Neunundzwanzigstes Kapitel
Thorne riss den Wagen herum und drückte aufs Gas. Binnen einer Minute war er auf der Hauptstraße. Die ganze Zeit über machte er dabei seiner Wut lautstark Luft. Sein Herz führte einen wahren Veitstanz auf, sein Atem ging so schnell wie der des Babys, das er vor einer Stunde gesehen hatte.
Es war wichtig, ruhig zu bleiben, heil in einem Stück dort anzukommen, wo er hinwollte. Er musste seine Wut im Zaum halten, sie sich für Memet Zarif aufsparen, für den Augenblick, wenn er dieses Arschloch vor sich hatte …
Er brüllte seinen Frust hinaus und trat auf die Bremse, sein Schrei übertönte das Quietschen der Reifen, als diese blockierten und der BMW vor der Ampel mit einem Ruck zum Stehen kam. Er sah zu, wie seine Knöchel am Lenkrad langsam weiß wurden, als er darauf wartete, dass die Ampel von Rot auf Grün schaltete.
Zusah, wie ein Taxi vorbeifuhr. Spürte, wie der Sicherheitsgurt über seiner Brust spannte. Hörte, wie das Leder gegen das Nylon rieb, sein Herz wie verrückt schlug …
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Thorne spürte geradezu körperlich, wie sie sich in ihm ausbreitete. Langsam beugte er sich vor und schaltete die Warnblinkanlage ein, ohne den Autos, die sich an ihm und der Ampel vorbeischlängelten, Beachtung zu schenken.
Ein Taxi … ein Minicab …
Er erinnerte sich an das Gesicht hinter dem Lenkrad des schwarzen Omega, das er um ein Haar gar nicht bemerkt hätte – der Fahrer vor Zarifs Haus in Green Lanes, der ihn gefragt hatte, ob er ein Taxi brauche. Ihm fiel ein, wo er das Gesicht schon einmal gesehen hatte.
Thorne wartete, bis die Ampel wieder umschaltete, wendete den Wagen und fuhr langsam zu seiner Wohnung zurück.
Warum fuhr dieser Mann für Memet Zarif Taxi? Ob er wohl um diese Zeit noch arbeitete? Einen Versuch war es wert …
Thornes Gedanken rasten nicht minder als zuvor, das Adrenalin jagte durch seinen Körper, doch zugleich machte sich eine Ruhe breit, floss da hin, wo sie benötigt wurde.
Die Ruhe nach der Entscheidung.
Er wählte die Nummer, bevor der BMW vor der Wohnung zum Stehen kam. Er lauschte auf das Freizeichen, während er auf den Bürgersteig trat.
Der Schleimhochzieher, der den Hörer abhob, war am Telefon nicht höflicher als in Person.
»Taxiservice …«
»Ich brauche so schnell wie möglich ein Taxi in Kentish Town«, sagte Thorne.
»Die Adresse?«
»Hören Sie, ich brauche einen ordentlichen Wagen. Einen ordentlichen Motor, verstehen Sie? Ich muss Eindruck schinden. Haben Sie einen Mercedes, was in der Richtung?«
»Nein, haben wir nicht.«
Thorne lehnte sich gegen seinen Wagen. »Irgendwas Nettes müssen Sie doch haben. Einen Scorpio, einen Omega, was in der Art. Ich leg auch gern etwas mehr dafür hin …«
»Wir haben ein paar Omegas.« Der Typ hörte sich an, als sei ihm jede Silbe zuwider.
»Ja, gut. Einen von denen. Wer ist der Fahrer?«
»Was geht Sie das an?«
War da ein misstrauischer Unterton herauszuhören? Thorne beschloss, dass es sich dabei wahrscheinlich nur um natürlichen Missmut handelte. »Ich hatte letzte Woche einen Fahrer von euch, der hielt einfach nicht die Klappe …«
Thorne hörte den Namen des Fahrers, und da war es, dieses Kribbeln. »Passt wunderbar«, sagte er.
»Und die Adresse?«
Thorne starrte auf das »X« an seiner Tür. Er konnte ihnen unmöglich eine Adresse nennen, die ihnen nur allzu vertraut war. Schließlich wollte er nicht, dass der Fahrer wusste, wen er da abholte. Er nannte einen Laden in der Kentish Town Road, sagte dem Mann in der Zentrale, er warte draußen.
»Fünfzehn Minuten …«
Thorne war bereits unterwegs.
