Dreizehntes Kapitel

»Sie sehen etwas besser aus, Gordon«, sagte Holland.

Rooker knurrte. »Alles relativ, oder?«

»Okay«, sagte Stone. »Sie sehen besser aus als ein Haufen Scheiße, aber nicht ganz so gut wie Tom Cruise. So besser?«

Der Gefängnisaufseher, der hinter ihnen gestanden hatte, trat einen Schritt vor und beugte sich über sie. »Geht das ein bisschen schneller?«

Sie saßen um einen Tisch in der kleinen Büroecke des Besuchertrakts. Ein Fernsehgerät und ein Videorekorder waren aufgestellt. Holland hämmerte auf eine Taste ein, um die richtige Stelle zu finden.

Ohne ihn anzusehen, wedelte Stone vor dem Gefängnisaufseher mit einem Blatt Papier. »Keine Angst, die Liste ist nicht lang.« Dann, zu Rooker gewandt: »Er ist nicht gerade Ihr beliebtester Gast, oder?«

Das war Teil der Überprüfung, die Thorne gegenüber Tughan erwähnte, als Zweifel über Rooker laut geworden waren. Während Stone und Holland sich zum Her Majesty’s Prison Park Royal aufmachten, kümmerten sich andere aus dem Team um die, die sich in letzter Zeit in die entgegengesetzte Richtung aufgemacht hatten. Die Gordon Rooker vielleicht nahe genug standen, um ihm draußen einen Gefallen zu tun …

Besagte Liste enthielt die Namen derer, die Rooker in den letzten sechs Monaten im Gefängnis besucht hatten. Falls der Mann, der Carol Chamberlain angerufen hatte und womöglich für den Überfall am Swiss Cottage verantwortlich war, mit Rooker unter einer Decke steckte, dann heckten sie ihren Plan mit großer Wahrscheinlichkeit im Besucherbereich aus. Telefonisch ließe sich vielleicht auch das eine oder andere organisieren, aber das war sehr unwahrscheinlich. Gordon Rooker fiel in die Kategorie B, und bei Gefangenen dieser Kategorie wurden Anrufe nach einem Zufallssystem überwacht. Falls Rooker einen Komplizen hatte, dann stand dessen Name mit ziemlicher Sicherheit auf dieser Besucherliste.

»Namen und Adressen zu überprüfen ist einfach«, hatte Thorne Holland erklärt. »Aber ich möchte, dass ihr sie mit Rooker persönlich durchgeht. Jede mögliche Zusatzinformation aus ihm herausholt. Auf seine Reaktion achtet, wenn ihr ihm die Bilder zeigt. Wir müssen absolut sichergehen, dass er uns nicht verarscht …«

Sie hatten die Aufnahmen der Überwachungskameras im Besucherbereich vom Gefängnis angefordert, durchgesehen und geschnitten. Am Schluss blieb dem Team eine Sequenz von nur wenigen Minuten, die sich Holland, Stone und Rooker nun ansahen.

»Los geht’s«, sagte Holland und lehnte sich zurück.

Stone klopfte Rooker auf die Schulter. »Das ist ein Zusammenschnitt der Highlights, Gordon. Und wir möchten, dass Sie uns dazu den Kommentar liefern, klar?«

Rooker griff nach seiner Brille und schob seinen Stuhl etwas näher an den Fernsehschirm.

Aus dem Geflimmer tauchten grob montierte Aufnahmen auf, die Bilder hüpften auf eine verwirrende Weise von einer Szene zur nächsten: Eine Hand voll Leute marschierte in den Besucherbereich, legten Handtaschen und Jacken ab, unter Stühlen oder auf Stühlen, und setzten sich. Die meisten sanken hinter den schmalen Tischen in sich zusammen – kein einziger Besucher schien sich besonders darüber zu freuen, hier zu sein.

