Sechstes Kapitel
Am Montagvormittag, kurz nach halb elf, steckte Tughan den Kopf durch den Türspalt, ließ seinen Röntgenblick über die in der Einsatzzentrale Anwesenden gleiten und verschwand wieder. Dabei sah er drein, als wäre er in Hundescheiße getreten.
Holland sah auf die Uhr.
Samir Karim wandte sich ihm zu. »Da hat jemand ein Problem«, meinte er.
Holland nickte. Ihm war klar, von wem Karim sprach. DI Yvonne Kitsons Kopf steckte in einem dicken, gebundenen Schriftsatz. »Was lesen Sie, Chefin?«, fragte er sie.
Kitson blickte ihn über den Rand hinweg an und hob die neueste Ausgabe des Murder Investigation Manual hoch. Eine gewichtige Sammlung von Strategien, Modellen und Vorgaben, herausgegeben von der National Crime Faculty. Zumindest theoretisch eine Pflichtlektüre für jeden höherrangigen Ermittlungsbeamten, die alles abdeckte, von der Tatortbewertung über den Umgang mit Medien und Familienangehörigen bis hin zur Täterbeschreibung. Falls es so etwas wie Regeln gab, nach denen die Ermittlung bei Gewaltverbrechen vor sich gehen sollte, dann standen sie da drin.
»Einschlafprobleme?«, fragte Holland.
Kitson lächelte. »Es ist nicht gerade die ideale Ferienlektüre, Dave, aber es schadet nicht, sich über die neuesten Richtlinien auf dem Laufenden zu halten.«
»Pech, dass diese Richtlinien nur dann was bringen, wenn sich die Mörder an die ihren halten.«
»Sie wissen, wie Sie sich anhören?«, entgegnete Kitson.
Das wusste Holland sehr wohl. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung für ihn. Irgendwie merkwürdig, dass die Leute angefangen hatten, über Tom Thorne zu sprechen, ohne seinen Namen zu erwähnen …
Wie gerufen trat der Mann selbst durch die Tür und schien kaum weniger wütend als Tughan zuvor … und immer noch, wenn man nach dem Gesichtsausdruck ging, mit dem er hinter Thornes Schulter auftauchte.
»Sie haben eine Menge Leute warten lassen, DI Thorne.«
Thorne wandte sich an die im Zimmer Anwesenden, ohne Nick Tughan auch nur eines Blickes zu würdigen. »Es tut mir Leid. Das Auto sprang nicht an …« Wie erwartet entdeckte er den Ansatz eines Grinsens auf Hollands Gesicht. »Und Sie sollten sich ebenfalls zurückhalten, Holland. Ich bin nicht in der Stimmung.«
»Okay, wir haben bereits genug Zeit verschwendet«, sagte Tughan. »Teambesprechung in meinem Zimmer. In fünf Minuten.«
Während Tughan redete, hing Thorne seinen Gedanken nach. Er bekam alles mit, beschäftigte sich aber mit anderem …
Zum Beispiel mit Yvonne Kitson. Er hatte die Ausgabe des Murder Manual gesehen, die Kitson las, als er die Einsatzzentrale betrat. Es entsprach ihr vollkommen, sich ständig auf dem Laufenden zu halten. Sie gehörte zu den Menschen, die Thorne dafür bewunderte, wie sie ihrem Privatleben und ihrem Beruf getreu wurden. Allerdings hatten sich die Ansprüche seit letztem Sommer etwas geändert, nachdem ihr Mann von ihrer Affäre mit einem Vorgesetzten erfahren hatte und mit den drei Kindern ausgezogen war. Inzwischen wohnten die Kinder wieder bei ihr, aber sie war nicht mehr dieselbe. Zuvor war sie mühelos auf der Karriereleiter nach oben geklettert, jetzt hatte sie Mühe, Schritt zu halten. Die Veränderung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie schien an Tughans Lippen zu hängen, aber Thorne war sich ziemlich sicher, dass nicht nur er über etwas ganz anderes nachdachte …
Seine Gedanken wanderten zu seinem Vater. Er musste mit ihm reden, um zu sehen, wie es lief. Vielleicht wäre es einfacher, Eileen anzurufen.
