Neuntes Kapitel
Leicester Square bei Nacht war für Thorne wie die M25 zur Stoßzeit und das Stadium am Millwall Ground. Die gleiche Liga.
Die Straßenmusikanten und gelegentlichen B-Film-Premieren änderten daran nichts. Für jeden lächelnden Touristen gab es eine Gestalt, die vor einem Kino an der Wand lehnte oder sich in einer Ecke herumdrückte und aus ihren eigenen, weitaus düstereren Gründen hier war. Für jede amerikanische Familie oder jedes skandinavische Rucksacktouristenpärchen gab es einen Taschendieb, einen Kleinkriminellen oder irgendeinen kaputten Typen, der Ärger suchte. Und der lausige Rummel schien die Aasgeier nur noch mehr anzulocken.
»Mir tun die Streifenpolizisten Leid, die hier die ganze Nacht Dienst schieben müssen«, sagte Chamberlain.
Es gab genug Orte in der Stadt, in denen eine Verheißung in der Luft lag. Hier lag nur die Drohung in der Luft. Hätte es nicht so nach Pisse und billigen Hamburgern gestunken, hätte man sie wahrscheinlich riechen können.
»Das Einzige, was für den Leicester Square spricht«, sagte Thorne, »ist die Miete, die man dafür bei Monopoly kassiert …«
Hier war der Teufel los, und das an einem Dienstagabend um Viertel vor sieben. In diesem Gewühl von Schaulustigen, Fotografierwütigen und den Kameradieben gab es auch noch die, die einfach nur den Platz überquerten. Die nach Westen liefen Richtung Piccadilly und Regent Street und noch weiter. Nach Süden zu den Theatern am Strand. Nach Osten Richtung Covent Garden, wo die Straßenkünstler wirkliche Künstler waren und die Hamburger alles andere als billig.
Thorne und Chamberlain waren unterwegs zu einem hell erleuchteten, gut besuchten Spielsalon zwischen Chinatown und Soho. Auf ihrem Weg kamen sie an halb beschlagenen Fenstern vorbei, hinter denen goldbraune Hähnchen und zähe Tintenfische wie Innereien von Haken hingen.
»Bist du dir sicher, dass er da ist?«, fragte Chamberlain.
Thorne lenkte sie nach links, um die Schlange vor dem Capitol Club zu umgehen. »Gegen Billy wurde schon ermittelt, bevor die Kacke am Dampfen war. Wir wissen ziemlich gut über ihn Bescheid. Und über seinen Tagesablauf.«
Chamberlain lief etwas schneller, um mit ihm Schritt zu halten. »Wenn Ryan auch nur annähernd die Kanaille ist, für die ich ihn halte, wäre ich nicht überrascht, wenn er auch über dich gut informiert ist.«
Thorne fröstelte leicht, meinte jedoch mit einem Lächeln: »Ich bin so froh, dass du dabei bist und für gute Laune sorgst …«
Sie verließen den Platz und gingen zu einem Starbucks gegenüber dem Spielsalon. Sie mussten nicht lange warten, bis Ryan auftauchte. Sie hatten ihren Kaffee noch nicht ausgetrunken, als ihm jemand die schwere Glastüre aufhielt und Ryan gemächlich die paar Stufen zur Straße hinunterging. Ein paar Schritte hinter ihm gingen zwei hervorragend besetzte Schlägertypen, die ganz so aussahen, als hätten sie eine Vorliebe für glänzende Metallobjekte und das Geräusch knackender Knöchelchen.