»Cath, meine älteste Tochter.« Rooker deutete und redete, während Holland sich Notizen machte. Auf dem Bildschirm war eine dunkelhaarige Frau Ende dreißig zu sehen, die sich gerade setzte. Sie trug Jeans und Sweatshirt. Hätte sie einen Schürzenlatz getragen, hätte sie eine Gefangene sein können. »Ihr Sohn wechselt jetzt zu West Ham …«

Schnitt und eine andere Frau, wahrscheinlich Anfang siebzig, saß auf dem Stuhl. Den grünen Mantel bis oben hin zugeknöpft und die Handtasche vor sich auf dem Tisch. »Die jüngste Schwester meiner Mutter, Iris. Kommt immer wieder mal vorbei, um mir zu erzählen, wer gestorben ist.«

Ein Mann etwa im selben Alter wie Rooker, lebhaft mit den Armen rudernd während des Sprechens. Schmutziger grauer Anzug und ebensolche Haare. »Tony Sollinger, alter Saufkumpan. Hat sich plötzlich bei Lizzie gemeldet und seinen Besuch angemeldet. Wollte mir unbedingt erzählen, dass er Krebs hat, keine Ahnung, warum …«

Eine Frau zwischen fünfzig und siebzig, die Haare unter einem gemusterten Schal verborgen, eher schweigsam. »Wenn man vom Teufel spricht. Die Frau … beinahe Exfrau, bei ihrem jährlichen Besuch …«

Irgendwoher aus dem Trakt hinter ihnen war plötzlich ein lautes Heulen zu hören. Wut, Schmerz oder etwas anderes. Holland und Stone wandten sich beide um. Der Gefängnisaufseher rührte keine Miene.

»Verständlich, dass die Leute nicht Schlange stehen für einen Besuch«, sagte Stone. »Wahrlich kein Luxushotel.«

Der Gefängnisaufseher sah aus, als lache er, gab jedoch kein Geräusch von sich.

»Wayne Brookhouse«, fuhr Rooker fort. »Ging mal mit meiner Jüngsten.« Ein Mann Anfang zwanzig. Dunkle Locken, Brille. Offensichtlich Kettenraucher. »Meine Tochter kriegt nie den Hintern hoch, also kommt er, erzählt mir, was sie treibt. Behauptet, er sei Automechaniker, wenn Sie mich fragen, handelt er mit gebrauchten Schrottkisten. Ist nicht gut auf die Polizei zu sprechen, aber an sich ein anständiger Kerl.«

Ein Schwarzer, um die vierzig. Sehr groß und sehr gut angezogen. Ein kurzärmliges weißes Hemd und eine dunkle Krawatte. »Simons, oder Simmonds, oder was in der Richtung. Einer von diesen nervigen Gefängnisbesuchern. Wenn Sie mich fragen, sind die nur auf den Kitzel aus. Aber der hier ist nicht übel. Immer noch besser, als sich mit einem dieser Monster hier drin zu unterhalten.«

Und schließlich der letzte Besucher. Ein breitschultriger Mann, etwas kleiner als der Schnitt. Graue Schläfen. Saß so gut wie regungslos, den Blick fixiert auf Gordon Rookers gesenkten Kopf.

Lachend wandte sich Stone von Tom Thornes Konterfei ab und sah zu Holland. »Mann, der sieht ja echt übel aus.«

Dann weißes Rauschen.

Holland steckte sein Notizbuch weg. Stone lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wandte sich an Rooker. »Fünf Besucher in sechs Monaten. Sieht ganz so aus, als hätte man Sie vergessen, mein Freund.«

Rooker stand auf. »Genau das hoffe ich …«

Er drehte sich um und ging durch die Tür. Der Gefängnisaufseher stand auf und folgte ihm ruhig. Dabei säuberte er sich die Fingernägel mit einer laminierten ID-Marke.

 

»Ziemlich ruhig geworden hier«, sagte Kitson.

Sie hatte Recht. Thorne war klar, dass sie damit nicht nur die Tatsache meinte, dass viele aus dem Team früher in die Mittagspause und hinüber ins Oak gegangen waren. »Ich glaube, dass es noch sehr viel ruhiger wird, was die Sache am Swiss Cottage angeht«, sagte er. »Es sei denn, bezüglich Billy Ryan wird endlich eine Entscheidung gefällt …«

Seit sie ihre Meinung über Gordon Rooker geändert hatten, war das gemeinsame Projekt mehr oder weniger in zwei Hälften gespalten. Verständlicherweise lag der Schwerpunkt darauf, den Mann zu ergreifen, der versucht hatte, das Mädchen am Swiss Cottage anzuzünden. Doch die Ermittlungen hatten in den alles entscheidenden vierundzwanzig Stunden nichts ergeben. Trotz der genauen Kenntnis des Zeitpunkts und des öffentlichen Tatorts war nicht eine hilfreiche Beschreibung hereingekommen. Das Gesicht des Mannes war unter der Kapuze seines Anoraks verborgen geblieben, und die Zeugenaussagen hinsichtlich der Größe und Figur des Täters waren sehr unterschiedlich ausgefallen. Die Schlechtwetterkleidung und die gebeugte Haltung hatten nichts anderes erwarten lassen.

