Fünftes Kapitel
Warte«, rief ich Enzie hinterher, aber sie rannte bereits davon und tauchte in der grünen Masse der anderen Mündel unter. Zwei Mentoren trieben die Mündel zusammen, während einer auf mich zukam. Er gehörte nicht zu den alten Männern, vor denen ich hätte davonlaufen können. Ich humpelte davon, suchte Schutz in der Menschenmenge auf dem Gehweg, schlängelte mich zwischen fetten Flüchtlingen und hageren Tagelöhnern hindurch, stolperte über ein tapsiges Zweijähriges und wäre beinahe auf der Nase gelandet.
»Pass doch auf, du 'Veg!«, keifte die Mutter.
»Entschuldigung!« Was hatte ich getan? Die Seidenmänner waren doch hinter mir her, nicht hinter Tali! Und wie konnten sie Tali so einfach aus der Gilde entführen? Die Gilde hatte Wachleute mit Waffen aus Baseeri-Stahl, die sie schützen sollten. Aus dem Gildenhaus konnten Menschen nicht einfach so verschwinden.
Vada ist weg ... Sie ist diese Woche schon die Vierte von uns, die verschwunden ist.
Ich stolperte erneut, fing mich unter Zuhilfenahme eines Bauern ab, der einen Korb mit Bananen unter dem Arm hatte. Er musterte mich mürrisch und schüttelte meine Hand ab.
Lehrlinge der Gilde verschwanden einfach. Tali war der fünfte. Um der Liebe der Heiligen Saea willen, wie konnten in einer Woche fünf Lehrlinge verschwinden, ohne dass irgendjemand Alarm schlug? Mir stockte der Atem, und ich versteckte mich hinter einem Pfosten jenseits des Zauns, der das Gildegelände umgab, außer Sichtweite zweier Soldaten. Vielleicht hatten die Ältesten es ja gemerkt, konnten aber nichts tun. Der Herzog konnte sie zum Schweigen verdonnern, wenn er es wollte. Entführte er Gevegs Lehrlinge, um sie nach Verlatta zu schicken?
Oh, Tali!
Ich wagte einen Blick zurück. Der Mentor scheuchte gerade die letzten Mündel zurück ins Gebäude.
Spannung legte sich auf meinen Brustkorb, und ich verstand, wie sich eine Schilfratte fühlte, wenn sie gerade von einer Python zerdrückt wurde. Meine ganze Haut brannte erst glühend heiß, um gleich darauf eiskalt zu werden. Es war meine Schuld. Ich hatte den Seidenmann direkt zu Tali geführt. Er musste ihr von den Gärten aus gefolgt sein und sie gepackt haben, ehe sie das Gelände der Gilde erreichen konnte. Gestern Morgen war er sogar selbst im Gildenhaus gewesen! Vermutlich, um sich seine Opfer auszusuchen, um Lehrlinge ohne Familie herauszupicken, deren Entführung kaum Probleme aufwerfen dürfte.
»Wo bist du?«, murmelte ich und entfernte mich auf unsicheren Beinen von dem Zaun. Er musste in der Nähe sein - er war schon seit gestern in der Nähe und beobachtete mich.
Ich stand mitten auf der Brücke zwischen dem Gildenhaus und den Läden für den alltäglichen Bedarf, drehte mich langsam im Kreis und fasste jede Gebäudeecke ins Auge. Was machte es schon, ob die Soldaten mich sahen. Sie waren nicht diejenigen, die Löser entführten, das waren die Seidenmänner, und sollte ich einen von ihnen in die Finger kriegen, dann würde ich ihn dazu zwingen, mir zu erzählen, wo Tali war, oder ... Nun, ich hatte noch genug Schmerz in mir, um diesem »oder« ausreichend Gewicht zu verleihen.
Keine gelbe oder grüne Seide blitzte im Gestrüpp auf.
Oder an einer Gebäudeecke.
Oder an irgendeiner anderen Stelle in meinem Blickfeld.
Ich kletterte auf die Mauer, die die Brücke begrenzte. Unter mir rauschte graues Wasser vorüber, während auf der Brücke Leute nervösen Blickes an mir vorbeihasteten. Einer der Soldaten schaute in meine Richtung, stupste seinen Kameraden an und zeigte auf mich. Meine Muskeln ließen mich im Stich, und ich sackte auf das feuchte Pflaster. Glücklicherweise schauten die Soldaten bereits woandershin.
»Oh, Tali.« Ich musste sie finden, und die größte Chance dazu hatte ich, wenn ich den Seidenmann fand. Das alles hatte zu viel Logik, um purer Zufall zu sein. Er musste ein Greifer sein. Nur dass sie sich dieses Mal gleich auf die Heiler stürzten und alle anderen ignorierten.
Aylin! Vielleicht hatte sie ihn noch ein weiteres Mal gesehen. Alle Baseeris besuchten das Lusthaus. Sie waren die Einzigen, die sich dergleichen leisten konnten.
