Dreiundzwanzigstes Kapitel
Schmerz löste sich explosionsartig aus dem Block und schleuderte mich rücklings gegen ein Bücherregal. Feiner Sand legte sich über meine Augen, meine Haut, peitschte mein Haar zurück wie ein Orkan. Zertanik und der Erhabene schrien, doch ihr Schreien und Wehklagen ging im Getöse unter. Holz knarrte, brach, und Splitter regneten auf mich herab, Sekunden bevor der Orkan nachließ und ich mit dem Gesicht voran zu Boden stürzte.
Ich lag dort Stunden ... Tage ... Sekunden ... Ich wusste es nicht. Das Pochen in meinem Kopf war so schnell und so heftig wie mein Herzschlag. Meine Finger waren auf eine Weise kalt, wie ich es noch nie erlebt hatte. Der ganze Rest meines Körpers war taub.
Warum war ich nicht tot?
Etwas Kaltes, Scharfkantiges lag auf meinen Augen, und ich wischte es weg, zuckte zusammen, als winzige Splitter meine Gesichtshaut zerkratzten. Vorsichtiger machte ich weiter, fegte etwas zur Seite, das sich anfühlte wie kaltes Salz. Ich schlug die Augen auf und starrte blinzelnd die weißen Kristalle an, die auf meinen Fingern schmolzen.
Eis? Großmama hatte uns von Eis erzählt. Von den Geschichten, die ihre Großmama ihr aus ihrem Leben beim Bergvolk erzählt hatte. Es fiel wie Regen vom Himmel, wenn es kalt war. Tali hatte gelacht und ihr nicht geglaubt. In Geveg war es nie so kalt.
Aber jetzt war es kalt. Eine Gänsehaut jagte über meinen Körper, und ich zitterte. Ich rieb mir die Arme. Sie waren mit Eis überzogen, so wie es meine Augen gewesen waren. Ich wollte den Kragen enger um den Hals ziehen, doch nur zerfetzter Stoff glitt zwischen meinen Fingern hindurch. Ein Rinnsal Eiswasser lief über meinen Kopf, meinen Rücken, meine ...
O ihr Heiligen! Wo waren meine Kleider?
Die Kälte und der Schock vertrieben den letzten Rest der Benommenheit aus meinem Kopf. Aylins Kleid war weg; nur ein paar ausgefranste Fetzen an Kragen und Ärmelaufschlägen waren noch übrig. Meine Sandalen waren noch da, aber die oberen Riemen waren gerissen. Und dieses blaue Ding neben mir war ...
Der Block.
Ich streckte die Hand aus und berührte ihn. Er war warm, wie Haut, trotz der Kälte im Raum. Wärme auch in meinem Rücken. Ich sah mich über die Schulter um. Die Spätnachmittagssonne schickte ihre Strahlen durch die zerbrochenen Fenster. Staub und Stofffasern schwebten durch den Raum. Der Boden war mit Glassplittern übersät. Die Teppiche unter dem Block waren fadenscheinig, unter stark abgenutzten Stellen schimmerte der Untergrund durch wie das Holz eines Schiffsrumpfs unter abgeschmirgelter Farbe. Eis überzog alles mit einem weißen Schimmer.
»Ha... hallo?«, quiekte ich mit einer Stimme, die mir fremd war. Ich konnte weder Zertanik noch den Erhabenen sehen, aber der Raum war ebenso in Fetzen wie meine Kleider. Alles war mit der gleichen Kraft, die mich gegen das Bücherregal geschleudert hatte, von dem Block fortgefegt worden. Möbelbruchstücke stapelten sich an den Wänden, Gemälde hingen in Streifen über zertrümmerten Tischen und Stühlen. Sogar Großmamas Porträt war fort.
Eine warme Brise wehte herein. Die Vorhänge waren verschwunden. Ein Teil des Daches auch, und Gesteinssplitter verteilten sich in all dem anderen Schutt. Ein zarter roter Nebel bedeckte die Wand auf der anderen Seite und, weiter unten, Fetzen von bunter Seide. An einem geborstenen Ziegelstein klebte eine Hand voll eisverkrusteter Haare, die schwarz in der Sonne glänzten.