Das Mädchen selbst besuchte bereits wieder die Schule, während die Mutter abkassierte, indem sie sich in jeder Talkshow, die sie haben wollte, über das glückliche Davonkommen ihrer Tochter und die schockierende Unfähigkeit der Polizei ausließ. Ihre Tochter war, soweit man das sagen konnte, nach absolutem Zufallsprinzip ausgewählt worden. Es war nicht so, dass die Spuren im Sande verliefen, es gab einfach keine Spuren.

Und dann war da noch Billy Ryan, ob er nun mit dem Vorfall am Swiss Cottage etwas zu tun hatte oder nicht. Während hinter Gefängnismauern gegen ihn intrigiert wurde, bestand noch immer Unsicherheit, wie sie draußen gegen ihn vorgehen sollten.

Nick Tughan wollte sachte vorgehen. Der Streit mit den Zarif-Brüdern war nach wie vor akut, und Tughan glaubte nicht, dass es etwas brächte, Ryan direkt wegen Rooker oder Jessica Clarke anzugehen. Thorne war größtenteils außen vor, als sich die Dinge Mitte vergangener Woche zuspitzten.

»Wir arbeiten mit Rooker zusammen«, hatte Tughan gesagt. »Wir sammeln die Beweise gegen Ryan, doch während das passiert, läuft da am Rande noch dieser Bandenkrieg.

Mein hauptsächliches Interesse besteht darin, weitere Morde zu verhindern.«

»Kommen Sie, Nick. Hier geht’s doch nicht drum, unschuldige Leben zu retten«, meinte Brigstocke.

Tughan reagierte verärgert. »War Hanya Izzigil nicht unschuldig? Und Marcus Moloney?«

Brigstocke sah auf seine Füße, dann seitwärts zu Thorne. Nicht gerade ein guter Anfang …

»Wir wissen nicht, was Ryan als Nächstes vorhat.« Tughan war ans Fenster getreten und sah auf die North Circular hinaus. »Er versuchte Rooker unschädlich zu machen und hat es verpatzt. Früher oder später muss er auf den Mord an Moloney reagieren. Die Sache liegt beinahe zwei Wochen zurück …« Er wandte sich um und hob die Hand, bevor Thorne Gelegenheit hatte, etwas zu sagen. »Selbst wenn er Moloney umbringen ließ, es sähe doch verdammt komisch aus, wenn er nicht zurückschlägt, oder?«

»Warum setzen wir ihn dann nicht wegen Moloney unter Druck?«, fragte Brigstocke. »Warum setzen wir den Saukerl nicht wegen dem ganzen anderen Kram unter Druck?«

»Hier geht es übrigens nicht nur um Ryan. Was immer geschieht, ich will auch den Zarifs an den Kragen.«

»Klar. Aber im Augenblick reden wir über Billy Ryan, und momentan benehmen wir uns wie Sesselfurzer. Wir sollten versuchen, ihre Geschäfte zu stören.«

Der überwältigende Ausblick auf Autos und Beton war offensichtlich unwiderstehlich für Tughan. Er dachte kurz nach, oder vielleicht tat er auch nur so, wandte sich wieder dem Fenster zu. »Warten wir ab …«

Brigstocke seufzte müde. »Vielleicht reicht Rooker nicht, Nick. Wir sollten alles versuchen, was in unserer Macht steht.«

Es war für alle Zeit klar, auf welcher Seite Thorne stand. Er ertrug es nicht lange, mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten. »Sie waren es doch, der meinte, Rooker sei unzuverlässig.« Er war links an Tughan herangetreten, um dessen Gesicht wenigstens von der Seite zu sehen. »Glauben Sie nicht, eine Jury könnte das ebenso sehen? Da können die Beweise noch so gut sein, wenn Rooker als Zeuge unglaubwürdig ist. Ryans Anwälte werden sich ins Zeug legen, um seine Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Es kann also nicht schaden, wenn wir noch etwas in der Hand haben.«

Brigstocke hob die Hände. »Ich sehe nicht, wie es schaden könnte.«

»Erinnern wir Ryan einfach daran, dass wir ihn noch auf dem Radar haben«, schlug Thorne vor. »Lassen wir die Suppe weiterköcheln, wir sollten ein bisschen rührig sein …«

