller Atmosphäre. Die Sargträger nahmen den Sarg auf die Schultern und entfernten sich langsam vom Hauptweg. Das riesige Gelände, auf dem sich auch der Friedhof von Islington befand, hatte früher einmal zu dem berühmt-berüchtigten Finchley Common gehört, auf dem einst die Räuber Dick Turpin und Jack Sheppard ihr Unwesen trieben. Ein, wie Thorne fand, auch für Billy Ryan passender Ort, um unter der Erde zu verwesen.

Der Leichenwagen kam nicht mehr weiter. Die wunderschön gepflegten Blumenbeete am Eingang hatten wucherndem, stellenweise undurchdringlichem Unterholz Platz gemacht. Die geschmackvolle Komposition aus Narzissen, Tulpen und Stiefmütterchen war Brennnesseln, Dornengestrüpp und einem wahren Efeudschungel gewichen. Sie wucherten die Eingänge zu den Grüften zu und griffen nach den steinernen Flügeln der Engel.

»Entschuldigen Sie, Sir …«

Thorne trat zur Seite, um einen der Bestatter vorbeizulassen, der mit drei anderen versuchte, seine Kollegen einzuholen. Jeder trug ein riesiges Blumengebinde: Kreuze, Kränze und Buketts, auf denen »DAD« und »BILLY« ZU lesen war. Dutzende davon waren bereits entlang des Wegs aufgereiht. Ein großer Tag für Interflora …

Thorne hatte am Eingang einen Blick auf das schwarze Brett geworfen, als die Prozession durch die Haupttore gebogen war. An diesem Vormittag fanden noch etwa eine Hand voll weitere Beerdigungen statt. Drei Neugeborene waren auch dabei, denn neben dem getippten Eintrag im Zeitplan befand sich der handschriftliche Vermerk »Keine Trauergäste«.

Die Ryan-Party war unbestritten der Hauptevent.

Für den Clan und seinesgleichen waren andere Zeiten angebrochen, so viel stand fest. Im Rotlichtmilieu mit seinen Bordellen und Spielhöllen ließ sich zwar noch etwas verdienen, aber das große Geld machte man mit Drogen. Ein zugegeben in jeder Hinsicht schmutziges Geschäft, das noch schmutziger geworden war, seit die Ausländer sich ein Stück vom Kuchen abschneiden wollten. Das Regelbuch war längst zerrissen und mit Füßen getreten, aber obwohl die gute alte Zeit längst vorbei war, in der man im East End seine Haustür nicht zuzusperren brauchte und die Ganoven »sich nur gegenseitig abmurksten«, änderten sich einige Dinge nie.

Sie liebten noch immer ihre Mum, und ihnen ging noch immer nichts über eine echte, altmodische Beerdigung: belegte Brote und warmes Bier und die alten Geschichten über die Bullen, den Knast und die Schikanen aus Spaß an der Freud und am Profit.

Das braune Moos war feucht und nachgiebig unter den Füßen, als sich die Trauerprozession zur Mitte des Friedhofs zog. Die Menge hatte sich gelichtet. Nur die engsten Familienangehörigen, Freunde und der eine oder andere Polizist würden sich noch am Grab einfinden. Thorne musterte die Leute, mit denen er den Großteil des Tages verbracht hatte. Er hatte die Beileidsbekundungen in der Kirche durchgesehen und war langsam durch Finchley gezogen. Man hatte sich zugeraunt, wie Billy sich über diesen Aufwand gefreut hätte.

Thorne hatte das Treiben aus dem dunklen Rover vom Ende des Zugs aus beobachtet. Er hatte zugesehen, wie Fußgänger respektvoll den Kopf senkten oder mit dem Zeigefinger an den Hut fassten, ohne zu wissen, wem sie da Ehre erwiesen – was er witzig fand. Schließlich war Respekt für bestimmte Geschäftsleute sehr wichtig.

Die Sargträger bewegten sich ungelenk auf dem schmalen Waldweg und hatten Mühe, mit der nötigen Würde über knorrige Wurzeln hinweg- und an schiefen Grabmälern vorbeizubalancieren. Einer von ihnen ging zwei Schritte voraus, um überhängende Zweige beiseite zu heben. Die Trauernden folgten dem Sarg vorsichtig im Gänsemarsch.