Dann begann er darüber nachzugrübeln, warum er, beinahe drei Tage, nachdem er zusammen mit Chamberlain im Park-Royal-Gefängnis gewesen war, Tughan noch immer nichts von Gordon Rookers Geschichte erzählt hatte.
Hendricks hatte das ganze Wochenende über ständig davon geredet und ihn dabei angesehen, als wäre er vollkommen verrückt, hatte ihn ununterbrochen damit genervt, während sie sich im Fernsehen Fußball reinzogen …
»Du möchtest Billy Ryan selbst drankriegen, stimmt’s?«, hatte Hendricks gemeint. »Du möchtest den Kerl erwischen, der dieses Mädchen angezündet hat. Der sie auf dem Gewissen hat …«
»Heskey ist ein solcher Esel. Schau dir das an …«
»Du bist bescheuert, Tom.«
»Ich will ihn nicht selbst drankriegen.«
»Warum hast du dann niemandem von Rooker erzählt?«
Der einzige Grund, der Thorne dafür einfiel, war seine Beziehung zu Chamberlain und, okay, in gewisser Weise seine Beziehung zu Tughan. Außerdem hatte er sich zu der Ansicht durchgerungen, Rookers Information, sein Angebot, beziehe sich auf einen Fall, der zwanzig Jahre zurücklag. Er sei nicht unbedingt relevant für die Ermittlung in den Morden an Mickey Clayton, den Izzigils und den anderen. Natürlich hätte er Billy Ryan liebend gern alleine dingfest gemacht, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das anstellen sollte …
Tughan redete über Dave Holland und Andy Stone. Er lobte sie für ihre Arbeit, bei der sie auf den überaus wichtigen Namen gestoßen waren. Thorne konzentrierte sich auf das, was Tughan sagte, kam aber nicht umhin zu bemerken, wie stinksauer Holland darüber war, sich den Ruhm mit Andy Stone teilen zu müssen.
»Die Leute vom NCIS haben uns das abgenommen und sitzen seit achtundvierzig Stunden daran«, sagte Tughan. »Und wir haben jetzt endlich ein paar ordentliche Hintergrundinformationen über die Zarif-Familie.«
Tughan lehnte sich über den Schreibtisch. Brigstocke stand mit verschränkten Armen links davon. Ihnen gegenüber standen etwa ein Dutzend Leute dicht aneinander gedrängt in dem kleinen Büro: die führenden Polizeibeamten vom Team 3 der Serious Crime Group (West) und ihre Kollegen von der SO7.
»Nach außen hin erscheinen die Zarifs als musterhafte Bürger«, erklärte Tughan. »Jede Immobilie, die ihnen gehört oder an der sie einen Anteil besitzen, jedes Geschäft, an dem sie beteiligt sind – Minicabs, eine Videoladenkette, eine Spedition, eine Lastwagenvermietung –, ist absolut legal. Nicht mal ein Strafzettel für falsches Parken.«
»Typisch, oder?«, meinte Brigstocke.
Tughan nickte einem seiner DCs zu, einem vierschrötigen, bärtigen Waliser namens Richards. Thorne wurde ganz anders, als Richards sich an sie wandte. Er hatte vor ein, zwei Tagen neben ihm in einem Pub festgesessen, und der Kerl hatte ihn nicht vom Hocker gehauen.
»Stellen Sie sich das Ganze als drei konzentrische Kreise vor«, erklärte Richards.