Jetzt, Tage später im Büro mit Yvonne Kitson, lächelte Thorne noch immer darüber, was Tughan darauf geantwortet hatte: »Darin sind Sie gut, was, Tom? Rührig sein. Sie sind ein Löffel auf Beinen.«

Kitson drehte sich auf ihrem Sessel zu ihm herum. »Glauben Sie, Brigstocke setzt sich durch?«

»Russell kann prima austeilen«, sagte Thorne, »aber ab und zu braucht er einen kleinen Schubs. Ich hab ihn dran erinnert, dass er auch mal Detective Inspector war, und er war etwas genervt.« Kitson lachte. »Vielleicht lässt er Tughan einfach links liegen …«

Thorne sah hinüber zu Kitson und erinnerte sich plötzlich daran, wie er vor einem Jahr mit ihr im selben Büro saß. Er hatte ihr dabei zugesehen, wie sie ihren Lunch aß, hatte sie angestarrt, als sie ihre Sandwiches aus dem Tupperwarebehälter holte und auswickelte. Er hatte gedacht, sie habe alles unter Kontrolle …

Thornes Magen knurrte. Karim brachte ihm ein Käsesandwich aus dem Pub mit. Das sollte der kulinarische Überflieger im Oaks eigentlich hinkriegen …

»Was machen Sie mittags, Yvonne …?«

Bevor sie antworten konnte, klopfte es an der Tür, und Holland steckte seinen Kopf durch den Spalt. Er kam rein, und ihm auf den Fersen folgte Andy Stone. Gemeinsam lieferten sie Thorne eine Zusammenfassung von ihrem Besuch im Park Royal.

Thorne sah sich die Fotos an – Standfotos von der Videokassette, die sie Rooker gezeigt hatten. »Also die Frau können wir wohl mit Sicherheit ausschließen, und die Tochter und die Tante auch.«

Holland schnitt eine Grimasse. »Ohne Witz, könnte nicht eine von ihnen als Mittlerin zwischen Rooker und dem großen Unbekannten fungiert haben?«

Thorne war nicht als der Typ bekannt, der sich doppelt und dreifach absicherte. Doch in diesem Fall ging er lieber auf Nummer sicher. »Okay«, willigte er ein. »Redet mit allen, mit Ausnahme der alten Dame.«

Grinsend drehte sich Stone um, als er und Holland sich aufmachten. »Sind Sie sicher, dass wir nicht auch die alte Dame überprüfen sollen? Ich würd der nicht über den Weg trauen.«

Thorne nickte. »Stimmt. Wahrnehmung und Realität klaffen da auseinander.« Er setzte eine Unschuldsmiene auf und fügte hinzu: »Ich bin mir sicher, die großen Philosophen haben einiges zu dem Thema beizutragen, Andy.«

Holland kämpfte damit, nicht loszulachen, und trat schnell auf den Flur. Stone folgte ihm mit Pokerface, sodass Thorne nicht wusste, ob seine Anspielung angekommen war.

»Was war denn das?«, fragte Kitson.

Hochzufrieden mit sich grinste Thorne noch immer. »Holland hat mir von Andys Charmeoffensiven beim anderen Geschlecht erzählt.«

»Er soll ein ziemlicher Stecher sein.«

»Scheinbar schon. Ich hab noch keine getroffen, aber wenn man den Leuten Glauben schenken darf, sind die Frauen plötzlich ganz verrückt danach, mit einem Bullen ins Bett zu hüpfen …«

Es dauerte eine Sekunde, bis Thorne klar wurde, was er da gesagt hatte und zu wem er es gesagt hatte. Kitson stieg die Röte bereits ins Gesicht.

»Entschuldigen Sie, Yvonne …«

»Seien Sie nicht dumm.«

Er nickte. Genau so fühlte er sich, dumm. »Wie läuft’s so?«

»Ach, wissen Sie. Beschissen …« Sie lächelte und drehte ihren Stuhl zum Schreibtisch.

»Wie geht’s den Kindern?«

Sie drehte sich langsam zurück. Offensichtlich wollte sie reden. »Der Älteste führt sich ein bisschen auf in der Schule. Schwer zu sagen, ob das damit zu tun hat, was passiert ist. Aber irgendwie komm ich nicht davon los, dass es etwas damit zu tun hat. Ich versuch zwar, mir nicht wegen allem und jedem ein schlechtes Gewissen einzureden. Aber dann schlägt sich wieder eins den Kopf an oder verknackst sich den Knöchel, und schon bilde ich mir wieder ein, es ist meine Schuld …«

Das Telefon auf Thornes Schreibtisch klingelte, und Kitson unterbrach sich.