Zertaniks Haare.
Sonst war nichts von ihm übrig. Er hatte sich einfach aufgelöst, so wie die Pynviumklumpen, die ich zu oft entleert hatte. Ich wollte mich nicht nach dem Erhabenen umsehen, aber mein Blick suchte trotzdem nach allem, was grün war. Nicht viel anders als bei Zertanik war auch von ihm nur eine einzelne goldene Litze übrig, die zwischen einem Schreibtisch und einer zerbrochenen Statue hervorlugte. Und die dahinterliegende Wand verbarg sich hinter dem gleichen roten Dunstschleier.
O ihr Heiligen! Das war Blut.
Ich würgte, zwang mich zu atmen. Schlug die Hände vor das Gesicht, bis die Welt aufhörte, sich um mich zu drehen.
Warum war ich nicht tot ?
Ich musste hier raus. Ich stemmte mich auf die Knie und suchte in dem Chaos nach der Doppeltür, die plötzlich so weit weg war. Aber der Weg nach draußen war dort, jenseits des Todes.
»Nya!«
Die Stimme eines Mannes von irgendwoher. Vertraut, aber es war nicht Danello. Nicht Soek. Ich versuchte zu antworten, aber alles, was über meine Lippen kam, war ein heiseres Krächzen. Alles drehte sich um mich, silbrige Flecken tanzten vor meinen Augen, verkleinerten mein Blickfeld wie an jenem Tag auf der Brücke, nachdem ich dem Fischer den Schmerz gegeben hatte. Ich schwankte, ich fiel. Glas bohrte sich in meine Knie.
Ein lautes Donnern, und eine Schuttmauer zu meiner Rechten geriet in Bewegung. Die Überreste des Sofas, auf dem Zertanik gesessen hatten, verteilten sich auf dem Boden. Noch ein Donnern, und ein Lichtstrahl drang durch das Chaos.
»Ist da jemand?«
»Hier«, hauchte ich.
Schwere Schläge und ein wiederkehrendes Krachen ertönten, und der einzelne Lichtstrahl wurde zu einem Keil, dann zu einer Türöffnung. Blau und Gold verdrängten ihn gleich wieder, farbige Flecken in dem tanzenden Silber am Rand meines Blickfelds.
»Nya?« Ein Mann. Auf der Schwelle. »Bei allen Heiligen, Nya, was ist passiert?«
Ich versuchte zu antworten, aber die Worte wollten nicht kommen. Ich kannte dieses Gesicht, diesen Mann, aber sein Name fiel mir nicht ein.
Er zog sein Hemd aus und streifte es mir über den Kopf, fädelte meine Arme durch die Ärmel, wie ich es bei Tali getan hatte, als sie noch klein gewesen war. Hielt mein Gesicht, musterte mich aus besorgten Augen. Sein Oberkörper war nackt. Er hatte Narben, viele Narben. »Kannst du mich hören ?«
Ich nickte. Dann schwemmten mich die wirbelnden Silberflecken hinweg.
Ich erwachte im Sonnenschein. Durch die großen Fenster um mich herum fiel warmes Licht herein, und hinter diesen Fenstern funkelte der See, als wäre heute nichts Schlimmes passiert. Der Wunsch, dass das wahr wäre, überwog beinahe meine Furcht vor der Frage, wo ich war. Davor, wen ich getötet hatte - und wie.
Oder wie ich es überlebt hatte.
Schmerzen plagten mich am ganzen Leib, als ich mich aufsetzte. Ich war in einem rundum verglasten Raum, lag auf einer weichen Liege neben einem Tisch, auf dem eine Vase mit leuchtend rosafarbenen Veilchen stand. Blaue Seide schmeichelte meinen Prellungen, und ich zupfte an einem Hemd, das viel zu groß für mich war. Wann hatte ich das letzte Mal Seide getragen?
»Endlich bist du wach.«
Ich schrie auf und hielt mich an der Liege fest. Jeatar stand in der Tür.