Aus den fünfzehn Minuten wurden eher fünfundzwanzig, aber die Zeit verging schnell. Thorne musste nachdenken. Er konnte unmöglich sagen, ob der Fahrer, als er ihn vor dem Minicab-Büro angesprochen hatte, genau wusste, mit wem er es zu tun hatte. Thorne konnte nur hoffen, dass der Mann, auf den er nun wartete, einfach auf Kundenfang aus gewesen war.
Als der Omega vorfuhr, suchte Thorne nach Anzeichen, ob der Fahrer ihm etwas vorspielte. Er konnte keine entdecken.
Thorne stieg hinten ein. Er war sich vollkommen darüber im Klaren, dass er sich auf diesem Gebiet schon öfters geirrt hatte.
»Wohin soll’s gehen?«, fragte der Fahrer.
Darüber hatte Thorne nicht nachgedacht. »Hampstead Green«, sagte er. Das war ein paar Kilometer weit entfernt, hinter Highgate. Thorne hoffte, es war weit genug, um das zu bekommen, was er wollte.
Der Fahrer brummte und ordnete sich mit dem Omega Richtung Norden in den Verkehr auf der Kentish Town ein.
Sie fuhren etwa fünf Minuten, ohne dass auch nur ein Wort fiel. Vielleicht hatte der Alte erwähnt, dass dieser Kunde nicht auf Small Talk stand. Vielleicht hatte der Fahrer nichts zu sagen. Wie auch immer, es passte Thorne wunderbar ins Konzept. Es gab ihm etwas Zeit, seine Gedanken zu sammeln.
Er hatte Wayne Brookhouse erkannt, hatte sich endlich an das Gesicht erinnert, das auf dem Videoband mit Gordon Rookers Besuchern zu sehen war. Er erinnerte sich an die schwarzweißen Standfotos, die Stone und Holland auf seinem Schreibtisch ausgebreitet hatten. Brookhouse, falls das sein richtiger Name war, trug keine Brille mehr, und seine Haare waren länger als bei seinem letzten Besuch bei Rooker. Er war angeblich der Freund der Tochter. Oder auch der Exfreund …
Was hatte Stone nach seinem Gespräch mit Brookhouse über ihn gesagt? »Hat was Verschlagenes?« Thorne hatte Anlass genug zu glauben, dass der junge Mann, der ihn fuhr, weitaus verschlagener war, als er wirkte.
Der weiche Ledersitz ächzte, als Thorne sich darin zurücklehnte. »Viel los gewesen heute, Wayne?«
Brookhouse sah nach hinten, so lange es möglich war, ohne einen Unfall zu bauen. »Entschuldigung, aber kennen wir uns?«
»Wir haben einen gemeinsamen Freund«, sagte Thorne.
»Oh …«
Thorne sah, wie seine Augen zwischen Rückspiegel und Straße hin- und herflogen. Er hörte beinahe die Rädchen rattern, als Brookhouse sich den Kopf darüber zerbrach, wen zum Teufel er da aufgegabelt hatte. Thorne beschloss, ihm etwas auf die Sprünge zu helfen.
»Wie läuft’s mit der Liebe, Wayne? Noch immer mit Gordon Rookers Tochter zusammen? Wie heißt sie gleich wieder?«
Brookhouse’ Rücken wurde steif, er überlegte krampfhaft, was in Anbetracht der Umstände wohl die richtige Antwort war. Thorne bezweifelte bereits, dass Brookhouse Gordon Rookers Tochter überhaupt kannte.
»Scheiße, wer sind Sie?«, sagte Brookhouse. Offensichtlich war er zu dem Schluss gekommen, Angriff sei die beste Verteidigung.
»So bekommen Sie aber kein Trinkgeld …«
»Gut, das war’s.« Brookhouse setzte den Blinker und fuhr an den Randstein.
»Fahren Sie weiter«, sagte Thorne. Der Ton in seiner Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass Aggression bei ihm nicht gut ankam.
Brookhouse lenkte den Wagen wieder auf die Fahrbahn, und sie fuhren weiter, vorbei an den Tennisplätzen vor Parliament Hill.
»Wer schanzte Ihnen die Rolle zu?«, fragte Thorne. »Mir ist nicht klar, ob Sie bereits einer von Memets Jungs waren und Sie Rooker vorgeschlagen wurden, oder ob Sie irgendwie von Rookers Seite kamen und er Ihnen den Taxifahrerjob besorgte.« Er wartete auf eine Antwort, bekam aber keine.