Es war der Pförtner. Er teilte mit, jemand sei an der Schranke vorgefahren und wolle ihn sprechen.

 

Eigentlich war die Frau – hatte der Pförtner erklärt – nicht gekommen, um ihn persönlich zu sprechen. Thorne war nur zufälligerweise zu dem Zeitpunkt das hochrangigste Mitglied des Team 3 im Gebäude gewesen. Ob dies Glück oder Unglück oder beides zugleich war, sollte Thorne noch lange beschäftigen.

Die Frau stand, als er nach unten kam, in dem kleinen Empfangsbereich. Thorne nickte dem Beamten hinter dem Schreibtisch zu und ging zu ihr hinüber. Sie war Mitte dreißig und eher groß, auf alle Fälle größer als er. Ihre Haare hatten dieselbe Farbe wie die Korkpinnwand hinter seinem Schreibtisch, und ihr Teint war so hell wie die Tapete dahinter. Sie trug eine modische graue Hose und eine passende Jacke, und Thorne überlegte – warum auch immer –, ob sie wohl beim Finanzamt arbeitete.

»Haben Sie einen Parkplatz gefunden?«, fragte er. Andererseits hatte er sich Finanzbeamte nie so attraktiv vorgestellt …

Sie nickte und streckte eine Hand aus, die Thorne schüttelte. »Ich bin Alison Kelly«, sagte sie.

Womöglich hielt sie den verblüfften Ausdruck auf Thornes Gesicht für Ahnungslosigkeit, denn sie wiederholte ihren Namen und setzte dann zu einer weiteren Erklärung an. »Jessica Clarke war meine beste Freundin. Ich bin das Mädchen, mit dem sie verwechselt wurde.«

Thorne ließ ihre Hand los. Plötzlich war er etwas verlegen, sie so lange gehalten zu haben. Es schien sie nicht weiter zu stören. »Entschuldigen Sie, ich weiß, wer Sie sind. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass Sie hier hereinmarschieren oder … Ich habe Sie hier nicht erwartet.«

»Wahrscheinlich hätte ich anrufen sollen.«

Sie sahen sich einen Moment lang in die Augen. Thorne spürte den Blick des Pförtners im Nacken.

»Gut.« Was wollen Sie? Er wollte nicht unhöflich sein, aber genau das beschäftigte Thorne. Doch statt die Frage zu stellen, dachte er darüber nach, wo sie ungestört reden konnten. »Ich finde sicher einen Ort, wo wir uns unterhalten können.« Er deutete auf den Ausgang. »Oder möchten Sie lieber spazieren gehen oder etwas …«

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist eisig kalt draußen.«

»Bald ist Frühling …«

»Zum Glück.«

Becke House war das Hauptquartier und keine normale Polizeiwache, was bedeutete, dass es auch keine Räume für Befragungen oder Verhöre gab. Neben dem Schreibtisch am Empfang befand sich ein Kämmerchen, das in Notfällen gelegentlich für diesen Zweck genutzt wurde, oder zur Lagerung der Getränke, wenn jemand eine Party schmiss. Ein Tisch und ein paar Stühle, ein paar wacklige Schränke, das war’s. Thorne öffnete die Tür, um nachzusehen, ob das Zimmer leer war, und bat Alison Kelly herein.

»Ich schau mal, ob ich uns Tee besorgen kann«, sagte er.

Sie ging an ihm vorbei und setzte sich. Und dann fing sie an zu reden, bevor er die Türe schließen konnte. »Ich erzähle Ihnen, was ich weiß«, sagte sie. Ihre Stimme war tief und akzentfrei. Die Frau hatte Klasse, ohne ein Snob zu sein. »Sie kommen nicht weiter, wenn Sie versuchen, den Mann zu finden, der vor zehn Tagen Brennspiritus über dieses Mädchen am Swiss Cottage gegossen hat.« Sie hielt inne.