»Bleib mir vom Leib!«
Er reckte die Hände hoch, die Handflächen nach vorn gerichtet. »Nya, du bist in Sicherheit. Ich werde dir nichts tun.«
Ich hatte keine Waffen, nur die kleine Vase, die vermutlich nichts bewirken würde, sollte ich mit ihr nach ihm werfen. Vielleicht konnte ich mir einen Stuhl schnappen, aber die waren aus Schmiedeeisen und sahen aus, als wären sie schwerer als ich.
»Wo bin ich?«, fragte ich. Ich musste mir den Weg freiquatschen, obwohl das bei Jeatar noch nie funktioniert hatte.
»In Zertaniks Haus. Es war verlassen und nicht weit entfernt.«
Meine Erinnerung kehrte zurück. Sein Angebot, seine Drohungen, der Block. Der feine rote Nebel und die Haare. Der Raum kippte zur Seite.
»Ruhig. Tief durchatmen.« Plötzlich war Jeatar neben mir und hielt mich aufrecht.
»Ich habe sie umgebracht.«
»Wohl wahr.« Er sah so perplex aus, wie ich mich fühlte. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Der Flügel, in dem der Erhabene residierte, ist einfach ... auseinandergefallen. Das ganze Gebäude hat gebebt.« Sanft ließ er mich zurück auf die Liege gleiten. Dann ging er und schenkte mir ein Glas Wasser ein. »Was hast du getan?«, fragte er vorsichtig, als er mir das Glas reichte.
Ich wollte die Frage nicht beantworten. Ich wollte nicht einmal daran denken, obwohl die Wahrheit kreischend in meinem Kopf widerhallte. Ich trank, erkannte, dass auch er ein Hemd trug, das ihm zu groß war. Er hatte mir seines gegeben. Hatte mich angezogen. O ihr Heiligen! Er hatte mich nackt gesehen! Ich konnte ihn nicht ansehen. Meine Wangen glühten so heiß wie die Sonnenstrahlen, die durch die Fenster fielen. »Was hast du mit den Lehrlingen gemacht? Mit Tali und den anderen.«
»Ich habe sie gehen lassen. Der Mob war kurz abgelenkt, als Teile des Gebäudes plötzlich in die Luft geflogen sind, aber als sie die Lehrlinge gesehen und ihre Geschichte gehört haben, haben die Leute gleich wieder versucht, alles niederzubrennen. Die Soldaten des Generalgouverneurs haben den Mob schließlich unter Kontrolle gebracht, aber die Stimmung da draußen ist angespannt. Das wird eine unruhige Nacht werden.«
»Du hattest vor, sie zu töten. Die Lehrlinge.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich musste nur Zertanik und den Erhabenen überzeugen, dass ich das täte.«
»Warum?«
Er seufzte. »Um sie auf frischer Tat zu ertappen, wenn sie das taten, wozu ich sie im Verdacht hatte.«
»Den Block zu stehlen.«
Er schien überrascht zu sein. »Ja.«
»Wer bist du?«
»Ich arbeite für das herzogliche ...«
Ich sprang auf, schwankte, stürzte beinahe. »Lass mich hier raus! Sofort!«
»Nya, bitte, hör mir zu. Ich arbeite für ihn, aber ich bin nicht sein Handlanger. Ich arbeite als Ermittler für das Pynvium-Konsortium.«
Das Pynvium-Konsortium? Dieser Institution unterstanden die Pynvium-Minen, und die Techniker standen in ihren Diensten. Das Pynvioum-Konsortium besaß genug Macht, dass der Herzog es nicht riskieren würde, sich offen mit ihm anzulegen. »Das verstehe ich nicht.«
»Im ganzen Baseeri-Territorium ist Pynvium verschwunden. Schiffsladungen fielen kleiner aus als erwartet oder kamen gar nicht an. Der Mangel ist echt, aber ich glaube nicht, dass er auf einem Mangel an Rohstoff beruht. Jemand stiehlt es.«
