Achtzehntes Kapitel

Hätte Thorne eine Liste der Orte erstellen müssen, an denen er sich ungern aufhielt, hätte das Meer ziemlich weit oben rangiert. Zugegeben, britische Urlaubsdomizile am Meer waren auch nicht so attraktiv wie die schillernden Ziele in Australien oder Florida, aber selbst darauf war Thorne keineswegs versessen. Dort war das Meer zwar wärmer, blauer und sauberer, aber dafür gab es andere Nachteile.

Margate oder Miami? Rhyl oder Rio? Für Thorne bedeutete dies nur die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen.

Aber er musste zugeben, dass das, was er heute Morgen von Brighton gesehen hatte, so übel nicht war. Eine zehnminütige Taxifahrt vom Bahnhof zu Eileens Haus. Ein fünfminütiger Spaziergang von dort zum Pub.

Thornes Vater und dessen bester Freund Victor waren am Tag zuvor von St. Albans hinuntergefahren. Victor hatte angerufen, als Thorne gerade im Begriff war, sich mit Alison Kelly zu treffen. Die Fahrt sei klargegangen, ließ Victor ihn wissen. Sein Vater sei aufgeregt, benehme sich aber ordentlich. Er freue sich auf den Wochenendausflug.

Thorne hätte lieber einen früheren Zug genommen, aber an diesem Vormittag war es nicht so einfach gewesen, sich fertig zu machen und aus der Wohnung zu kommen. Alison Kelly hatte ihn dabei ertappt, wie er auf die Uhr sah, als sie zusammen in der Küche frühstückten. Was nicht gerade zur Entspannung der Atmosphäre beitrug. Dabei war die Luft ohnehin schon zum Schneiden.

Was in den frühen Morgenstunden gesagt worden war …

Damit konnten sie schwerer umgehen als mit dem, was sie ein paar Stunden zuvor miteinander getan hatten. Der Sex war gierig und verschwitzt gewesen. Sie hatten es offensichtlich beide gebraucht, zumindest körperlich.

Der Morgen machte ihnen nun zu schaffen, seine Last schien sie zu erdrücken. Warf ein neues, härteres Licht auf das nun Unaussprechbare.

Thorne musste aufstoßen, schmeckte noch einmal das Guinness von gestern Abend. Victor lachte. Eileen versuchte sich an einem missbilligenden Blick. Sein Dad schien es nicht bemerkt zu haben.

»Tschuldigung«, sagte Thorne. Ihm war klar, dass er etwas mitgenommen aussah und Eileen dies nicht entging. »Ich hab eine anstrengende Nacht hinter mir …«

Sie nippte an ihrem Tomatensaft. »Deshalb bist du so spät gekommen.«

Als Thorne bei seiner Tante ankam und eine Tasse Tee hinuntergebracht hatte, reichte die Zeit nicht mehr, um vor dem Mittagessen noch etwas zu unternehmen. Also beschränkte man sich darauf, noch schnell auf ein Glas in einem Pub vorbeizuschauen.

»Es wird nicht leicht sein, noch einen Platz in einem ordentlichen Restaurant zu bekommen«, sagte Eileen. »Die sind bestimmt alle voll, wenn wir nicht bald aufbrechen.«

Thorne sagte nichts darauf. Eileen hatte ihnen das Leben gerettet, seit die Krankheit seines Vaters so schlimm geworden war. Aber sie konnte einen mit ihrer Pingeligkeit nerven, wenn sie es darauf anlegte.

»Bier oder Weiber?«, sagte Jim Thorne plötzlich.

Thorne sah seinen Vater entgeistert an. »Was?«

»Gestern. War’s das Bier, oder waren’s die Weiber?«

Thorne hätte nicht sagen können, was ihn am meisten aus dem Konzept brachte, die Frage selbst oder die Art und Weise, wie sie serviert wurde.