Als Thorne über die Straße auf ihn zukam – bullig und die Hände tief in den Taschen seiner Lederjacke –, trat Ryan einen halben Schritt zurück und griff nach dem Arm eines der Gorillas hinter ihm. Er fing sich wieder, als er Thorne erkannte. »Was wollen Sie?«
Thorne deutete mit dem Kinn auf den Spielsalon hinter Ryan. Er war voll von Teenagern, die anstanden, um ihr Geld in die Maschinen zu stopfen. »Mir war nur etwas langweilig, und ich bin ein Fan von diesen Ballerspielen. Der da gehört doch Ihnen?«
Moloney sah die Straße hinauf und hinunter. »Sind Sie scharf auf einen Preisnachlass, Thorne?«
»Ist das die neueste Methode, Bullen auf eure Gehaltsliste zu setzen? Ein paar Streetfighter-Freispiele?«
Thorne war für Ryan kein Problem, aber die Frau, die ihn begleitete, konnte er nirgends einordnen. »Freier Eintritt für Omis oder was?« Er musterte Chamberlain von oben bis unten. »Erzählen Sie mir bloß nicht, die arbeitet bei Ihnen. Bullen sind heutzutage doch jünger …«
»Sie sind ein solches Arschloch«, sagte Chamberlain.
Nun konnte Ryan sie einordnen. Thorne beobachtete ihn, wie er mit den Zähnen knirschte, als er sich daran erinnerte, wann genau sich ihre Wege das letzte Mal gekreuzt hatten.
»Sie wirkten etwas nervös vorhin«, sagte Thorne. »Und die zwei da kommen mir auch leicht angespannt vor. Befürchten Sie, Sie könnten das nächste Opfer des Typen sein, der Mickey Clayton und die anderen aufgeschlitzt hat, Mr. Ryan?«
Ryan schwieg.
Ein paar junge Burschen platzten durch die Türen des Spielsalons auf die Straße. Mit ihnen kam eine Lärmwelle von Pistolen- und Laserkanonaden, Maschinengewehrgeknatter und hypnotisierendem Techno-Sound …
Moloney beantwortete Thornes Frage: »Sollen sie es doch verdammt noch mal versuchen …«
»Ich frag mich, was zum Vorschein käme, wenn ich Sie jetzt an die Wand stellen und abklopfen würde«, meinte Thorne.
Moloney ließ das kalt. »Nichts, was die Mühe wert wäre.«
»Die Mühe?«
Moloney atmete tief durch und trat an ihm vorbei. Thorne blickte ihm nach, als er ein paar Meter die Straße hinaufging. Er holte ein Handy heraus und hämmerte wütend auf die Tasten ein. Als Thorne sich wieder umwandte, sah er die beiden Schwergewichtler zu ihrem Brötchengeber aufrücken, der in die Ferne blickte. Ryan bemühte sich angestrengt, nicht Carol Chamberlains Blick zu suchen.
»Erinnern Sie sich an Carol?«, fragte Thorne. »Als Sie sie das letzte Mal sahen, hieß sie noch DI Manley.«
»Sie kamen nicht gleich drauf, oder?« Chamberlain trat einen Schritt nach links und sah Ryan direkt an.
»Das müsste der Tessica-Clarke-Fall gewesen sein, nicht wahr, Mr. Ryan?«
»Ich glaube, es ist ihm immer noch nicht eingefallen«, sagte Chamberlain. »Das Mädchen, das angezündet wurde? So was kann einem entfallen, ich versteh das.«
»Gordon Rooker kam dafür hinter Gitter, richtig? Ich glaube, wir haben uns vor ein paar Tagen über ihn unterhalten, oder, Mr. Ryan?«
Der Wind fuhr durch die schmale Straße. Er riss Ryans Haare von seinem Mantelkragen, als er herumwirbelte. »Ich sage genau, was ich auch damals gesagt habe. Nur falls Ihr Gedächtnis Ihnen einen Streich spielt. Rooker ist ein Arschloch, an das ich schon lange keinen Gedanken mehr verschwenden musste.«
»Das ist seltsam«, entgegnete Thorne. »Er denkt sehr wohl an Sie. Er bat mich sogar, Sie zu grüßen …«
Ryans Mund wurde schmal, und seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Vermutlich machte ihm nicht nur der Wind zu schaffen.
»Also … schöne Grüße«, sagte Thorne.