Thorne war nicht der einzige Polizeibeamte. Etwas vor ihm ging Tughan, und ein Schwung Jungs von der SO7 schwirrte auf dem Friedhof herum. Thorne sah eine Menge bekannter Gesichter. Sie waren etwas härter, die Augen ein Stück kälter. Er fragte sich, wie viele Trauergäste wohl Waffen bei sich trugen; wie viele Jahre die Sargträger wohl zusammengenommen hinter Gittern verbracht hatten. Und ob der Mann neben ihm wohl der Mörder von Muslum und Hanya Izzigil war.

Wahrscheinlich, schoss es Thorne durch den Kopf, war mit Ausnahme des Pfarrers und der Typen mit den schwarzen Hüten niemand hier, der nicht einen Polizeiausweis oder ein Strafregister hatte. Genau betrachtet sah sogar der Pfarrer nicht ganz astrein aus …

Sie bogen um eine Ecke, wo der Weg breiter wurde und an einem frisch ausgehobenen Grab endete. Ein grünes, neben dem Lehm grell wirkendes Tuch war um die Graböffnung gebreitet. Die Grabstelle war sicher teuer gewesen, sie war recht groß und bot genügend Platz für ein passendes Grabmal. Noch mehr Blumengebinde lagen bereit. Einige der umliegenden Gräber waren noch frisch, die meisten jedoch weitaus älter – ein eigenartiger Widerspruch zwischen den glänzenden schwarzen Grabsteinen, den bunten Marmorsplittern auf dem Weg und den verwitterten Grabmälern. Die goldenen Grabinschriften wirkten vulgär neben den verblichenen Namen aus einer anderen Zeit: Maud, Florence, Septimus …

Der Pfarrer fing mit der Zeremonie an:

»Gütiger Gott …«

Auf der anderen Seite des Grabes hielt Stephen Ryan den Arm seiner Mutter. Seine Augen waren blutunterlaufen, ob das nun vom Kokain oder von seinem Kummer kam, konnte Thorne nicht sagen. Er warf Thorne einen intensiven, stechenden Blick zu, der schwer zu deuten war.

Danke, dass Sie gekommen sind …

Was jetzt …?

Was bilden Sie sich ein, hier aufzukreuzen …?

Ziehen Sie sich schon mal warm an …

Thorne sah vom Sohn zur Mutter. Ryans Frau starrte mit aufgerissenen Augen auf den Sarg. Thorne hatte noch nicht das Vergnügen gehabt, sie kennen zu lernen. Er erinnerte sich daran, was Tughan ihm erzählt hatte. Wenn man den Gerüchten glauben durfte, hatten jede Menge Gärtner und Personal Trainer das Vergnügen bereits gehabt. Botox und Silicon hatten das ihre dazu beigetragen, und jetzt hatte sie noch viel mehr Geld, um sich in Schuss zu halten. Als sie die Augen hob und hinauf in die Bäume sah, konnte Thorne erkennen, dass diese unter dem dicken Make-up dunkel und tränenlos waren.

Der Pfarrer hielt seinen Sermon, wobei das eine oder andere dem Krächzen einer Krähe oder dem Dröhnen eines Fliegers zum Opfer fiel.

Thorne fragte sich, ob Billy Ryan seine alte Boxtechnik dadurch up to date gehalten hatte, dass er sie an seiner zweiten Frau ebenso praktizierte wie an seiner ersten. Wahrscheinlich. Wie auch immer, der Saukerl hatte endlich dafür zahlen müssen, was er Alison Kelly angetan hatte.

Aber hatte er wirklich für Jessica Clarke bezahlt?

Thorne beobachtete die Witwe und den Erben, als der Sarg ins Grab gesenkt wurde. Er hatte den Eindruck, als wolle Ryans Frau sichergehen, dass ihr Mann da niemals mehr rauskam. Stephen fing an zu schluchzen, und Thorne wurde klar, dass er sich an seine Mutter geklammert hatte und nicht umgekehrt.

Als mehrere bewaffnete Gangster vortraten, um Erde auf den Sargdeckel zu werfen, fand Thorne es an der Zeit, sich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Er wandte sich um und schlenderte gemächlich zum Hauptweg. Dabei las er die Inschriften auf den Grabsteinen, so wie man unmöglich an einem beleuchteten Fenster vorbeigehen kann, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Eine ganze Reihe derer, die unter der Erde ruhten, waren »eingeschlafen«, eine Formulierung, die ihm schon immer albern erschienen war. Andererseits war es wieder verständlich, dass es beinahe so viele Euphemismen wie Tote gab. »Die ewige Ruhe gefunden« und »in eine bessere Welt gegangen«, das war, wie selbst Thorne zugeben musste, ein Stück leichter zu akzeptieren als »von einem Lastwagen überfahren« oder »in einen Liftschacht gestürzt«. Und auf jeden Fall besser als »mit mehreren Messerstichen in seiner Diele niedergestreckt, um dann in seiner Küche endgültig erstochen zu werden«.