»Vielleicht beides«, sagte Victor. Er lächelte Thornes Vater zu, und die beiden platzten los.

Victor war wahrscheinlich der einzige Freund, den Thornes Vater noch hatte. Auf alle Fälle war er der einzige, den Thorne je zu Gesicht bekam. Er war größer und kräftiger als sein Vater, vor allem jetzt, da Jim Thorne an Gewicht verlor. Er hatte viel weniger Haare und sehr schlecht sitzende Zähne, und die zwei alten Männer erinnerten Thorne an ein bizarres, völlig überdrehtes Komikerpaar.

»Vielleicht«, sagte Thorne.

Sein Vater beugte sich zu ihm herüber. »Immer eine gute Idee, denk ich. Trink ein paar Bier, und dann sind sogar die Hässlichen … Wie heißt es gleich wieder? Das Gegenteil von hässlich?«

Victor half seinem Freund mit dem Wort aus. »Hübsch? Attraktiv?«

Jim Thorne nickte. »Dann sind sogar die Hässlichen attraktiv.«

Thorne lächelte. Ein bizarres Komikerpaar: Der im Kopf Klare musste gelegentlich bei den Pointen aushelfen. Er sah hinüber zu Eileen, die den Kopf schüttelte und die Augen verdrehte. Anscheinend war stimmungsmäßig alles in Ordnung.

Victor hob das Glas, als wolle er einen Trinkspruch ausbringen. »Bierbrille«, sagte er.

»Dasselbe gilt auch für Frauen«, warf Eileen ein. »Wir haben manchmal eine Weinbrille auf.« Sie deutete auf Thornes Vater. »Ich vermute, Maureen hatte an dem Abend eine auf, als ihr beiden euch kennen gelernt habt.«

Thorne sah zu seinem Vater. Sie hatten nicht viel über seine Mutter gesprochen, seit sie gestorben war. Seit der Alzheimerdiagnose so gut wie gar nicht mehr. Er fragte sich, wie der Alte darauf wohl reagierte.

Jim Thorne nickte. Er hatte seinen Spaß dran. »Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte er. »Muss ziemlich dick gewesen sein, die Brille.« Er hob sein Glas, bis es sein Gesicht halb verdeckte. »Ich war stocknüchtern …«

Als sie getrunken und die Gläser wieder abgestellt hatten, versuchte Thorne vergeblich, den Blick seines Vaters aufzufangen. Die Augen des Alten schossen mal hierhin, mal dorthin.

Das Pub war im negativen Sinn altmodisch und halb leer, was wahrscheinlich damit zusammenhing. Sie saßen an einer winzigen Bar – die vor langer Zeit mal als schmuck gegolten haben mochte. Das völlige Fehlen von Atmosphäre hing wohl mit der Neonlampe zusammen, die über ihren Köpfen brummte und alles in Licht ertränkte. Man hatte das Gefühl, in einem Wartesaal zu sitzen, der nach Bier stank.

Die Wahl war auf dieses Pub gefallen, weil sein Vater hell erleuchtete Räume mochte. Zu Hause lief er ständig durch alle Zimmer und schaltete das Licht ein, selbst mitten am Tag. Das mochte mit seiner Vergesslichkeit zu tun haben, aber Thorne glaubte eher, dass der Alte versuchte, die Dunkelheit auszusperren, von der er sich bedroht fühlte. Er wollte im Licht bleiben, wo er sehen konnte. Wo er noch gesehen werden konnte …

»Wer möchte noch etwas?«

Eileen schüttelte den Kopf und schob ihr leeres Glas weg. »Es ist Sonntag, und wenn wir was Ordentliches essen wollen …«

Sie suchten ihre Siebensachen zusammen – Taschen, Jacken, Hüte. Als Eileen, Victor und sein Vater sich nacheinander langsam zur Tür aufmachten, sah Thorne noch einmal unter dem Tisch nach, um sicherzugehen, dass sie nichts vergessen hatten.