Und dann entspannte sich Ryans Gesicht vor Erleichterung. Ein Motor war zu hören, und er ging an Thorne vorbei. Thorne wandte sich um, ein Van kam abrupt am Randstein zum Stehen. Die Tür wurde aufgerissen, und Stephen Ryan sprang heraus.
Thorne winkte Ryans Sohn zu, der ihn nur abweisend ansah.
Stephen zuckte die Achseln, als sein Vater an ihm vorbeidrängte. »Tut mir Leid …«
»Wo bleibst du so lange?«
Billy Ryan stieg ins Auto, ohne sich umzublicken. Sein Sohn und die zwei Schlägertypen folgten ihm. Auch sie nahmen keine Rücksicht auf Thorne und Chamberlain. Als Moloney an den Wagen trat, wurde das Fenster auf der Fahrerseite heruntergelassen. Thorne erkannte den Mann von der Rezeption in Ryans Büro, er hatte sich mit ihm kurz unterhalten.
»Tut mir Leid, Marcus. Das ganze West End ist ein einziger Stau.«
Moloney ignorierte ihn und öffnete die hintere Tür. Beim Einsteigen wandte er sich noch einmal Thorne zu: »Passen Sie auf, dass Sie keine Kugel abkriegen …«
Thorne öffnete den Mund und machte einen Schritt Richtung Wagen.
Moloney deutete über Thornes Schulter hinweg auf den Spielsalon: »Die Ballerspiele …« Er zog die Wagentür zu, und das Auto fuhr los.
»Was sollte das mit dem Grüßen?«, fragte Chamberlain.
Thorne sah Ryans Auto nach, das um die Ecke bog und verschwand. »Es kostet ja nichts, höflich zu sein. Wann geht dein Zug?«
»Der Letzte kurz vor elf.«
»Gehen wir eine Kleinigkeit essen …«
Marcus Moloney leerte die Hälfte seines Guinness auf einen Schluck. Er stellte das Glas auf den Tresen und lehnte sich zurück.
»Schwerer Tag, Mann?«, sagte der Typ neben ihm.
Moloney brummte zustimmend und griff erneut nach seinem Glas. Der Tag war gar nicht so übel gewesen, nur die letzten Stunden hatten ihm zugesetzt. Zuerst die Sache vor dem Spielsalon und anschließend die dicke Luft auf dem Heimweg. Ryan hatte ihm während der Fahrt zu seinem Haus in Finchley ordentlich den Kopf gewaschen. Was immer Thorne und diese Frau da gequatscht hatten, es war dem Boss ordentlich auf die Nerven gegangen. Dabei war die Kacke ohnehin schon am Dampfen. Zumindest saß Ryan jetzt sicher zu Hause und konnte seine Wut an seiner Frau auslassen. Die würde es schon wieder richten. Sein Ego streicheln und was es sonst noch zu streicheln gab. Und insgeheim würde sie Gott danken, dass er keine Ahnung von dem Landschaftsarchitekten hatte, der es ihr dreimal die Woche besorgte.
Moloney widmete sich wieder seinem Guinness. Sein Pager war wie immer eingeschaltet, aber ein paar wertvolle Stunden lang war er sein eigener Herr, und das war auch bitter nötig, er musste runterkommen.
Er hatte schon viele Bullen wie Thorne kennen gelernt … Mit den korrupten lief es problemlos. Man wusste, worauf sie standen, womit man sie rumbekam. Nicht dass Thorne unbestechlich war. Jeder hatte seinen Preis. Moloney sah jeden Tag, wie Geld angeboten und angenommen wurde. Aber Thorne gehörte zu der Sorte, die das schmutzige Geld einstecken, eine Weile lang das machen, wofür sie bezahlt werden, und dann durchdrehen. Eine Dummheit machen, weil sie sich dafür hassen. Es spielte keine Rolle, ob er korrupt war oder nicht – das ließ sich leicht klären. Sie mussten ein Auge auf Thorne haben, der würde ihnen Ärger machen. Das stand fest.