Ohne Rücksicht darauf, ob jemand es bemerkte, schloss Thorne die Augen. Diese Nervensäge hatte ihm die »Konzentrische Kreise«-Rede bereits im Pub gehalten. Er hatte ihn so in die Ecke neben den Spielautomaten gedrängt, dass es kein Entkommen gab, und ihm erläutert, wie eine Bande oder Familie operierte – zehn endlose Minuten, für etwas, das er ebenso leicht in zwei hätte erledigen können. Da waren die Straßengangs: die Taschendiebe und die Autoknacker und die ganzen Typen, die einem Kind die Pistole vor die Nase hielten, um an sein Handy oder seinen MP3-Player zu kommen. Dann gab es die organisierten Ganoven: die Kredithaie, die Betreiber der illegalen Spielhöllen, die Waffenschmuggler und Kreditkartenabzocker. Und im Zentrum saßen die Bonzen: die nach außen hin gesetzestreuen Geschäftsmänner, die riesige Drogendealerringe und Geldwäscheoperationen leiteten und die sich wie respektable Industriekapitäne benahmen.
»Stellen Sie sich drei konzentrische Kreise vor«, hatte Richards erklärt, ein volles Glas Bier in der Hand. »Sie gehen alle ineinander über, aber die Punkte, wo sie sich berühren, ändern sich ständig, lassen sich nicht festmachen.« Er hatte gelächelt und sich zu ihm gebeugt. »Ich denke dabei immer an eine Zielscheibe …«
Thorne hatte genickt, als halte er das für einen großartigen Einfall. Er dachte dabei eher an kreisförmige Wellen in einer schmutzigen Lache. Wie sie zum Beispiel entsteht, wenn ein Stück Scheiße in eine Abwasserkloake fällt.
Aus einer dumpfen Erinnerung wurde er von Richards in eine noch dumpfere Gegenwart gerissen, der über »Fußsoldaten« sprach. Thorne rieb sich die Augen, hielt sich die Hand vor den Mund und flüsterte Sam Karim zu: »Gott, der glaubt, er ist bei den Sopranos …«
»Der Videoladen der Izzigils ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie das funktioniert«, erklärte Richards. »Der Name Zarif taucht im Grundbuch auf und in den Handelskammerunterlagen. Und die Fahrzeuge, mit denen theoretisch die vollkommen legalen Videokassetten ausgefahren werden, sind von ihrer Firma gemietet. Doch es gibt nichts, was sie mit irgendwelchen illegalen Vorgängen dort in Verbindung bringen könnte, und man kann sie nicht dafür verantwortlich machen, was die Leute treiben, die ihre Fahrzeuge mieten.«
Tughan räusperte sich und übernahm. »Es gibt drei Brüder. Wir verteilen die Fotos, sobald wir welche haben.« Er warf einen Blick in seine Unterlagen. »Außerdem noch eine Schwester und wahrscheinlich jede Menge Cousins und Cousinen. Zu diesem Zeitpunkt weiß nicht einmal der NCIS viel über sie. Sie sind türkische Kurden, leben schon einige Zeit hier, fielen bisher nicht auf.« Er blickte von seinem Clipboard auf. »Haben sich etabliert. Geschäfts- und Wohnhäuser in den entsprechenden Lagen, zwischen Manor House und Turnpike Lane.«
Von hinten war eine Stimme zu hören: »Klein-Istanbul …«
Tughan lächelte kurz. »Jetzt, da sie gut im Geschäft sind, scheinen sie expandieren zu wollen. Und das auf Kosten des armen alten Billy Ryan.«
»Dann wollen wir mal etwas Druck ausüben«, sagte Brigstocke. »Schauen wir, wie gut sie im Geschäft sind.«
Tughan stand auf, legte sein Clipboard auf den Schreibtisch und zupfte die Bügelfalten seiner Anzughose zurecht. »Gut. DS Karim, DC Richards, organisieren Sie die weitere Vorgehensweise …«
Nachdem die Besprechung beendet worden war, trat Tughan zu Thornes Überraschung zu ihm und sprach ihn an, als könnten die beiden sich riechen.
»Lust auf einen Besuch bei Billy Ryan?«, fragte Tughan.