Er wünschte sich, er wäre woanders. Er dachte über den Fall nach; über Rooker und Ryan und zwei Männer, die durch einen dunklen Wald um ihr Leben liefen. Er stellte sich Alison Kelly und Jessica Clarke vor, Gesichter auf seinem Kissen und in einer Schublade neben seinem Bett.

Thorne fand Eileens Schirm unter ihrem Stuhl. Er nahm ihn und folgte ihr zur Tür. Wenn er es sich genau überlegte, war es vielleicht ganz gut, einen Tag abzuschalten. Vielleicht war es genau das, was er brauchte: sich wieder wie ein junger Spund zu fühlen, der von drei etwas merkwürdigen Erwachsenen durch die Gegend gezerrt wurde.

Sie liefen zur Uferpromenade. Thorne schlenderte gemächlich voraus und schaute sich Dinge an, die ihn nicht wirklich interessierten, um keinen zu großen Vorsprung vor den anderen zu bekommen.

Der Frühling hatte zwar schon seit ein paar Tagen Einzug gehalten, aber er war noch immer nicht richtig auf die Beine gekommen. Es war grau – genau so ein Tag, wie ihn Thorne mit dem Meer verband. Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, dass das Bild vollkommen wäre, wenn Eileen einen Grund bekäme, ihren Regenschirm aufzuspannen. Natürlich wurde er Brighton nicht gerecht, das teuer und sehr beliebt war und mit seiner lebendigen Musikszene und seinem Ruf als Schwulenmetropole Großbritanniens wohl nicht viel gemein hatte mit den üblichen Urlaubsdomizilen am Meer. Aber Vorurteil blieb Vorurteil, und was Thorne betraf, hielt er sich lieber fern von Städten, in denen es Steine mit dem aufgemalten Ortsnamen zu kaufen gab.

Tatsächlich waren Leute am Strand, um sich zu »sonnen«, als wollten sie seine vorgefasste Meinung bestätigen. Mehrere Familien kampierten auf dem Kies, fröstelnd zwischen flatternden Windbrechern. Aus dreißig Metern Entfernung noch war ihre Gänsehaut deutlich zu erkennen. Sturheit, Optimismus, Dummheit – man konnte es nennen, wie man wollte. Thorne schien es so typisch englisch, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte.

»Schau dir nur diese Dösköpfe an«, sagte Eileen.

Thorne grinste. Natürlich gab es noch das eine oder andere, das noch englischer war …

»Wird saukalt, wenn ihr mich fragt.« Eileen raffte ihre Jacke vor dem Hals. »Höchstens zehn Grad, glaub ich. Und die gefühlte Kälte wird noch ein paar Grad tiefer sein.«

Gefühlte Kälte. Wetterberichtsmoderatoren schienen in den letzten Jahren einen Narren an dieser Bezeichnung gefressen zu haben. Thorne fragte sich, wo sie wohl ihren Ursprung hatte …

»Nun, hier in Spitzbergen liegt die Temperatur bei minus vierzig Grad, aber die gefühlte Kälte ist offiziell so kalt, dass man sich den Arsch abfriert …«

Sie liefen weiter, und Thorne hörte seinen Vater vor sich hin brabbeln, in wie vielen Jahren wie viele Arbeiter wie viele Kilo Goldfarbe verarbeitet hatten, um den Royal Pavillon fertig zu stellen. Schließlich erreichten sie das Restaurant. Eileen bemühte ihren besten Akzent, um den Kellner nach einem Tisch zu fragen. Als sie sich setzten, warf Thorne, der bereits beschlossen hatte, die Runde zum Mittagessen einzuladen, einen Blick auf die Preise. Sie entschieden sich alle für das dreigängige Sonntagsmenü. Dafür reichte es noch.

»Nett hier«, sagte Victor.