»Zertanik und der Erhabene.«
»Das hatten wir vermutet, konnten es aber nicht beweisen. In der letzten Heilergilde, der der Erhabene angehört hat, ist es auch zu einem geheimnisvollen Mangel an Pynvium gekommen. Man hat es auf einen Buchungsfehler geschoben, aber das Konsortium war überzeugt, dass da etwas im Busch war. Als Zertanik dann sein Geschäft geschlossen hat und dem Erhabenen hierher gefolgt ist, bin ich ebenfalls hergekommen. Ich habe einen Posten bei Zertanik ergattert, um herauszufinden, was die beiden vorhatten.«
Ich stellte das Glas ab. »Und wie komme ich da rein?«
»Du warst...« Er stockte. »Eine Überraschung. Du hättest beinahe alles ruiniert.«
»Du hast mich entführt.«
»Das tut mir leid. Ich habe versucht, Zertanik die ganze Sache auszureden, als er nach dem Fährenunglück durch seine Spione in der Gilde von dir erfahren hat, aber er hat in dir eine Möglichkeit gesehen, noch mehr Geld zu scheffeln und sich den Weg aus Geveg freizukaufen.«
»Das Boot der Mustovos.«
Nun sah er wirklich überrascht aus. »Woher weißt du das?«
»Er wollte, dass ich ihren Sohn heile. Ich habe mich geweigert, und der Vater hat etwas von einem Boot gesagt. Und Kione hat gehört, wie der Erhabene gesagt hat, sie wollten da vonsegeln.« Ich zuckte mit den Schultern. »Es passt alles zusammen.«
»Zertanik sagte schon, du wärest viel klüger, als du aussiehst.«
Ich war nicht sicher, wie ich das auffassen sollte. »Und was hast du herausgefunden?«, fragte ich. Meine Knie zitterten so stark, dass Jeatar es vermutlich sehen konnte. Nicht, dass ich etwas gehabt hätte, um sie zu bedecken.
»Vermutlich das Gleiche wie du. Vinnot hat die Lehrlinge getestet, indem er sie mit Schmerz überladen hat. Das hat nichts mit dem Pynvium zu tun, aber es hat etwas mit dem Herzog zu tun.«
»Er ist auf der Suche nach anormalen Lösern.«
Jeatar erbleichte und sah ehrlich entsetzt aus. »Er ist was? Warum?«
»Das weiß ich wirklich nicht.« Was immer es war, er schien nicht gewollt zu haben, dass der Erhabene davon erfährt. Das deutete darauf hin, dass der Herzog weitreichendere Pläne hatte, als ich angenommen hatte. »Ich muss gehen«, sagte ich, obwohl ich mich kaum auf den Beinen halten konnte.
»Was hast du da oben gemacht, Nya?«
»Denkst du, in den Schränken gibt es irgendwelche Kleider, die mir passen?«
»Nya.«
»Ich bin sicher, Tali ist inzwischen krank vor Sorge. Womöglich denkt sie, ich wäre tot. Ich muss meine Schwester suchen.« O ihr Heiligen, wie oft hatte ich dergleichen in dieser Woche schon gesagt.
»Ich habe jemanden nach ihr geschickt, er braucht nur länger, als ich gedacht habe.«
»Das ist mir egal. Ich muss sie finden.«
»Ich weiß, aber ich kann dich jetzt nicht gehen lassen. Du bist da draußen nicht sicher.«
»Ich bin nirgends mehr sicher.«
Seufzend fuhr er mit beiden Händen durch sein Haar. »Lanelle hat den Leuten erzählt, du könntest Pynvium entladen«, sagte er in scharfem Ton. »Es gibt sogar Gerüchte, du könntest es leeren. Sie hat es jedem Gildeangehörigen auf die Nase gebunden, der bereit war, ihr zuzuhören.«
Meine Knie gaben nach, und ich fiel zurück auf die Liege.