»Was ist mit den Zarifs?«
»Damit warten wir noch ein, zwei Tage. Besorgen wir uns zuerst etwas Munition.«
»Gut.«
»Im Augenblick liegen die Ryans vier zu zwei zurück.
Schauen wir mal, wie sie damit zurechtkommen, Prügel zu beziehen.«
Thorne nickte. Momentan hagelte es Überraschungen. Liegen vier zu zwei zurück. Das war ziemlich daneben, andererseits war jeder Witz von Nick Tughan daneben …
Sie sprachen so gut wie kein Wort, als sie in Tughans Rover Richtung Camden Town fuhren. Die Musik war glücklicherweise zu laut für eine Unterhaltung. Die Strecke entsprach mehr oder weniger Thornes Heimweg, südlich durch Hampstead und Belsize Park, durch eine der teuersten Londoner Gegenden, die in eine der wohl trendigsten überging. Auch wenn die bomberbejackte Medienhorde aus Hoxton oder Shoreditch das womöglich anders sah. Sie fuhren an den Neubauten neben Jack Straw’s Castle vorbei, dem alten Gasthaus in der Hampstead Heath, das nach einem der Anführer im Bauernaufstand benannt war und zu den Lieblingswirtshäusern von Dickens und Thackeray zählte. Jetzt trafen sich hier an bestimmten Abenden Schwule, die schnellen und manchmal gefährlichen Sex suchten, in den dunklen Ecken und Nischen, um dann hinaus in den Park zu verschwinden.
Sie parkten vor einem Billardsalon hinter der Camden Road, ein paar Straßen entfernt von Billy Ryans Büro. Thorne war auffallend erleichtert, als er aus Tughans Wagen rauskam. Sosehr sein eigener Musikgeschmack den einen oder anderen vor den Kopf stieß, Phil Collins wünschte er nicht einmal seinem ärgsten Feind. Der Typ kam gleich nach Sting, aalglatt, wie er war. Wenn man die Musik hörte, flehte man auf den Knien zu Gott um Taubheit. Auf dem Weg zu Ryans Büro fragte sich Thorne, ob die Mafiaschläger je darüber nachdachten, ein Phil-Collins-Album einzusetzen, statt ihren Opfern die Zähne zu ziehen oder Kniescheiben zu durchbohren.
Ein Besuch beim Geschäftsführer von Ryan Properties unterschied sich in nichts von einem Besuch bei einem anderen erfolgreichen Geschäftsmann – bis auf die Tatsache, dass der Mann an der Rezeption am Nacken tätowiert war.
»Warten Sie hier«, sagte er. Dann: »Einen Augenblick noch.« Und schließlich: »Gehen Sie rein.«
Thorne fragte sich, ob der Kerl prinzipiell in Sätzen sprach, die nur aus drei Worten bestanden. Als er und Tughan schließlich in Billy Ryans Büro vorgelassen wurden, bedachte er den Mann am Empfang mit einem eigenen kernigen Drei-Wort-Ausspruch. Er sah zu, wie Billy Ryan aufstand und Tughan wie einen geachteten Konkurrenten begrüßte. Tughan schüttelte Ryan die Hand, was Thorne für ausgesprochen überflüssig hielt, weshalb er es, als er selbst vorgestellt wurde, unterließ. Ryan schien das zu amüsieren.
Thorne kannte die zwei anderen Anwesenden von Fotos. Marcus Moloney war schnell aufgestiegen und galt als einer von Ryans engsten Mitarbeitern. Der Jüngere war Ryans Sohn Stephen.
»Packen wir’s an?«, fragte Ryan.