Eileen nickte. »Normalerweise koche ich sonntags immer für alle, aber Trevor und seine Frau sind weggefahren, und Bob spielt Golf, also dachte ich mir, ich lass es. Außerdem ist es ja schön, sich mal was zu gönnen, nicht wahr?«

Thorne brummte. Sich etwas zu gönnen? Für weniger als zehn Pfund pro Kopf? Das war schon etwas dick aufgetragen. »Schade, dass wir Trevor und Bob nicht treffen«, sagte er. Trevor war Eileens Sohn, und Thorne vermutete, dass er keineswegs weggefahren war. Ein Mittagessen mit dem durchgeknallten Onkel Jim war nicht gerade eine verlockende Vorstellung. Und auch Bobs Golfspiel ließ sich ziemlich sicher damit erklären. Er hatte es wohl in Windeseile arrangiert, als er erfuhr, dass der bekloppte Schwager und der bekloppte Freund des Schwagers ein Wochenende hier verbringen wollten.

»Ich weiß«, sagte Eileen. »Sie haben beide gesagt, sie würden euch gerne mal wieder sehen.«

Plötzlich tat Eileen ihm ungemein Leid, weil sie gezwungen war zu lügen. Weil sie das ganze Elend mit seinem Vater ertrug. Weil sie so viel tat und nichts dafür zurückbekam. Thorne konnte sich nicht erinnern, ob er ihr jemals dafür gedankt hatte. »Vielleicht das nächste Mal«, sagte er.

Eileen nickte Thornes Vater zu. Er starrte auf den Tisch und klopfte sich mit dem Griffende des Messers gegen die Zähne. »Dein Dad scheint sich zu amüsieren«, sagte sie.

Victor griff nach dem Wasserkrug. »Er amüsiert sich prächtig, so viel steht fest.«

»Haben wir uns eigentlich schon bedankt, dass du ihn hergebracht hast?«, fragte sie ihn.

Victor strahlte. »Keine Ursache, wirklich nicht. Macht uns beiden Spaß, wenn wir mal ein bisschen rauskommen.«

»Trotzdem, vielen Dank. Ich konnte ihn nicht holen, und ohne dich hätte er es nicht geschafft … ohne deine Gesellschaft.«

»Er macht keine Probleme, ehrlich.«

Thorne war sich bewusst, dass beide seinen Vater liebten, dass sie für ihn sehr viel opferten, und dennoch trieb es ihn zur Weißglut, wenn sie über ihn sprachen, als wäre er nicht anwesend.

»Er macht absolut keine Probleme, wenn er will«, sagte Eileen.

Victor lachte und schenkte Jim Thorne ein Glas Wasser ein.

Thorne blendete sich aus dem Gespräch aus und sah sich um. Suchte nach einem Anzeichen, ob die Vorspeise bald käme. Er spürte eine Hand auf seinem Arm, sie gehörte seinem Vater.

»Du siehst aus, als ob dir eine Menge durch den Kopf geht, mein Sohn«, sagte der Alte.

Thorne nickte. In seinem Kopf sah er ein Mädchen, das wild mit den Armen fuchtelte, während sie über den Schulhof rannte … während sie in der Küche tanzte … während sie vom Dach eines Parkhauses in die Tiefe stürzte …

Jim Thorne beugte sich zu ihm und flüsterte: »Manchmal kommt es mir vor, als ob du schlimmer dran bist als ich.« Er klopfte mit dem Finger an seine Schläfe. Seine Schläfenhaare waren weiß, während die seines Sohnes grau waren. »Vielleicht solltest du es probieren, Tom. Ich kann es nicht genug empfehlen. So schlecht es dir geht, sosehr es dir wehtut, wenn du an etwas denkst, eine halbe Stunde später kannst du dich kein bisschen mehr daran erinnern. Einfach so, wusch, ist es weg. Wunderbar. Ein Goldfischhirn …«

Thorne starrte seinen Vater ein paar Sekunden an. Ihm fiel nichts dazu ein. Eine Kellnerin rettete ihn, als sie mit vier Tellern wässrig aussehender Suppe neben ihm auftauchte.