Thorne gelangte zu dem breiten Weg, der zum Haupttor führte. Bei dem Leichenwagen blieb er stehen, um einem der Pferde das Maul zu tätscheln. Ein Beben lief über die Flanke des Tieres, bevor es wieherte und einige Äpfel auf den Boden platschen ließ.

Eine böse Erinnerung ein für alle Mal ausgetrieben …

Als er die geparkten Autos entlanglief, kam er an einer Reihe ernst dreinblickender Typen in langen schwarzen Mänteln vorbei, von denen sich einige einen Namen mit Bestsellern über echte Kriminalfälle gemacht hatten. Zweifelsohne fühlten sie sich geehrt, bei Billys Beerdigung Wache schieben zu dürfen. Sicherheitsleute und eine bunte Mischung aus Fernsehsternchen und Sportstars aus der zweiten Reihe gehörten zu einer traditionellen Ganovenbeerdigung einfach dazu.

Thorne blieb neben einem großen Mülleimer aus Metall stehen. Er floss über von Plastiktüten, Blumentöpfen und welken Blumen. Dagegen gelehnt stand ein Mann, den er hier nicht erwartet hatte. »Gibt es einen speziellen Grund für Ihr Erscheinen?«, fragte Thorne.

Ian Clarke hielt einen großen Kranz aus weißen Lilien in der Hand. Er trug Jeans und eine dunkelblaue Jacke über einem braunen Polohemd. Thornes Frage amüsierte ihn anscheinend sehr. »Welchen Grund sollte es schon geben? Ich war auch auf Kevin Kellys Beerdigung. Das war das Mindeste, was ich tun konnte.«

Thorne überlegte, ob Clarke womöglich gewusst hatte, welche Rolle Ryan beim Unglück seiner Tochter gespielt hatte. Er wies den Gedanken von sich und fragte sich stattdessen, ob er ihm davon erzählen sollte. Der Gedanke landete noch schneller in der Ablage. Hätte er seinen Mund das eine Mal nicht so weit aufgerissen, stünde er nicht auf diesem Friedhof.

Er sah hinüber zu dem Pförtnerhäuschen. Ein Gärtner bog langsam um die Ecke eines Blumenbeets. In einer Hand hielt er einen Rasentrimmer, in der anderen ein Handy, das er sich an sein Ohr presste.

Als Ian Clarke zu reden begann, geschah dies so leise und so emotionslos, dass Thorne ein paar Sekunden brauchte, um zu bemerken, dass Clarke nicht mit sich selbst sprach. Nachdem er ihm eine Weile zugehört hatte, wusste er, dass es aber genauso gut ein Selbstgespräch hätte sein können.

»Die ersten paar Tage nach der Verbrennung sind am schlimmsten. Nicht nur … emotional. In dieser Zeit entsteht der meiste Schaden. Die Folgen der Verbrennung bedeuten bis zu zehnmal mehr Schaden als die Verbrennung selbst. Haben Sie das gewusst? Diese Schäden führen erst zur Narbenbildung.

Direkt danach konnte sie weder den Mund noch die Augen öffnen. Sie konnte nicht essen. Der Schrei kam durch die Zähne, so ein Geräusch habe ich nie zuvor gehört. Als blutete es durch das wenige heraus, was von ihrer Haut noch übrig war. Sie hat viel geschrien in diesen ersten Tagen.

Sie musste eine Maske tragen, um auf die verletzte Haut ständigen Druck auszuüben. Das sollte die Narbenbildung eindämmen, die Narben nicht zu dick und starr werden lassen. Über ein Jahr ist sie mit dem entsetzlichen Ding rumgelaufen. Über ein Jahr hat sie das tragen müssen, und sie hat es vierundzwanzig Stunden am Tag gehasst. Und das völlig umsonst, wie sich herausstellte. Es war nicht richtig angepasst worden, und die Schädigung war längst passiert. Sie musste sich ruhig halten, verstehen Sie, absolut ruhig, während sie ihr Vaseline auf das Gesicht auftrugen und anschließend dieses Geleezeug. Sie konnte keinen Muskel bewegen, wenn sie die Maske trug.