Moloney leerte sein Glas und hob es hoch, um die Aufmerksamkeit des Kellners auf sich zu lenken. Mit einem kurzen Nicken bestellte er sich das nächste Bier. Der Mann auf dem Stuhl neben ihm stand auf und fragte nach der Toilette. Moloney zeigte ihm den Weg und fragte ihn, ob er ihn auf ein Bier einladen dürfe, was der Mann dankend annahm. Während er auf die zwei Bier wartete, sah Moloney sich in der Kneipe um. Eine Menge Leute waren da. Er kam ziemlich oft hierher, und einer oder zwei von den Stammgästen, die ihn kannten, hatten ihn begrüßt.
Eine Menge Leute hätten ihn gerne gekannt.
Dass niemand ihn kannte, dass so wenige ihn wirklich kannten, bereitete ihm in letzter Zeit zunehmend Probleme. Er trank mehr, drehte bei der geringsten Kleinigkeit durch, im Job wie zu Hause. Das kam nur von diesem Krieg. Seit diesen Morden hatte die Spannung zugenommen. Was die Zarifs machten, was Ryan im Gegenzug vorhatte, war entscheidend …
Der Typ kam zurück aus der Toilette und setzte sich wieder an die Bar. Moloney schob ihm das Glas hin. Als sein Guinness fertig eingeschenkt war, prostete er ihm zu.
»Zum Wohl«, sagte Moloney.
Thorne und Chamberlain hatten sich zum Essen eineinhalb Flaschen Rotwein geteilt. Vielleicht lag es auch an dem Brummschädel danach, dass er derart überreagierte, als er ins Wohnzimmer kam. Der Geruch traf ihn in der Sekunde, als er die Haustür öffnete.
»Scheiße, Phil. Nicht in meiner Wohnung …«
»Ist doch nur ein bisschen Gras. Ich häng doch nicht an der Nadel, Mann …«
»Mach das bei Brendan.«
Hendricks musste sich wirklich zusammenreißen, nicht loszuplatzen. Und das lag nicht nur daran, dass er stoned war. »Nimm dir einen Tag frei, ja?«
Thorne marschierte in die Küche. »Hätte ich nur …«
Während er darauf wartete, dass das Wasser kochte, beruhigte Thorne sich wieder und überlegte, ob er sich entschuldigen oder so tun sollte, als sei kein Wort gefallen. Erst vor kurzem hatte er erfahren, dass in London eine schwangere Frau, die auf die Toilette musste, noch immer ein Anrecht darauf hatte, in den Helm eines Polizisten zu pinkeln. Dass Dope noch immer nicht legal war, war noch alberner.
»Mach uns einen Toast, wenn du schon in der Küche bist«, rief Hendricks.
»Was!?«
»War nur’n Witz.« Nun konnte Hendricks nicht mehr an sich halten und prustete los.
Wenn Thorne ehrlich war, dann lag es an dem ganzen Drumherum, was ihn am Kiffen so nervte. In der Schule hatte er es ein paar Mal versucht, und sogar damals hatte er es irgendwie lächerlich gefunden, wenn sie einen zunehmend voll gesabberten Joint herumreichten und darüber quatschten, was sie für einen Kohldampf hatten. Die Drogen, die heute in den Pausenhöfen reingepfiffen wurden, waren gefährlicher, aber palaverfrei. Die Kids warfen einfach ’ne Tablette ein, und das war’s.
Dazu kam, dass seine Exfrau gelegentlich einen Joint durchgezogen hatte, mit denen sie ihr Lektor für kreatives Schreiben versorgte. Wie sich herausstellte, verließ sie ihn später wegen ihm. Thorne hatte es gerochen, als er seine eigene Treppe hinaufging und den klapperdürren Mistkerl aus seinem eigenen Bett warf. Warum er ihn nicht verprügelte oder beim Rauschgiftdezernat verpfiff, war ihm bis heute nicht klar.
Thorne murmelte etwas wie eine Entschuldigung, als er mit dem Tee ins Wohnzimmer kam. Hendricks schüttelte lächelnd den Kopf.