 

»Vier und drei, dreiundvierzig …«

Als Eileen Bingo vorschlug, spielte Thorne kurz mit dem Gedanken an Selbstmord. Und der Enthusiasmus, mit dem Victor und sein Vater den Vorschlag aufnahmen, tat seiner Stimmung keinen Abbruch. Sie liefen an den letzten Überresten des West Pier vorbei, der nun so gut wie hinüber war, nachdem er mit verdächtiger Regelmäßigkeit gebrannt hatte, und weiter zum Brighton Pier. Der hatte früher Palace geheißen, war aber umbenannt worden, da er nun der einzige nutzbare Pier in der Stadt war. Thorne grummelte den ganzen Weg vor sich hin.

Bingo. Das lag gleichauf mit Karaoke und glühend heißen Nadeln, die man sich in die Augen sticht …

»Zwei kleine Entlein, zweiundzwanzig.«

Doch jetzt, da er es spielte, packte ihn die Spielleidenschaft, trotz der Bingo-typischen albernen Zahlenreimereien bei der Ansage. Auch wenn die ausgesetzten Preise – ein überdimensionierter Teddybär und ein riesiger, aufblasbarer Hammer – seinen erhöhten Puls kaum rechtfertigten.

»Ganz allein, die Nummer sieben …«

»Bingo!«

Der Aufschrei kam von einer alten Frau, die ein paar Meter von ihnen entfernt saß. Leise fluchend lehnte Thorne sich zurück. Und alle anderen mit ihm. Er schob die blauen Plastikquadrate zurück, die bis auf zwei alle Zahlen auf seinem Brett belegt hatten.

Zwischen ihm und seinem Vater saß Eileen.

Der Alte lehnte sich schmunzelnd über Eileen. »Wie bringst du neunundneunzig von hundert alten Frauen dazu, ›Scheiße‹ zu schreien?«

Thorne schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

»Du musst nur die hundertste dazu bringen, ›Bingo‹ zu schreien.«

Thorne kannte den Witz bereits, lachte aber trotzdem darüber, wie immer.

»Wie viele Zahlen haben dir gefehlt?«, fragte Eileen.

»Nur zwei«, antwortete Thorne.

»Wie das erst in einem großen Saal ist. Die spielen manchmal um einige zehntausend Pfund. Noch mehr bei einem landesweiten Spiel …«

Thorne beschloss umgehend, niemals bei einem solchen Spiel mitzumachen. Wenn die Aufregung in irgendeinem Verhältnis stand zu dem Geld, das man einsammeln konnte, fiele er wahrscheinlich auf der Stelle tot um.

Die Spielhalle am Ende des Piers, in der sie sich befanden, dürfte wohl den großen Bingosälen ähneln, die noch über ganz London verstreut existierten. Die meisten waren umfunktionierte Kinos, aber einige hatten noch den Pomp der viktorianischen Theater, die sie früher mal gewesen waren. Thorne saß wie die anderen Spieler auf einem unbequemen Stuhl um ein kleines Podium, ein Plastikspielbrett vor sich und Schlitze für die Pfundmünzen. Es ging alles schnell und einfach. Man konnte kein Geld gewinnen. Es war Bingo light.

»Das nächste Full House in einer Minute …« Die Stimme des Moderators hallte durch das billige Soundsystem.

Thorne sah zu ihm hinauf. Er war klapperdürr und so gut wie kahl. Das riesige Mikrofon, das er sich vor den Mund hielt, verdeckte die untere Hälfte seines Gesichts. Die überdimensionierte Sonnenbrille verbarg den Rest. So schundig das ganze Szenario war, diese Gestalt im Rüschenhemd hatte etwas Bewundernswertes.

Thorne steckte seine Münze für die nächste Spielrunde in den Schlitz.

