Einundzwanzigstes Kapitel

3. November 1986

Wenn mich noch jemand anzüglich angrinst oder eine hintergründige Bemerkung macht wie: »Bald darfst du legal«, raste ich aus. Das ist, als sagen sie eigentlich: »Wenn du sechzehn bist, darfst du Sex haben, weißt du. Das ist vollkommen normal.« Ich würde sie am liebsten an den Armen packen und sagen: »Vielen Dank, das war mir gar nicht klar. Jetzt muss ich nur noch jemand finden, der verzweifelt genug ist, und dann brauch ich nur noch eine große Kotztüte, die ich mir über den Kopf stülpen kann.«

Wieso vermuten die alle, dass ich darauf aus bin?

Wieso vermuten die ständig irgendwas?

Seit Tagen grüble ich darüber, wie ich M & D sage, dass ich lieber sterbe, als auf diese Party zu gehen, die sie für morgen planen. Der erste Geburtstag, seit ich aus dem Krankenhaus bin, seit der letzten OP. Als ob das eine große Sache wäre. Mir ist klar, sie wollen nur, dass ich mich amüsiere und normale Sachen mache. Und ich weiß einfach nicht, wie ich es ihnen beibringen soll.

Ich will keine Party. Ich will nicht im Mittelpunkt stehen. Ich will diese ganze Verlogenheit nicht.

Wenn ich wütend werde, lächeln sie nur. Sie verwöhnen mich ständig, und ich könnte dabei die ganze Zeit brüllen und alles zerdeppern. Ali und die anderen bekämen dafür ordentlich was aufgebrummt, mich fassen sie mit Samthandschuhen an.

Als ob ich überall Narben hätte. Man mich nirgends berühren könnte.

Ich möchte ausgeschimpft und bestraft werden. Ich möchte ihnen sagen, dass sie sich ihre Scheißparty in den Arsch stecken können, nur um zu erleben, wie sie einmal ausrasten, die Sache für gestrichen erklären. Aber immer, wenn ich wirklich ekelhaft werde, schauen sie sich nur an mit diesem Blick, der mich umbringt. Als fänden sie mein Verhalten in Ordnung und verzeihbar. Als wären düstere Klamotten und düstere Stimmung vollkommen normal für einen durchschnittlichen, horrormäßig entstellten Teenager.

Wenn ich versuche, mit ihnen darüber zu reden, wie ich mich wegen diesem Geburtstag fühle, glauben sie nur, das ist ein Trauma, eine Reaktion, die durchaus verständlich ist, nach allem, was ich durchgemacht habe. Und dass ich es nicht wirklich so meine.

Aber ich meine es so.

Schon beim Gedanken an diese Party bricht mir der kalte Schweiß aus. Keiner hat davon die geringste Ahnung. Nicht mal Ali scheint zu kapieren, wovon ich rede. Sie erzählt mir ständig, wie witzig es wird und dass ich mich nicht so anstellen soll. Und dann will sie wissen, ob auch ein paar süße Kerle da sind.

Ich weiß, M & D haben wahrscheinlich ein Vermögen für den Saal und die Disco und das alles ausgegeben. Und ich find das auch supernett von ihnen. Wenn ich auch nur eine Sekunde das Gefühl hätte, ich halte es aus, würde ich nichts sagen. Meinen Freundinnen beim Tanzen und Trinken und Sich-Verdrücken zuzusehen klingt klasse, aber ich weiß genau, was passieren würde.

Ich bin mir sicher, irgendwann würde jemand das Bedürfnis haben, etwas zu sagen.

Seit Wochen stelle ich mir das jetzt vor, seit sie es mir gesagt haben. Seit sie mir erklärt haben, sie möchten eine Party geben, und es dann nicht so recht fassen konnten, als ich ihnen sagte, die Party sollte dann bitte möglichst ohne mich laufen. Manchmal stelle ich mir vor, es ist Dad, und dann wieder ist es eine meiner Freundinnen, meistens Ali. Die Musik hört auf, und dann ertönt dieses hohe Pfeifen aus den Lautsprechern, wenn sie dem DJ das Mikrofon entreißen. Dann kommt die Rede. Sie reden von Tapferkeit und reißen ein paar müde Witze, und alle tun so, als wären sie gut. Dann diese merkwürdigen Sekunden, wie sie nach jeder Rede kommen, wenn niemand was sagt. Und dann fangen alle an zu klatschen und starren mich an.

Alle. Starren. Mich. An.

Und die blasse Hälfte meines Gesichts, die glatte Hälfte, wird rot, bis sie dieselbe Farbe hat wie die vernarbte. Beide Hälften gleich rot, und ich brenne noch einmal.