Nachdem die fünf Männer Platz genommen hatten – Tughan und Thorne auf einem kleinen Sofa und die anderen in Sesseln – und während etwas zu trinken angeboten und dankend abgelehnt wurde, musterte Thorne den Raum und die Anwesenden. Sie befanden sich in einem von zwei Zimmern über einem Ausstellungsraum für Büromöbel, von dem aus Ryan sein Multi-Millionen-Pfund-Imperium führte. Es war geräumig, aber die Ausstattung und die Möbel waren schäbig – schon seltsam, wenn man daran dachte, was sie im Laden darunter verscherbelten, der Ryan ebenfalls gehörte. Thorne fragte sich, ob Ryan einfach geizig war oder sich nichts aus Leder und Chrom machte.
In seinen fünfundzwanzig Jahren bei der Polizei, in denen er nie mehr als zwei, drei Kilometer von dem Ort entfernt gewohnt hatte, an dem er jetzt saß, war Thorne deprimierend häufig über den Namen William John Ryan gestolpert. Doch bis jetzt hatte er es auf wundersame Weise vermieden, direkt mit ihm zu tun zu haben. Nun, da er ihm zum ersten Mal leibhaftig gegenübersaß, nur durch einen niedrigen, mit Zeitschriften wie Daily Star, House & Garden, Racing Post, World of Interior übersäten Tisch getrennt, war Thorne gegen seinen Willen beeindruckt von der Art und Weise, wie der Mann sich darstellte.
Ryan hatte rote Wangen und einen kleinen, sensiblen Mund. Wenn er redete, blieben seine Zähne verborgen. Er war frisch rasiert. Eine Woge teuren Aftershaves umgab ihn und noch ein anderer Duft – vielleicht Haarspray, nach dem Aussehen seiner rötlichen, an manchen Stellen bereits grauen Haare zu urteilen, die sich über den Kragen seines Blazers ringelten. Thorne fühlte sich an einen gut erhaltenen Van Morrison erinnert.
»Ich nehme an, Sie haben noch keine Fortschritte bei der Suche nach diesem Irren gemacht«, sagte Ryan.
Im Lauf der Jahre war Ryans Dubliner Akzent etwas verblasst, aber er war noch immer deutlich herauszuhören. Als Reaktion kehrte Tughan seinen eigenen Akzent heraus. Thorne war nicht klar, ob Absicht dahintersteckte.
»Wir verfolgen eine Reihe viel versprechender Spuren«, sagte Tughan.
»Das hoffe ich. Und sehen Sie zu, dass Sie zu einem Ergebnis kommen.«
»Das werden wir …«
»Dieser Kerl hat Freunde von mir geschlachtet. Ich muss davon ausgehen, dass Mitglieder meiner Familie bedroht sind, solange er sich auf freiem Fuß befindet.«
»Da könnten Sie richtig liegen.«
Zum ersten Mal ergriff Moloney das Wort. »Also tun Sie was dagegen.« Seine Stimme klang ruhig und vernünftig, sein Gesicht unter den schütteren, schmutzig blonden Haaren war ausdruckslos und aufgedunsen. »Es ist eine Unverschämtheit, dass Sie Mr. Ryans Familie keinerlei Schutz anbieten.«
Ryan entging der Ausdruck auf Thornes Gesicht nicht. »Hab ich was Komisches verpasst?«, fragte er.
Thorne zuckte die Achseln. »Das war kein Brüller.« Er sah hinüber zu Moloney. »Eher leise Ironie. Denn normalerweise ist es doch Mr. Ryans Familie, die Schutz anbietet. Allerdings kann man es nicht wirklich anbieten nennen …«
Nun war es an Stephen Ryan, einzugreifen: »Sie Klugscheißer!« Der Sohn galt bei vielen als der kommende starke Mann. Obwohl er seinem alten Herrn wie aus dem Gesicht geschnitten war – auch wenn sein Gesicht noch nicht die Altersmilde zeigte –, war seine Stimme, nicht nur sein Ton, vollkommen anders. Stephen musste eine exklusive Privatschule besucht haben, das verriet der Akzent.