»Ist nicht wirklich wichtig«, sagte Thorne. »Ich bin nur neugierig. So oder so, Sie waren nur der Bote, das steht fest. Schauten bei Rooker vorbei, spielten den harmlosen Rabauken, der mal seine Tochter vögelte, und brachten ihm Memets Nachrichten.«
Es gab noch eine Menge offener Fragen, aber eines war Thorne klar geworden: Welchen Deal auch immer Rooker mit ihm auszuhandeln versuchte, er war gleichzeitig dick im Geschäft mit Memet Zarif. Wenn er Billy Ryan wirklich ans Messer liefern wollte, so wollte er dabei offensichtlich auf Nummer sicher gehen.
»Rooker hat uns erzählt, Sie sind Automechaniker. War das Quatsch, Wayne? Oder können Sie tatsächlich einen 14er von einem 69er unterscheiden? Meinen Detective Constable haben Sie jedenfalls überzeugt, als er Sie befragt hat …«
»Sie sind Thorne.«
»Spot an. Und Sie sind im Arsch …«
Durch die Lücke zwischen den Vordersitzen sah Thorne, wie Brookhouse nach etwas auf dem Beifahrersitz griff. Thorne beugte sich vor und packte Brookhouse beim Schopf, riss seinen Kopf nach hinten.
»Au, verdammt!«
Thorne warf einen Blick auf den Beifahrersitz. Brookhouse hatte nach dem Handy gegriffen.
»Mensch, ich hab doch nur vorgetäuscht, ein Besucher zu sein«, sagte er. Seine Stimme klang ein oder zwei Oktaven höher. »Wie Sie sagten, ich hab nur ein paar Infos überbracht, nichts Wichtiges. Ich schwör’s. Ich hab von der ganzen Scheiße keine Ahnung, das ist die Wahrheit.«
Thorne starrte auf das kleine, glänzende Handy, das in einer schmalen Tasche des dunkelblauen Anoraks steckte, der ordentlich auf dem Sitz lag. Wayne Brookhouse hatte sich als Automechaniker ausgegeben und als Exfreund von Gordon Rookers Tochter. Vielleicht, schoss es Thorne plötzlich durch den Kopf, hatte er noch eine weitere Rolle übernommen.
»Jetzt können Sie rechts ranfahren«, sagte Thorne. »Egal wo …«
»Wieso?«
Thorne nahm kaum Notiz von Wayne Brookhouse’ Aufschrei, als er ihm den Kopf noch ein Stück weiter nach hinten riss. »Ich muss telefonieren.«
Chamberlain langte nach dem Telefon, ohne den Blick von der Fernsehsendung zu nehmen, mit der sie sich abzulenken versuchte.
Als sie Thornes Stimme hörte, war sie sofort voll konzentriert.
»Hallo, Tom.«
Thorne sprach schnell und ruhig. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich, als sie die Dringlichkeit in Thornes Stimme wahrnahm. Jack sah von seinem Sessel zu ihr herüber. Die Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er drückte auf die Fernbedienung und stellte den Ton leiser.
Thorne bat sie zuzuhören.
Chamberlain lächelte ihrem Mann zu und schüttelte den Kopf. Es war nichts …
Thorne drückte Brookhouse das Handy gegen das Ohr, bis dieser vor Schmerz aufstöhnte.
»Sagen Sie es noch einmal«, sagte Thorne. »Als meinten Sie es ernst.«
Brookhouse wand sich und holte tief Luft. »Ich hab sie verbrannt …«
Thorne riss das Telefon weg, noch immer hatte er die Hand in Brookhouse’ Haarschopf. Etwas in dem Schweigen am anderen Ende der Leitung, ein Entsetzen in dem leisen Ausatmen verriet ihm, dass Carol Chamberlain die Stimme erkannte.
»Carol …?«
»In knapp fünfzehn Minuten geht ein Zug«, sagte sie. »Ich kann in eineinhalb Stunden da sein …«
Ein, zwei Sekunden zweifelte Thorne, doch nicht länger. In dem Augenblick, als sein Entschluss feststand, Chamberlain anzurufen, war er sich über ihre Reaktion ziemlich sicher gewesen. »Ruf mich an, wenn du ankommst«, sagte er. Dann schlug er mit dem Handgelenk kräftig zur Seite und ließ Brookhouse’ Kopf gegen das Fenster donnern. »Ein Taxi wartet auf dich.«