Alle singen »Happy Birthday«, und Mum und Dad fallen sich in die Arme, und ein paar von meinen Freundinnen heulen, und sie stehen alle um mich rum und schauen mich an, wie ich im Lichtkegel stehe, und sehen so bescheuert drein, als wäre ich sechs Jahre alt.

Als wäre ich was Besonderes

 

Thorne klappte das Tagebuch zu, ließ sich zurücksinken und drückte es an seine Brust. Er schlug es wieder auf, um das Foto herauszunehmen, das er als Lesezeichen verwendet hatte. Stellte sich vor, wie sie an einem trostlosen Novemberabend in die Dunkelheit huscht.

Wie die Musik, eine Wham-Nummer, hinter ihr leise verklingt, während sie aus dem Saal verschwindet, die Party hinter sich lässt und zu den Lichtern der Stadt eilt.

Noch immer wird sie nicht vermisst. Ihre Freunde tanzen, rufen einander über die Musik hinweg zu, während sie nach oben steigt.

In dem Treppenhaus aus Beton stinkt es nach Abgasen, und das Klappern ihrer Schuhe hallt von den Wänden wider.

Eine besorgte Frage und die ersten unruhigen Blicke von ihren Freunden, als sie, ein paar hundert Meter von ihnen entfernt, in die Kälte hinaustritt. In die frische Luft. Die Dunkelheit ihr verzweifelt entgegenschlägt. Die Nacht küsst sie auf die beiden Seiten ihres Gesichts, als sie durch sie hindurchstürzt …

Thorne zuckte leicht zusammen, als das Telefon klingelte. Elvis, aufgeschreckt durch die plötzliche Bewegung, hüpfte vom Bettende. Thorne sah auf die Uhr: 4:35.

Brigstocke hielt sich nicht mit Small Talk auf. »Wir haben Nachricht von einem Zwischenfall in Finchley.«

Thorne war bereits aus dem Bett. »Ryans Haus?«

»Genau. Eine Streife ist bereits vor Ort, aber anscheinend herrscht Chaos. Zumindest eine Person wurde verletzt, darüber hinaus wissen wir nicht viel.«

»Glauben Sie, Zarif schickte den X-Man zu Ryan?«

»Ich weiß so viel wie Sie, mein Freund …«

Thorne hüpfte durch das Schlafzimmer, schnappte sich Socken, eine Unterhose und ein Hemd. »Fahren Sie rauf?«

»Tughan ist unterwegs«, sagte Brigstocke, »aber Sie sind näher dran als er, Sie müssten ihn also schlagen.«

Thorne ging ins Wohnzimmer, wo er Hendricks bereits wach in seinem Bett fand. Thorne erzählte ihm, was passiert war.

»Soll ich mitkommen?«, fragte Hendricks.

Thorne war in die Küche gegangen. Er kam kopfschüttelnd zurück und stürzte ein Glas Wasser herunter.

»Bist du sicher? Ich bin in einer Minute angezogen …«

Thorne griff nach seiner Jacke und kramte in der Tasche nach dem Schlüssel. »Bringt nichts. Wir wissen noch nicht genau, was passiert ist«, erklärte er. »Aber wenn ich du wär, würde ich mich nicht noch mal hinlegen …«

Die Straßen waren so gut wie leer, als Thorne zum Archway-Kreisverkehr rauf und von dort weiter nach Norden fuhr. Er lag vielleicht über der Promillegrenze, fühlte sich aber klar im Kopf. Er sah die Rücklichter der anderen deutlich und die wenigen Autos aus den Seitenstraßen. Dachte weit voraus.

Er entschied sich für die Strecke durch Highgate, wodurch er die Parallelstraße vermied, die ihn unter der Suicide Bridge durchgeführt hätte. Diese eiserne Fußgängerbrücke, die schon vor langem John Nashs Viadukt – den ursprünglichen »Archway« – ersetzt hatte, war unter den Depressiven Londons eine der beliebtesten Stellen zum Springen. Wann immer es ging, nahm Thorne eine andere Route, da er sich jedes Mal unbewusst auf den Aufprall eines Körpers auf dem Auto gefasst machte.

Sosehr es ihm heute auch pressierte, mit den Seiten dieses abgegriffenen Tagebuches vor Augen blieb ihm gar nichts anderes übrig, als die Brücke zu meiden.

Sein Handy klingelte erneut, als das Auto über eine rote Ampel und auf die North Circular fuhr. Thorne warf einen Blick auf das Display, das »Holland Mob« anzeigte.