Thorne lächelte Stephens Vater zu. »Ist doch nett, wenn sich die teure Erziehung bezahlt macht.«
Ryan zog eine Grimasse, die man als Lächeln missverstehen konnte. An Tughan gewandt fragte er: »Wo haben Sie den aufgetrieben?«
Tughan warf Thorne einen Blick zu, als frage er sich das ebenfalls. »Machen wir es kurz, Mr. Ryan«, sagte er. »Wir wollten nur überprüfen, ob sich bei Ihnen etwas Neues ergeben hat, seit wir das letzte Mal miteinander sprachen.«
»Etwas Neues?«
»Eine neue Idee, eine Theorie, wer gegen Ihr Geschäft vorgeht.«
»Ich hab Ihnen das letzte Mal bereits gesagt, und all die anderen Male, dass …«
»Vielleicht ist Ihnen noch etwas dazu eingefallen. Oder zu Ohren gekommen.«
Ryan lehnte sich in seinem Sessel zurück, legte die Arme um die Rückenlehne. Thorne sah die breiten Schultern unter dem Kaschmirblazer, doch als sein Blick nach unten glitt, überraschten ihn die ungewöhnlich zierlichen Füße. Es hieß, Ryan sei in seinen jungen Jahren ein ordentlicher Amateurboxer gewesen, aber bizarrerweise hatte er auch den Ruf, eine gute Figur auf dem Tanzparkett zu machen. Thornes Blick blieb an den kleinen, auf Hochglanz polierten Schuhen hängen, den merkwürdig mädchenhaften Seidensocken.
»Ich habe keine Ahnung, wer es ist. Ich wünschte, es wäre anders …«
Ryan log brillant, das musste Thorne zugeben. Er brachte sogar etwas wie einen Anflug von Gefühl rüber – so was wie Traurigkeit –, um ein anderes Gefühl zu überdecken, das offensichtlich nicht ganz so edel war: Wut und die Gier nach brutaler Rache. Thorne sah hinüber zu Moloney und Stephen Ryan. Beide hielten den Kopf gesenkt.
»Ich habe keine Ahnung, wer der Scheißkerl ist«, wiederholte Ryan. »Es ist Ihr Job, das herauszufinden.«
Tughan zupfte an seiner Hose und schlug die Beine übereinander. »Ist sonst jemandem was eingefallen? Vielleicht einem Angestellten?«
Dieses Mal war es der Ausdruck »Angestellter«, bei dem Thorne grinsen musste. Falls Ryan es bemerkte, sah er darüber hinweg. Er schüttelte den Kopf, und sie saßen fünfzehn Sekunden schweigend da.
»Was ist mit diesen viel versprechenden Spuren, von denen Sie sprachen?« Stephen Ryan sah Thorne an, als habe er einen Scheißhaufen in einem weißen Flokati vor sich.
»Danke«, meinte Thorne. »Hätten wir beinahe vergessen. Sagt Ihnen der Name Izzigil etwas?«
Rundum Kopfschütteln und Achselzucken. Stephen Ryan fuhr sich mit der Hand durch die kurz geschnittenen schwarzen Haare.
»Sind Sie sicher?«
»Ist das hier eine offizielle Befragung?«, wollte Moloney wissen. »Wir sollten den Anwalt holen, Mr. Ryan.«
Ryan hob die Hand. »Sie sagten, das hier wäre nur eine Unterhaltung, Mr. Tughan.«
»Keine Sorge«, meinte Tughan.
Thorne nickte und setzte nach einer Pause hinzu: »Bedeutet das also ein definitives« Nein »auf die Frage nach Izzigil?« Er nickte Tughan zu, der in seine Aktentasche fasste und einen Stapel Fotos herauszog.
»Was ist mit diesen?«, fragte Tughan.