»Ich habe sie mir geschnappt und ihr genug Angst gemacht, um sie für eine Weile zum Schweigen zu bringen, aber lange wird das nicht vorhalten. Dein Geheimnis ist keines mehr, Nya. Wenn der Herzog davon erfährt, dann hetzt er dir seine besten Greifer auf den Hals, selbst wenn nichts davon wahr ist.«
»Ich weiß.«
»Und ich bin nicht sicher, was das Konsortium tun würde.«
»Aber du arbeitest doch dafür.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich übernehme jede Arbeit, die sich anbietet.«
Ich schlug die Hände vor das Gesicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte nicht damit gerechnet, je wieder irgendetwas tun zu müssen.
»Nya«, sagte er sanft. »Was hast du im Amtszimmer des Erhabenen getan?«
Was hatte ich getan? Ich hatte zwei Männer getötet. Hatte genug Pynvium geblitzt, um einen ganzen Gebäudeflügel zu zerstören. Und es überlebt. O ihr Heiligen! Ich hatte es überlebt! »Ich kann dir das nicht erzählen. Das weißt du.«
Er starrte mich einen Moment lang schweigend an, dann nickte er. »Ja, ich nehme an, du hast recht«, sagte er listig. »Aber ich wüsste es wirklich gern.«
Es gab so viele Dinge, die ich gern gewusst hätte. Ich hob den Kopf. Es war noch nicht vorbei, sosehr ich es auch wünschte. »Weißt du, wer all diese Leute waren, in die ich vorher Schmerz transferiert habe? Der Fischer?«
Sichtlich überrascht starrte er mich mit offen stehendem Mund an. Dann nickte er. »Es gibt Aufzeichnungen darüber.«
»Hat Zertanik hier etwas von dem gestohlenen Pynvium?«
»Ja. Ich habe etwas gefunden, als du bewusstlos warst.«
»Ich brauche es. Und die Namen und Adressen der Leute, denen ich Schmerz gegeben habe. Ich will zu ihnen, sobald Tali hier ist.«
Zu seinen Gunsten sei gesagt, dass er sich nicht zierte. »Ich hole dir alles. Und ich sehe nach, ob ich etwas zum Anziehen für dich finde.«
»Danke.« Ich sollte ihm nicht trauen, aber ich wollte. Ich musste. Er hatte keinen Grund gehabt, meinen Namen geheim zu halten, aber er hatte es getan. Er hätte mich geradewegs zum Generalgouverneur bringen können, als ich bewusstlos war, aber er hatte mich hier versteckt.
Er brachte mir Kleidung und führte mich zu einem Waschraum, in dem ich mich umziehen konnte. Zertaniks Zuhause war ebenso opulent wie seine Geschäftsräume. Wie viel davon war gestohlen? Oder hatte er das alles mit gestohlenen Reichtümern gekauft?
Als ich mir gerade die Reste meines falschen Heilerzopfes aus dem Haar kämmte, drangen Stimmen durch die Tür herein. Fordernde Stimmen. Ich verließ den Waschraum und ging zurück in das verglaste Zimmer.
»... wissen, wo meine Schwester ist!«, brüllte Tali, als ich den Raum betrat. Aylin und Danello waren bei ihr, aber Soek konnte ich nirgends entdecken.
»Nya!« Tali rannte auf mich zu, und wieder einmal lagen wir alle uns lachend und weinend in den Armen. Jeatar beobachtete uns mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen. Er hob eine Hand, um sich am Nacken zu kratzen, woraufhin der zu weite Ärmel hochrutschte und eine lange Narbe auf der Innenseite seines Unterarms offenbarte.
Genau wie auf seiner Brust.
Die Erinnerung machte mich schaudern, und ich bemühte mich, ihn nicht mehr anzusehen. Ich arbeite für ihn, aber ich bin nicht sein Handlanger. Woher hatte er diese Narben. Hatte er sich den Baseeriblauen in den Weg gestellt und verloren, so wie wir ?