Thorne trat an den Tisch und nahm Platz. »Ich bin mir nicht ganz sicher, welche Reaktion Sie von mir erwarten …«

»Drei Tage zuvor versuchte jemand den Mann umzubringen, der wegen des Überfalls auf Jess im Gefängnis sitzt. Er stach ihn mit einem zugespitzten Pinsel in den Bauch. Dass es da eine Verbindung gibt, liegt auf der Hand. Irgendetwas läuft da.«

»Darf ich Sie fragen, woher Sie das alles wissen?«

Sie reagierte mit einem leichten Kopfschütteln, als habe sie eher etwas gegen die Unterbrechung als die Frage an sich. Dann fuhr sie fort, um zu zeigen, wie viel sie wusste. »Selbst wenn Ihnen nicht klar wäre, dass der Mann, der zustach, Billy Ryan eine Menge Geld schuldet, müssten Sie schon ziemlich ignorant sein, um nicht dahinter zu kommen, wer da die Fäden zieht.« Sie strich sich ein paar lose Haarsträhnen hinter das Ohr. »Ryan ist dafür verantwortlich, so viel ist klar.«

»So viel ist klar«, wiederholte Thorne.

»Er hatte offensichtliche Gründe, Rooker umbringen zu lassen.«

Offensichtliche Gründe. Thorne bemerkte erleichtert, dass sie nicht alles wusste …

»Doch warum er sich ausgerechnet jetzt dafür rächen will, was Rooker vor zwanzig Jahren machte, bleibt ein Rätsel.«

Dieses bizarre und unvermittelte Gespräch machte Thorne nervös. Irgendwie jagte ihm diese Frau Angst ein. Ihr Auftreten faszinierte ihn, aber gleichzeitig störte es ihn ungemein.

»Sie sprachen von dem ›Mann, der wegen des Überfalls auf Jess im Gefängnis sitzt‹. Finden Sie das nicht ein bisschen seltsam? Sie haben nicht gesagt: ›der Mann, der Jess überfiel‹. Eine merkwürdige Formulierung.«

Sie sah ihn mit leerem Blick an.

»Haben Sie Anlass, Gordon Rooker nicht für den Täter zu halten?«, fragte Thorne.

Ein leises Lächeln entwischte ihr. »Es läuft also was!«

Thorne war sich ziemlich sicher, soeben in eine ausgetüftelte Falle getappt zu sein. Es lief offensichtlich mehr hinter Alison Kellys grünen Augen, als er vermutet hatte.

Nun versuchte sie gar nicht mehr, ihr Lächeln zu verbergen, als sie hinzufügte: »Und ich weiß noch etwas: Sie werden mir nichts davon erzählen.«

Die Zeit für Höflichkeiten war längst abgelaufen. »Was wollen Sie, Miss Kelly?« Und mit einem Mal blickte Thorne hinter die Fassade. Doch nur, weil sie einen kleinen Riss bekam und verrutschte. Die Linie um ihr Kinn und die Schulterhaltung wurden weicher.

»Sie sind nicht der Einzige, der sich nicht vorstellen konnte, dass ich hier einfach so hereinmarschiere«, sagte sie. »Ich musste mir Mut antrinken, um hier vorzufahren.« Plötzlich wirkte ihr Lächeln nervös, jeder Anschein von Selbstvertrauen oder Überlegenheit war aus ihrer Stimme verflogen.

»Ich möchte wissen, was dieses Mädchen gemacht hat«, sagte sie. »Was seine Freundinnen an dieser Bushaltestelle gemacht haben, um es zu retten. Ich möchte wissen, was ihre Aufmerksamkeit geweckt hat. Was wir nicht gesehen, nicht getan haben.«

»Ich glaube, es bringt nicht viel …«

»Gemerkt habe ich es, als Jess auf mich zurannte und ich ihr aus dem Weg sprang. Verstehen Sie? Ich konnte nur zusehen.« Ihre Stimme war ein kaum hörbares Flüstern, aber sie schien von den blanken weißen Wänden widerzuhallen. »Ich hörte das Knistern, als die Flammen ihre Haare erreichten. Und dann roch ich es. Haben Sie das schon einmal gerochen? Ich meine, haben Sie je so was Ähnliches gerochen?

Mir war nicht schlecht. Aber ich hatte das Gefühl, mir wird jeden Augenblick schlecht und ich muss mich übergeben. Musste ich aber nicht. Zumindest nicht damals. Heute reicht allein der Gedanke … der Geruch eines entzündeten Streichholzes …«

Sie wirkte verwirrt. Und sie klang auch so. Sie war eine Erwachsene auf einem Schulhof. Ein Kind auf einer Polizeiwache.