Thorne schob die Zeitungen und Magazine zur Seite, nahm Tughan die Fotos ab und breitete sie auf dem Tisch aus. »Erkennt jemand diese beiden?«
Stephen Ryan und Marcus Moloney stöhnten, als sie sich nach vorne beugten. Billy Ryan griff nach einem der Fotos, einem Standbild aus dem Video der Überwachungskamera an der Green Lanes, das vor drei Wochen gemacht wurde. Eine verschwommene Aufnahme von zwei Jungen, die davonliefen. Es handelte sich um die Jungs, die sie im Verdacht hatten, von Muslum Izzigils Laden zu fliehen, nachdem sie gerade eine meterhohe Blechtonne durchs Fenster geworfen hatten.
»Sehen aus wie zwei, die’s faustdick hinter den Ohren haben«, sagte Ryan. »Die gibt’s wie Sand am Meer. Marcus?«
Moloney schüttelte den Kopf.
Stephen Ryan sah mit großen Augen zu Thorne. »Beavis and Butt-Head?« Er kicherte über seinen Witz und sah zu Moloney, ob dieser einstimmte.
Tughan nahm die Fotos und hievte sich vom Sofa. »Dann wollen wir nicht länger stören …«
Moloney und Stephen Ryan blieben sitzen, während Billy Ryan Tughan und Thorne hinausbegleitete. Der Mann an der Rezeption warf Thorne einen finsteren Blick zu, als er vorbeiging. Thorne zwinkerte ihm zu.
Ryan blieb an der Tür stehen. »Was macht dieses Arschloch? Dieser Schlitzer. So was läuft nicht. Ich bin schon lange im Geschäft und habe ’ne Menge gesehen.«
»Da bin ich mir sicher«, warf Thorne ein.
Ryan hörte den Seitenhieb nicht oder überhörte ihn bewusst. Kopfschüttelnd und mit einem Ausdruck des Abscheus sagte er: »Dieser widerliche X-Man …«
Es überraschte Thorne nicht, dass Ryan darüber Bescheid wusste, was der Mörder seinen Opfern antat. Drei von ihnen waren schließlich von Ryans Leuten gefunden worden. Beim Spitznamen war es etwas anderes. Soweit Thorne wusste, war er auf das Becke House beschränkt. Offensichtlich verfügte Ryan über viele Kontakte, und Thorne war nicht so naiv zu glauben, dass darunter nicht der eine oder andere war, der sein Polizistengehalt etwas aufbessern wollte.
Thorne stellte die Frage, als wäre sie ihm nachträglich eingefallen. »Was sagt Ihnen der Name Gordon Rooker, Mr. Ryan?«
Ryan reagierte darauf, kein Zweifel. Flüchtig und schwer zu deuten. Wut, Angst, Schock, Überraschung? Alles war möglich.
»Noch so ein Arschloch«, sagte Ryan schließlich. »Eins, an das ich schon lange keinen Gedanken mehr verschwenden musste.«
Die drei standen schweigend da, inmitten einer alles betäubenden Duftwolke von Aftershave, bis Ryan sich umwandte und rasch in sein Büro zurückging.
Es hatte bereits gedämmert bei ihrer Ankunft. Nun war es dunkel. Als sie in die unbeleuchtete Seitenstraße einbogen, war Thorne enttäuscht, dass bei dem Rover nicht einmal ein Fenster eingeschlagen war.
»Wer ist Gordon Rooker?«, fragte Tughan.
»Ein Name, auf den ich gestoßen bin. War nur ein Schuss ins Blaue …«
Tughan musterte ihn aus den Augenwinkeln. Er betätigte die Fernbedienung, um den Wagen zu entriegeln, und ging zur Fahrertür. »Es ist schon beinahe fünf, ich habe uns im Büro ohnehin schon abgemeldet. Ich bring Sie nach Hause.«
Thorne blickte durch das Fenster und sah die leere Kassettenhülle zwischen den Sitzen liegen. Die Vorstellung, auch nur eine Sekunde lang der Litanei eines glatzköpfigen Millionärs über das Schicksal der Obdachlosen zuhören zu müssen, war unerträglich.
»Ich geh zu Fuß«, sagte er.