Sie hörten sich das erste Gram-Parsons-Album an. Thorne war hellwach und sah Hendricks dabei zu, wie er müder und müder wurde, zwischendurch hochfuhr, um den Kopf gleich wieder sinken zu lassen …
»Die Scheiße, mit der wir uns rumschlagen, ist der Preis dafür, Mensch zu sein«, erklärte Hendricks unvermittelt.
Thorne schlürfte seinen Tee. »So isses …«
»Das ist der Unterschied zwischen uns und Hunden oder Delfinen oder weiß der Geier.« Hendricks zog an seinem Joint. Er klang allmählich wie eine Figur aus einem Sketch. »Wir sind das einzige Tier mit so was wie einer Vorstellungskraft …«
»Soweit wir wissen …«, warf Thorne ein.
»Soweit wir wissen, genau. Und die ganze finstere, üble Scheiße, die Menschen angetan wird, das Morden und Foltern, beginnt als Vorstellung im Kopf so eines Irren.«
Thorne dachte darüber nach, was Hendricks sagte. Es ergab einen Sinn, obwohl es seine Vorstellungskraft überstieg, wie Leute sich Monstrositäten ausdenken konnten, wie sie beide sie im Lauf der Jahre zu sehen bekommen hatten. »Das heißt?«
»Das heißt … das ist die Kehrseite von all dem Schönen, Wunderbaren. Es gibt Leute, die stellen sich die größte Kunst, Literatur, Musik und die herrlichsten Gärten vor, aber dieselbe Vorstellungskraft kann auch den Holocaust hervorbringen oder die Idee, Kinder anzuzünden. Oder weiß der Geier.«
»Allerdings, Phil …«
»Wenn du das eine willst, musst du das andere in Kauf nehmen.«
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander.
Schließlich beugte Hendricks sich vor, um die Kippe auszudrücken, die von dem Joint übrig geblieben war. »Das heißt im Grunde genommen … wenn du Shakespeare willst, bekommst du auch Shipman.«
Trotz der düsteren Wendung, die das Gespräch genommen hatte, fand Thorne diese Theorie plötzlich auf seltsame Weise komisch. »Genau.« Er nickte Richtung Stereoanlage. »Serienmörder sind der Preis, den wir für Countrymusic bezahlen.«
Hendricks grinste über das ganze Gesicht. »Das, finde ich, ist … nicht so leicht zu sagen …«
Moloney hatte sich dafür entschieden, einen draufzumachen. Zur Sperrstunde marschierte er hinaus auf den eiskalten Parkplatz, hatte genug von dem Guinness und von sich selbst. »Keine Bange, ich kenn ein paar Kneipen, wo wir noch was zu trinken bekommen.« Lachend legte Moloney seinem neuen Freund den Arm um die Schulter. »Ich kenn sogar eine ganze Menge Kneipen.«
Sein Saufkumpan war überrascht, dass Moloney noch fahren wollte. Er fragte ihn, ob er keine Angst vor einer Kontrolle habe.
Moloney öffnete die Türen des Jaguars. »Ich bin schon ein paar Mal angehalten worden.« Er zwinkerte. »Normalerweise ist das kein Problem …«
»Wenn du getrunken hast?«
»Die übersehen das in der Regel …«
»Sicher angenehm, wenn man etwas Einfluss hat«, meinte sein Freund.
»Mehr als angenehm. Steig ein …«
Sie fuhren nach Süden, Richtung Islington, überquerten die Essex Road und fuhren weiter in die City. Es war nicht viel Verkehr, und Moloney drückte, wann immer es ging, aufs Gas. »Diese Kneipe hinter dem Barbican, wo wir hinfahren, da geht auch bumsmäßig was. Wir legen ein paar Scheine hin, und die Mädels kümmern sich um uns. Wie wär’s?«
Der Jaguar fuhr um einiges zu schnell auf den Kreisverkehr in der Old Street zu, als der Mann auf dem Beifahrersitz Moloney den Lauf der Glock in die Rippen stieß.