»Weiß schon«, sagte er. »Bin schon unterwegs zu Ryans Haus.«

Holland lachte. »Also bis gleich …«

Falls die Zarifs Ryan umgelegt hatten, ließ sich nur schwer voraussehen, wie sich die Dinge entwickeln würden. Thorne tippte, dass Stephen die Zügel an sich reißen würde, und er schien nicht gerade jemand zu sein, der vergibt und vergisst. Andererseits war sein aufbrausendes Temperament vielleicht das Einzige, was Billys Sohn und Erben auszeichnete, nach allem, was Thorne gesehen hatte. Möglich, dass er scheiterte und Ryan Properties implodierte. Damit eröffneten sich den Zarifs ganz neue Expansionsmöglichkeiten. Das ganze Chaos mochte ja mit einer Reaktion auf Ryans Versuch begonnen haben, seinen Einflussbereich auf ihr Gebiet auszudehnen. Aber Thorne fiel es schwer, zu glauben, dass Memet und seinnki8e Brüder sich auf das eingelassen hatten, ohne sich davon einen substanziellen Vorteil zu versprechen. Wie immer es ausging, die Veränderungen wären immens. Und es würde hart zugehen …

Thorne erreichte den Park von Finchley innerhalb von fünfzehn Minuten. Er kurvte mit dem BMW um die Grünfläche. Dabei musste er daran denken, wie er sich hier vor vierzehn Tagen mit Billy Ryan getroffen hatte. Thorne zeigte dem Polizisten am Eingang seinen Polizeiausweis und trat ein. Er betrachtete gerade die Blutspur, die sich auf dem Teppich entlangschlängelte, als ein weiterer Polizist vor ihm auftauchte.

»Ich bin DI Thorne. Wo ist der Notarzt?«

»Der kam und ist schon wieder abgefahren, Sir. Das Opfer war beim Eintreffen der Ambulanz bereits tot. Wenn Sie mich fragen, war er schon tot, als Sie anriefen …«

Ob Hendricks sich wohl schon angezogen hatte? »Wo ist er?«

Der Polizist deutete auf eine Tür im Gang.

Thorne ging darauf zu und ärgerte sich, aus dem Kofferraum keine Handschuhe mitgenommen zu haben. »Wurde der Tote identifiziert?«

»Ja, Sir. Nach Auskunft von Mrs. Ryan handelt es sich bei dem Toten um ihren Ehemann, William John Ryan.«

Thorne achtete darauf, auf keinen der Blutflecke zu treten, die immer größer wurden, je näher er der Tür kam. Die Tür war angelehnt. Er stieß sie mit dem Schuh ganz auf.

Ryan lag zusammengerollt in einer Ecke auf dem Küchenboden. Ein behaarter, rot gestriemter Unterarm war merkwürdig verrenkt an einem Schrank hochgereckt. Das ursprünglich weiße Hemd war blutgetränkt – dunkle Flecken drangen an der Schulter und in der Achsel durch die Seide. Die Wunde am Hals war ordentlich und blutete noch immer, die Fugen zwischen den Terrakottafliesen färbten sich allmählich rot.

Dazu brauchte man kein ausgebildeter Mediziner zu sein.

Thorne bemerkte den Polizisten, der zu ihm getreten war. Mit einem Blick auf Billy Ryan fragte er ihn: »Also, was ist passiert?«

»Seltsame Sache. Nach allem, was man hört, marschierte sie rein und rammte ihm das Messer rein. Wieder und wieder.«

Thorne fuhr herum. »Seine Frau brachte ihn um?«

»Nein, Sir. Nicht seine Frau.« Der Polizist wandte sich um und deutete mit einer Kopfbewegung zu der Tür, aus der er gekommen war. »Die andere Frau …«

Thorne stieß ihn zur Seite und lief, ohne ein Wort zu sagen, den Gang hinunter. Er spürte, wie ihm der Atem aus den Lungen wich, wie ein Geräusch in seinem Kopf anschwoll, ein Summen, als seien Wespen unter einer Tasse gefangen. Ihm war klar, was ihn erwartete …

Als Thorne ins Wohnzimmer trat, erhoben sich die beiden grimmig dreinsehenden Polizistinnen vom Sofa. Die Frau, die mit einer Handschelle an eine von ihnen gefesselt war, musste wohl oder übel mit ihnen aufstehen. Die Polizistin auf ihrer anderen Seite schaute Thorne abwartend an, während sie Alison Kelly mit der Hand am Ellbogen festhielt.

Thorne öffnete den Mund, um zu sprechen, schloss ihn jedoch wieder. Ihm fiel nichts ein, was er sagen konnte. Alison sah ihn ein, zwei Sekunden an.

Er war sich sicher, dass sie ihm kurz zunickte, bevor sie den Kopf senkte.