»Das hätten meine Haare sein können. Sein sollen …«

Thorne wollte etwas sagen, doch er war zu langsam.

»Ich möchte wissen, warum Jess nicht davongekommen ist wie dieses Mädchen. Warum nicht sie? Ich möchte, dass Sie mir erklären, was wir hätten tun können, um sie zu retten.«

 

Thorne hörte die Eastenders gerade laut genug, um Hendricks’ Badezimmerarien zu übertönen. Er zog Elvis auf seinen Schoß, blätterte die Sportseiten des Standards durch, der über der Sofalehne lag. Ihm ging nicht aus dem Kopf, was Alison Kelly gesagt hatte. Er war nicht der Einzige, der diese Ungewissheit nicht ertrug.

Alison Kellys Wunsch nach Gewissheit reichte jedoch etwas tiefer als sein eigener. Es gab eine ganze Menge, was er anders machen würde, hätte er auch nur den Hauch einer Chance, aber er fühlte sich nicht verantwortlich – schuldig. Sie hatte sich zwanzig Jahre mit Vorwürfen und Schuldgefühlen herumgeschlagen. Die einen hatten die anderen genährt und waren dabei selbst paradoxerweise immer fetter geworden. Bis sie zu diesem Schmarotzerpaar wurden, das sie im Innersten definierte.

Thorne fragte sich, ob Alison Kelly tatsächlich das bessere Los gezogen hatte als das Mädchen, das mit ihr verwechselt worden war.

Elvis sprang beleidigt weg, als Thorne aufstand und in die Diele ging. Er öffnete seine Tasche und zog das schmale schwarze Buch heraus, das er seit der Begegnung mit Ian Clarke hatte.

Der Schwanengesang aus dem Badezimmer schien dankenswerterweise zu verklingen. Thorne nahm das Tagebuch mit hinüber zur Couch. Er griff nach der Fernbedienung und stellte den Fernseher leiser, als er sich wieder hinsetzte.

 

Als die eingeschlafenen Beine zu kribbeln begannen, wechselte Chamberlain vom Badewannenrand auf den Toilettensitz. Sie wandte den Kopf zur Seite, um sich nicht im Spiegel sehen zu müssen. Eine halbe Stunde war vergangen, seit sie rauf ins Badezimmer gegangen war, und sie fragte sich, wie lange sie noch hier sitzen musste, um sich nicht mehr wie ein alberne alte Frau zu fühlen.

Das ganze Wochenende hatte sie über dem kalten AMRU-Fall gesessen: ein Buchmacher, der 1993 auf dem Parkplatz vor einem Pub erstochen wurde. Ein Toter und eine Familie, die Gerechtigkeit verdienten wie jeder andere, doch Chamberlain sah sich nicht in der Lage, ihnen dazu zu verhelfen.

Es fiel ihr schwer, sich für irgendetwas zu engagieren … für irgendetwas anderes …

Der Jessica-Clarke-Fall war ihr nahe gegangen. Näher als jeder andere Fall.

Und sie hatte ihn vermasselt.

Vor drei Tagen, als sie nach dem Abend bei Tom Thorne im letzten Zug nach Hause gesessen hatte, konnte sie sich beinahe selbst davon überzeugen, dass dieser Gedanke albern war. Was hätte sie schon anders machen können? Rooker hatte doch gestanden. Es gab keinen Grund der Welt, warum sie nach einem anderen Täter hätten suchen sollen.

In dem so gut wie menschenleeren Zug hatte sie sich beinahe selbst davon überzeugt, doch da war dieser Schmerz, beruflich versagt zu haben. Und ein noch schlimmerer Schmerz: jemanden im Stich gelassen zu haben, der einem wichtig ist.

Wieder sauste ein Zug vorbei, und sie wandte sich zur Seite, um ihm nachzusehen. Ihr Spiegelbild tanzte über die Fenster des vorbeirasenden Zugs. Nachdem er verschwunden war, betrachtete sie noch immer ihr Gesicht, das in der Dunkelheit jenseits der Scheibe schwebte, bis sie merkte, dass sie weinte.

Am meisten schmerzte natürlich das Gefühl, nutzlos zu sein. Überflüssig. Zu wissen, dass sie es versiebt hatte und dass sie keine Rolle dabei spielen würde, es wieder gutzumachen.