»Fahr nach links, Richtung Bethnal Green …«
»Was? Scheiße …«
Er rammte Moloney die Pistole so heftig in die Seite, dass er ihm eine Rippe brach, als er ihn gegen die Fahrertür stieß. Brüllend bemühte Moloney sich, die Füße auf den Pedalen zu behalten.
Verkrampft an sich haltend befolgte Moloney die Anweisungen und fuhr weiter. Seine Gedanken rasten. Ihm war klar, dass er unmöglich an seine eigene Schusswaffe kam. Niemand hatte auch nur einen Schimmer, wo er sich befand. Und inzwischen war ihm auch klar, dass er nicht mehr lange durchhielt. Jeder Atemzug kostete ihn Kraft. Jeder Versuch zu sprechen endete nur wieder in einer Schmerzattacke, wenn ihm die Pistole gegen die gebrochene Rippe gestoßen wurde.
Der Verkehr und die Lichter tauchten hinter ihnen weg, als Moloney den Jaguar von der ruhigen Straße weg in einen schmalen, holprigen Weg lenkte. Langsam überquerten sie einen Streifen schwarzen Wassers, der so ruhig wie eine Pfütze Motoröl links und rechts der Graffiti-beschmierten Brücke lag.
»Fahr da ran.«
Kaum stand der Wagen, hob sein Beifahrer die Pistole und hielt sie ihm ans Ohr. Er beugte sich hinüber zum Armaturenbrett, um die Scheinwerfer auszuschalten.
Moloney schloss die Augen. »Bitte …«
Er spürte, wie der Typ in seine Jacke fasste und darin herumkramte, bis er fand, was er suchte, und es wegwarf: seine Pistole. Er öffnete die Augen und drehte den Kopf nach hinten, um zu sehen, wie der Mann um den Wagen lief.
Er trat an die Fahrertür und klopfte mit seiner Waffe ans Fenster. »Rück rüber auf die andere Seite«, sagte er.
Moloney kam der Aufforderung nach, vor Schmerz stöhnend, als er sich über den Schalthebel hievte. »Warum?«
Der Mann glitt auf den Fahrersitz. Er zog die Tür zu. »Weil ich Rechtshänder bin.«
Jetzt machte er sich in die Hose, und alles ging blitzschnell.
Die Pistole war wieder an seinem Ohr, und eine Hand drehte ihn herum, schob seinen Kopf über die Rückenlehne. Die Hand fasste nach unten und suchte nach etwas. Und dann klappte plötzlich die Rückenlehne nach hinten, bis der Sitz fast waagrecht war. Die Hand griff nach Moloneys Jacke und dem Hemd darunter und schob beides nach oben.
»Das ist ein Riesenfehler …«, sagte Moloney, bevor ihm auf einen Schlag die Luft wegblieb. Der Mann mit der Pistole fing an zu schneiden.
Thorne schreckte aus dem Schlaf hoch und war verwirrt. Musik war zu hören, und Hendricks beugte sich in Boxershorts über das Bett und machte wütende Mundbewegungen.
Bei dem Versuch, sich aufzurichten, merkte Thorne, dass er mit seinen Kopfhörern eingeschlafen war. Er schaltete den Walkman aus, blinzelte müde und stöhnte: »Wie spät ist es?«
»Kurz nach drei. Es ist Holland. Für dich …«
Thorne streckte die Hand nach seinem Handy aus, dessen Klingeln er nicht gehört hatte, das aber offensichtlich Hendricks aus dem Schlaf gerissen hatte.
»Danke«, sagte Thorne zu einem aus dem Schlafzimmer schlurfenden brummenden Hendricks.
»Dave?«
Holland begann zu sprechen, doch Thorne wusste bereits vorher, dass es wieder einen Toten gab. Holland musste ihm nur noch sagen, auf welcher Seite.