»Kommen Sie, meine Damen und Herren, es sind nur noch ein paar Plätze frei …«

Thorne blickte sich um. Im ganzen Saal befanden sich nicht mehr als eine Hand voll Leute. Der Typ warf sich mehr in Pose als ganz Brighton.

»Augen auf, die erste Zahl …«

Thorne beugte sich vor, die Finger angespannt über dem Brett, bereit, die Plastikquadrate zu legen. Weiter rechts lachte sein Vater noch immer über seinen Bingo-Witz. Er sah, wie Eileen ihm etwas zuflüsterte und für ihn die Münze in den Schlitz steckte.

»Fünf und sechs, sechsundfünfzig …«

Thornes Vater lachte immer lauter. Die Alte, die das vorherige Spiel gewonnen hatte, warf ihnen einen finsteren Blick zu. Rechts von Thorne wurde es zunehmend laut. Er wandte sich im selben Moment um, als Eileen nach seiner Hand griff, um ihn um seine Hilfe zu bitten.

»Zwei und vier«, rief sein Vater plötzlich, »deine Mutter pisst ins Bier!«

Victor kicherte, und Thorne sah, wie Eileen das Blut aus den Wangen wich. Er packte seinen Vater am Arm. »Dad …«

»Die Sieben und die Acht, fick sie, dass es kracht!«

Thorne stand auf und ging um Eileen herum zu seinem Vater. Hinter ihm wurde Murren laut, und dann rief jemand: »Komm schon, Freund, warum gehst du nicht rauf und probierst es?«

Thorne senkte den Kopf zu seinem Vater. Als er die Aufregung, die Ausgelassenheit auf dem Gesicht seines Vaters sah, hielt er den Atem an.

»Von den zwei fetten Weibern«, dröhnte sein Vater, »möcht ich keine ficken!«

Ein Pfeifen war zu hören, als der Moderator sein Mikrofon weglegte. Entsetzt sah Thorne, dass er keine Zähne hatte und mindestens zwanzig Jahre älter war, als er ihn eingeschätzt hatte. Aus den Augenwinkeln sah Thorne einen Mann in einem schwarzen Anzug und mit einem Walkie-Talkie in der Hand herbeieilen – offenbar der Geschäftsführer. Thorne war klar, dass er an sich halten und mit den üblichen Entschuldigungen und Erklärungen auf das Gespräch vorbereiten sollte, aber er musste einfach zu sehr lachen.

 

Der Kaffee, den er sich am Bahnhof in Brighton geholt hatte, war kalt geworden. Thorne starrte aus dem Waggonfenster hinaus in die schwarze Nacht, als der Zug viel zu langsam zurück nach London fuhr. Er ließ den Kopf zurücksinken und schloss die Augen. Fragte sich, warum er nicht im Bett, wenn er schlafen wollte, so müde war.

Er stellte sich seinen Vater und Victor in ihren jeweiligen Betten in Eileens Gästezimmer vor, wie sie über den gemeinsam verbrachten Tag redeten. Darüber lachten, was auf dem Pier passiert war. In Wahrheit hatte er keine Ahnung, ob sein Vater sich in solchen Momenten dessen bewusst war, was er gerade machte. Konnte er sich an diese Momente zurückerinnern und sich darüber freuen? Thorne hoffte es und stellte sich vor, wie sein Vater sich abmühte, die Erinnerung an seine Bingo-Eskapaden festzuhalten, bevor sie ihm entglitten.

Wusch, ist es weg. Wunderbar. Ein Goldfischhirn …

Im Verlauf des Tages hatte Thorne sich als Kind in einer schnatternden Herde exzentrischer Erwachsener gesehen. Natürlich war ihm klar, dass dies eine momentane Illusion war, dass in Wirklichkeit das genaue Gegenteil zutraf – dass er mit seinem Versuch, sich um seinen Vater zu kümmern, dem Vatersein so nahe kam, wie er es vielleicht nie mehr in seinem Leben käme.