Ich hätte darauf bestehen können, dass das unter Narkose geschieht. Ich hätte darauf bestehen sollen. Aber ich wollte nicht, dass sie noch eine Operation über sich ergehen lassen muss. Verstehen Sie? Zu dem Zeitpunkt hatte sie bereits sechs Hautverpflanzungen und fünfundzwanzig Bluttransfusionen hinter sich. Einige der jüngeren Ärzte haben gewitzelt, sie hätte schon mehr Zeit in dem verdammten Krankenhaus verbracht als sie.

Diese Maske, von der ich gesprochen habe, diese Druckmaske, das machen sie jetzt alles mit Lasern. Sie scannen das Gesicht mit einem Laser, und dadurch sitzt die Maske immer perfekt. Heute verwenden sie hyperbaren Sauerstoff, um die Vernarbung am Anfang zu verhindern. Es gibt die verrücktesten Dinge, ständig neue Methoden, Entdeckungen: Mikrodermabrasion, Laserbehandlung, chemisches Peeling, alles Mögliche. Einige Sites habe ich zu Hause am Computer gefunden. Medizinische Interessengruppen, Chatrooms. Man findet so gut wie alles im Internet, wenn man sich nur dafür interessiert oder verrückt genug ist, je nachdem, wie Sie’s sehen. Und wenn man die Zeit dafür hat. Ich bin inzwischen ein richtiger Experte, was die neuesten Entwicklungen angeht.

Gute Zeiten für Verbrennungen …

Die Hautverpflanzungen sind inzwischen fantastisch, wirklich fantastisch. Die Vollhautverpflanzung hat erst den richtigen Durchbruch gebracht. Damals hat es nur Spalthautverpflanzungen gegeben. Verstehen Sie? Sie haben eine feine Hautschicht von einer anderen Stelle abgetragen, dabei war es so gut wie unmöglich, eine Narbenbildung zu verhindern. Inzwischen haben sie künstliche Haut, die sie für eine zeitlich begrenzte Verpflanzung einsetzen können. Das ist Wahnsinn. Die wird aus Haihaut und Silikon hergestellt. Damals … Ich klinge schon, als würde das alles hundert Jahre zurückliegen … Damals hat man Haut von toten Spendern verwandt. Schon beim bloßen Gedanken daran wird einem ganz anders. Die Haut eines Toten.

Die Haut einer Leiche. Am Hals meines Mädchens. Auf ihrem Gesicht ….

Heute können sie Haut im Labor züchten. Sie können sie richtig wachsen lassen. Haut, die dem, womit wir geboren wurden, so verdammt nahe kommt, wie es nur geht. Die genauso dick ist wie menschliche Haut, das ist der entscheidende Schritt nach vorne. Sie nennen sie ›unsterbliche Haut‹. ›Unsterbliche Haut‹, weil die Zellen nie zu wachsen aufhören. Niemals. Wussten Sie, dass es nur eine in der Natur vorkommende menschliche Zelle gibt, für die Unsterblichkeit als normal betrachtet wird? Raten Sie mal! Die Krebszelle …

Jetzt haben sie unsterbliche Haut …«

Endlich legte er eine Pause ein.

Thorne trat einen halben Schritt auf ihn zu. »Ian …«

»Die Bösen haben Narben. Monster und Mörder im Kino und im Fernsehen. Das Phantom von der Scheißoper und Joker und Freddy Krueger.«

»Vielleicht können wir Ihnen helfen, das alles hinter sich zu lassen«, sagte Thorne.

Falls Clarke hörte, was Thorne sagte, ging er bewusst nicht darauf ein.« Als ob man eine Maske trägt, die man nie abnehmen kann »«, sagte er. »Jess schrieb das in ihrem Tagebuch.«

»Ich hab’s gelesen …«

Clarke sah auf, seine Augen glänzten, seine Stimme klang plötzlich rau, gebrochen. »Was sie über die Party geschrieben hat? Erinnern Sie sich an den letzten Eintrag, über die Rede, die bestimmt jemand an ihrem Geburtstag halten würde? Genau das hatte ich vor. Genau das. Bis hin zu den müden Witzen …«

Es fiel Thorne schwer, ihm in die Augen zu sehen, wie er es in dem Haus nahe dem Wandsworth Common getan hatte. Er blickte langsam zu Boden. Vorbei an den Fäusten, die sich um den Kranz krallten, an denen die Knöchel so weiß hervortraten wie die Blütenblätter, die auf Ian Clarkes Füße gefallen waren.