Thorne konnte es unmöglich ahnen, aber als er den BMW durch die verlassenen Straßen zum Tatort lenkte, nahm er praktisch dieselbe Route wie ein paar Stunden zuvor der jetzt Tote. Runter nach King’s Cross und dann nach Osten. Die City Road entlang und weiter durch Shoreditch in die Gegend, die vor vierzig Jahren vom Kray-Clan beherrscht worden war. Die Straßen im Londoner Osten waren damals viel sicherer, wenn man der Auskunft einiger Leute Glauben schenken durfte.
Marcus Moloney hätte ihnen wohl Recht gegeben.
Das Auto war auf einem unbebauten Grundstück abgestellt, keine hundert Meter von der Roman Road entfernt. Hier lief der Grand Union Canal entlang eines heruntergekommenen Parks namens Meath Gardens, und die Eisenbahngleise trennten Globe Town von Mile End.
Ein Schiffer, der auf seinem weiter oben im Kanal angelegten Lastkahn schlief, hatte die Schüsse gehört. Er war fünf Minuten später mit seinem Hund hierher gekommen, um nachzusehen.
Thorne parkte den Wagen und sah selbst nach.
Der silberne Jaguar wurde von zwei links und rechts aufgestellten Scheinwerfern hell angestrahlt. Die Türen standen offen. Thorne wusste nicht, ob er so vorgefunden worden war.
»Sir …«
Thorne nickte, als er an einem DC von der SO7 vorbeikam, der in die entgegengesetzte Richtung eilte. Am Auto dann konnte er die auf dem Vordersitz zusammengeklappte Leiche ausmachen. Sah aus wie eine Reisetasche. Ständig tauchte die weiße Kapuze eines Spurensuchers im Rückfenster auf und wieder ab. Als er zur Seite trat, sah Thorne Holland und Stone über den Kotflügel gebeugt stehen. Holland sah auf und warf ihm einen Blick zu, dessen Aussage ihm unklar blieb, der aber ganz sicher nichts Gutes zu bedeuten hatte. Weitere Mitarbeiter der Spurensuche arbeiteten in den Fußräumen und auf den Rücksitzen. Ein Fotograf und ein Videokameramann machten Aufnahmen. Drei oder vier weitere Polizeibeamte standen mit dem Rücken zu ihm am Kanalufer und diskutierten.
Die Scheinwerfer gaben jeden Kratzer, jeden Fleck auf den Autofenstern preis, jedes Fitzelchen Gewebe oder Hirn, das an den Scheiben klebte.
Thorne schnappte sich einen Overall von einem Polizisten, der sie anbot wie Werbegeschenke. »Dave …«
Holland setzte an herüberzukommen, blieb jedoch stehen und deutete mit einem Kopfnicken zu den Polizeibeamten, die sich auf den Weg zum Auto machten. Es waren drei Männer in Anzügen ganz unterschiedlicher Funktion: Brigstocke, Tughan und ein Pressesprecher namens Munteen. Doch am meisten überrascht – und entsetzt – war Thorne, den Mann in Uniform hier zu sehen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er Detective Chief Superintendent Trevor Jesmond zuletzt an einem Tatort begegnet war.
Jesmond raffte seinen blauen Mantel. »Tom.«
»Sir.«
Thorne brach das kurze, aber unangenehme Schweigen, das sich anschloss. Mit einem Blick auf das Auto bemerkte er: »Die Zarifs haben den Einsatz ordentlich erhöht. Marcus Moloney spielt in einer anderen Liga als Mickey Clayton und der Rest. Ab jetzt wird’s ungemütlich …«
Er sah zu Russell Brigstocke, der ihn mit demselben Blick bedachte wie zuvor Holland.
»Der Einsatz ist sicherlich höher«, sagte Jesmond, »aber nicht aus dem Grund, an den Sie denken …«
»Oh?« Thorne sah zu Tughan, der nur Augen für den Kies hatte.
Jesmond wirkte so mitgenommen, so am Boden zerstört, wie Thorne ihn nicht kannte. »Marcus Moloney war ein Undercover-Agent der Polizei«, erklärte er.