Er machte sich gar nicht erst die Mühe, ein gigantisches Gähnen zu unterdrücken. Als er seinen Mund wieder schloss, fing er den Blick einer Frau auf, die ihm gegenüber saß, und lächelte. Sie wirkte genauso erschlagen und lächelte zurück.

Er hatte viel gehört über die Probleme und Freuden des Elternseins. Von erfahrenen Veteranen wie Russell Brigstocke und Yvonne Kitson. Von Dave Holland, der noch immer Spuckflecken auf seinem Revers hatte. Alles, was sie ihm erzählt hatten, schien ihm plötzlich für seine Lage relevant.

Niemand konnte einen darauf vorbereiten.

Es gab keinen richtigen und keinen falschen Weg.

Aus seinen Gesprächen mit diesen Leuten wusste Thorne, dass es Zeiten gab, wo man hart durchgreifen musste. Aber es gab auch Momente, in denen man hart durchgriff und sich hinterher beschissen fühlte, weil man merkte, wie falsch man damit gelegen hatte. Jetzt verstand Thorne, was sie damit meinten. Doch manchmal war es wichtig, die Tatsache zu akzeptieren, dass die Kinder einen Riesenspaß hatten – selbst wenn es einem gegen den Strich ging, was die Kinder machten oder wie ihr Verhalten bei anderen ankam. Er sah den Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters vor sich, als er seine Obszönitäten hinausschrie …

Ob es schon zu spät war, Alison Kelly anzurufen? Wahrscheinlich war es das. Aber dann griff er doch nach seinem Handy und wählte ihre Nummer.

»Hi, hier ist Tom. Hallo …?«

»Hi …«

»Tut mir Leid, falls es zu spät ist. Ich wollte nur wissen, wie es dir geht.«

»Ich bin müde.«

»Ich auch. War ’ne anstrengende Nacht.«

Sie lachte. »Das kann man wohl sagen.«

Thorne stellte sie sich nackt vor. Wie sie weinte. Wie sie sich von ihm wegdrehte und mit dem, was er gesagt hatte, klarzukommen versuchte. »Ich wollte wissen, wie es dir damit geht, was ich dir erzählt habe.«

Es knackte in der Leitung. Thorne fürchtete schon, die Verbindung sei unterbrochen, und sah auf das Display.

»Das ist in Ordnung«, sagte sie schließlich. »Ich bin … dankbar.«

»Ich hätte es für mich behalten sollen.«

»Du hast mir die Wahrheit erzählt.«

»Du warst ganz aufgewühlt …«

»Ich musste die Wahrheit wissen. Ich muss die Wahrheit wissen.«

Thorne sah, wie die Frau gegenüber sich wegdrehte. Er senkte die Stimme. »Einige Wahrheiten sind schwerer zu verkraften als andere.«

Schweigen am anderen Ende.

»Alison …?«

»Ich bin eine erwachsene Frau«, sagte sie. Wieder lachte sie, doch diesmal bitter. »Wenigstens konnte ich erwachsen werden …«

»Hast du noch mal Lust, mit mir auszugehen?«

Er hörte sie langsam ausatmen. »Warum hab ich nur das Gefühl, dass du nett sein willst?«

»Nein, jetzt komm …«

»Lassen wir uns ein paar Tage Zeit, ja?«, sagte sie. »Schauen wir mal, wie es uns dann geht.«

Thorne brauchte ein paar Sekunden, um zu merken, dass sie in einen Tunnel gefahren waren. Er sah auf das Display. Dieses Mal war die Verbindung unterbrochen. Ein paar Minuten blickte er ins Leere, bevor er über den Gang nach einer Zeitung griff, die jemand liegen gelassen hatte. Er drehte sie um und begann zu lesen.

Noch bevor er mit der ersten Seite fertig war, war er eingeschlafen.