Sie hörte die Waggontür auf- und zugehen und sah im Fenster gespiegelt einen Mann auf sich zukommen. Beobachtete, wie er sich langsam auf seinen Sitz zubewegte, eine Imbisstüte in der Hand. Sah, wie er an ihrem Platz stehen blieb …

»Alles in Ordnung?«

Im Bad hob Chamberlain den Kopf, als sie Schritte auf der Treppe hörte. Sie verstummten, und Jack rief ihren Namen.

Vor ein paar Wochen hatte es ein paar Tage gegeben, da hatte sie wieder angefangen, sich wie eine Kriminalbeamtin zu fühlen. Als sie mit Thorne zusammen Gordon Rooker besucht und später Billy Ryan vor seinem Spielsalon zur Rede gestellt hatte. Nachdem jedoch die Verhandlungen mit Rooker begannen, hatte man sie sanft zur Seite gedrängt, und sie hatte sich gefühlt wie damals vor sieben Jahren, als sie ihren Polizeiausweis abgab. Natürlich war es nicht anders zu erwarten gewesen. Dass Thorne sie Freitagabend zu sich nach Kentish Town einlud, um ihr die Aufnahmen der Überwachungskameras zu zeigen, war nur ein Gefallen gewesen, nicht mehr. Es würde nicht mehr viele davon geben …

Langsam sank sie auf ihre Knie und langte in das Schränkchen unter dem Waschbecken, um das Putzmittel und den Lumpen herauszuholen.

Wenn schon jemand anders den Jessica-Clarke-Fall klären musste, dann bitte Tom Thorne. Aber niemand sonst …

Wieder waren die Schritte zu hören, sie kamen näher. Sie hielt den trockenen Lumpen kurz unter den Wasserhahn und sagte sich, sie täte besser daran, sich um tote Buchmacher zu kümmern, statt sich länger lächerlich zu machen.

Es klopfte leise.

»Alles in Ordnung?«

 

14. März 1986

Dass mir ein Jahr Schule fehlt, wird langsam zum Problem. Ali und Manda und die anderen sind jetzt eine Klasse weiter, und ich stecke mit Leuten zusammen, die jünger sind als ich und die ich vorher nicht wirklich kannte. Mit den meisten Mädchen aus meinem eigenen Jahrgang kann ich über alles sprechen. Über die OPs und die Transplantationen und den ganzen Kram. Aber wir sehen uns nur in der Pause auf dem Schulhof. Und ein paar sind schon etwas distanzierter, weil sie eine Klasse höher sind, und benehmen sich, als wären sie ein Jahr älter oder so.

Die Mädchen in meiner Klasse strengen sich zu sehr an. Das ist wahrscheinlich das Hauptproblem. Mir ist natürlich klar, dass man mit ihnen gesprochen hat, was sie sagen dürfen und was besser nicht. Ich weiß auch, dass Leute vom Krankenhaus in der Woche, bevor ich an die Schule zurückkam, hier waren und mit den Lehrern redeten. Ein paar haben es besser drauf, normal damit umzugehen, als andere.

Aber mein Klassenlehrer ist ziemlich cool.

Ein paar Mädchen in der neuen Klasse finde ich ganz o.k., aber meistens gehen sie mir total auf die Nerven. Vielleicht bin ich unfair, weil ich weiß, dass alles ein bisschen komisch ist. Ich weiß noch, wie ich mich in der Grundschule einem Mädchen gegenüber immer unwohl gefühlt habe, das eine Hasenscharte hatte. Ich kann mich daran erinnern, dass ich immer versucht habe, sie nicht als Außenseiter zu behandeln, mich dann aber verhaspelte, wenn ich mit ihr redete, und knallrot wurde. Bei manchen Mädchen kann man echt nicht sagen, ob sie Angst haben oder schüchtern sind. Allerdings gibt es ein paar, die sich fast ein Bein ausreißen, um meine beste Freundin zu werden, und ein paar sind einfach blöde Kühe.

Vielleicht beruhigt sich das alles mit der Zeit.

Beschissener Moment des Tages

Wie es in der Umkleidekabine ganz ruhig wurde, als ich mich für den Sportunterricht umzog.

Glücksmoment des Tages

Als Mum sich für feinfühlig hielt, weil sie sich vor den Fernseher stellte, als ein Trailer für Nightmare on Elm Street lief. Damit ich das Gesicht von Freddy Krueger nicht sehe.