»Wo ist Soek?«, fragte ich. »Er ist doch nicht von Plünderern verletzt worden, oder?«
»Dem geht's gut«, sagte Aylin. »Er hat, wie versprochen, mein Zimmer bewacht. Der Generalgouverneur wollte alle Lehrlinge befragen und hat Soldaten geschickt. Soek ist mit ihnen gegangen und erzählt ihm jetzt, was der Erhabene getan hat.« Sie streckte eine Hand vor, als ich zu sprechen ansetzte. »Und, nein, er wird kein Wort über dich verlieren. Das hat er geschworen.«
»Was ist passiert, Nya?«, fragte Tali. »Du bist einfach verschwunden, als wir beinahe draußen waren. Dann ist Jeatar aufgetaucht, und wir dachten, jetzt wäre alles aus, aber stattdessen hat er uns geholfen und uns versteckt. Und dann war da dieser Lärm, und der Putz ist von der Decke gefallen. Es heißt, der Erhabene wäre tot!«
Ich verzog gepeinigt das Gesicht. »Ich habe jetzt keine Zeit, das zu erklären. Wir müssen ein paar Leute heilen.«
»Was für Leute?«
Ich zerrte Tali in Richtung Tür. Jeatar hatte einen Beutel neben ihr abgelegt.
»Danello, nimmst du bitte den Sack? Er ist voller Pynvium.«
»Pynvium?« Er sah verwirrt aus, schnappte sich den Sack aber wie gewünscht.
Jeatar reichte mir eine Liste. »Der Name des Fischers steht ganz oben.«
»Danke.« Ich schleifte Tali aus dem Zimmer und in Richtung Haupteingang. Danello und Aylin folgten uns, und beide stellten Fragen, die ich am liebsten ignoriert hätte.
»Ist der Erhabene wirklich tot?«, fragte Tali.
Ich stieß die Tür auf und blinzelte im Licht der Spätnachmittagssonne. Wie lange war ich bewusstlos gewesen? Mindestens ein paar Stunden. »Ja.«
»Wie ?«
Ich wollte es ihnen nicht erzählen, sollte es ihnen nicht erzählen. Es war sicherer für sie, es nicht zu wissen, aber ich hatte so viele Geheimnisse gehegt, so viele Lügen erzählt. Ich hatte genug davon.
»Sie haben gesagt, wenn ich ihnen nicht dabei helfe, den Block zu stehlen, töten sie dich und die anderen Lehrlinge.«
Das Keuchen um mich herum hatte nichts mit der Drohung zu tun, die Lehrlinge zu töten. Das war nichts Neues. Der geplante Diebstahl des Blocks schon. Ein Pynvium-Block voller Schmerz war beinahe genauso viel wert wie ein leerer Pynvium-Block.
Mein Blick streifte die Türme des Gildenhauses, die sich in der Ferne jenseits der Rauchfahnen abzeichneten. Der Rauch war nun nicht mehr so dicht, was, wie ich hoffte, ein Zeichen dafür war, dass die Brände in der Stadt unter Kontrolle waren. Über die Dächer hinweg konnte ich nicht viel vom Gildenhaus erkennen, aber es sah aus, als wäre ein ganzer Abschnitt einfach verschwunden, so als hätte etwas mit vielen Zähnen einen großen Bissen davon genommen.
»Nya?«, fragte Danello. »Was ist passiert?«
»Hm? Oh, sie wollten, dass ich sie leere, und danach wollten sie sie einschmelzen und zu kleineren Ziegeln formen, um diese anschließend verkaufen zu können.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Aylin. »Was hat das mit der Peinigung der Lehrlinge zu tun?«
»Nichts.«
»Nya«, sagte Tali, entriss mir ihre Hand, blieb auf der Stelle stehen und pflanzte beide Fäuste auf die Hüften. »Um der Liebe der Heiligen Saea willen, was ist los? Ich bewege mich um keinen Zoll mehr, solange du mir das nicht erklärt hast.«
Ich biss mir auf die Lippe. Es behagte mir nicht, aber ich nahm an, es war an der Zeit, ihnen alles zu erzählen. Wie ich zu dem Pynvium gekommen war. Was ich Zertanik und dem Erhabenen angetan hatte. Und vor allem die Wahrheit, der ich mich nicht stellen mochte.
Ich war immun gegen Pynviumentladungen.
»Also, Nya?«, fragte Tali.
Ich drehte mich um. Das würde nicht einfach werden.