Ich sprang auf. In meiner Hüfte machte sich sengender Schmerz breit, schoss wie Tausende von Nadeln hinab zu meinen Zehen und hinauf in meinen Bauch. Dann, als der Schmerz wieder nachließ, humpelte ich in Richtung Lusthaus.
Aylin war dort, ganz in Blau mit langen Federn, die von ihrem Rock und ihren Ärmeln herabbaumelten. Ihr Haar war auf ihrem Kopf hoch aufgetürmt, nur ein paar lange Strähnen hatte sie herausgezupft, auf dass sie im Wind flatterten, während sie tanzte.
Sie lächelte, als ich mich näherte. »Hallo, Nya!«
»Tali ist verschwunden.« Tränen verschleierten mir den Blick, und ich wischte sie fort.
»Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht. Ich wollte sie heute besuchen, aber sie war nicht da. Enzie hat gesagt, sie sei weg und niemand wolle ihr sagen, wohin.« Ich wischte mir immer noch die Augen, aber es waren zu viele Tränen. Und nun lief auch noch meine Nase. Ich wechselte den Ärmel, um mein Gesicht zu trocknen.
»Vielleicht wurde sie zu einer Heilbehandlung bestellt.«
»Nein, da geht irgendwas vor. Irgendetwas Schlimmes. Hast du heute einen Mann in gelber und grüner Seide hier gesehen? Gestern war er hier, drüben beim Laden des Schmerzhändlers. Hast du ihn gesehen?«
Aylin blinzelte mich an, und ihre dunkelroten Lippen bildeten einen großen Kreis purer Verwirrung. »Was für einen Mann?«
Ich erzählte ihr von dem Seidenmann und davon, dass er mich beobachtete. Von den verschwundenen Lehrlingen, von Talis Sorge um Vada und von den Attentätern des Herzogs. Es hörte sich verrückt an, aber Aylin hatte das alles schon einmal erlebt, genau wie ich.
Sie fummelte an einem der beiden Perlenarmreife herum, die sie immer trug. »Du musst vorsichtig sein, Nya. Leute verfolgen andere Leute nicht einfach nur zum Spaß.«
»Das weiß ich, aber ich muss ihn finden.«
»Nein, musst du nicht. Du musst dafür sorgen, dass er dich nicht findet.« Sie schlang die Arme um den Leib, blickte auf und die Straße entlang. »Du hast keine Ahnung, was er will.«
»Er will Heiler, alles andere ergibt keinen Sinn. Er muss wissen, wo Tali ist. Ich werde ihn zwingen, es mir zu sagen, wenn es nicht anders geht.«
»Wenn er ein Greifer ist, kannst du ihn zu gar nichts zwingen.«
Ich konnte schon. Hastig klappte ich den Mund zu, ehe noch etwas Dummes herauspurzeln konnte. »Ich muss Tali finden, ganz gleich, wie.«
Sie zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern und starrte, die Stirn in Falten gelegt, die Lippen zusammengepresst, nach oben. »Bist du sicher, dass sie nicht zu einer Heilung gerufen wurde?«
»Das hätte man Enzie erzählt.«
»Nicht, wenn niemand davon wissen soll. Vielleicht musste sie eine wichtige Persönlichkeit heilen oder, was genauso geheim wäre, den Generalgouverneur.«
»Der hat seine eigenen Heiler aus Baseer. Und was ist mit den anderen verschwundenen Lehrlingen ?«
»Vielleicht redet niemand darüber. Vielleicht ist das alles geheim.«
»Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Hört sich für mich nicht sehr wahrscheinlich an.«
Sie legte mir die Hände auf die Schultern. »Keine Panik. Lass mich ein wenig rumfragen und sehen, was ich rausfinden kann. Vielleicht machst du dir ganz unnötige Sorgen.«
»Vielleicht.«
»Hör auf damit. Nichts von alldem ergibt einen Sinn, also müssen wir etwas übersehen. Ich kenne einen Wachmann vom Gildenhaus. Vielleicht weiß der was.« Sie wedelte mit einem Finger vor meiner Nase, ehe ich das Wort zum fünften Mal aussprechen konnte. »Er kann mich bestimmt irgendwie da reinbringen, dann kann ich ein bisschen herumfragen.«
»Kriegst du keine Schwierigkeiten, wenn du hier einfach abhaust?« So schwer es für mich war, Arbeit zu finden, für Aylin wäre es noch viel schwerer. Die Leute hatten nicht viel für Geveger übrig, die für einen Baseeri arbeiten; schlimmer noch, der Eigentümer des Lusthauses war der Bruder des Generalgouverneurs. Aylin tat, als kümmere sie das nicht, aber ich hatte den Ausdruck in ihren Augen gesehen, wenn die Leute sie beschimpften. Vermutlich wäre alles nicht so schlimm, wenn man sie drinnen arbeiten ließe, wo nur Baseeris sie sähen, auch wenn Aylin beharrlich behauptete, draußen sei es für sie sehr viel sicherer.
»Das ist kein Problem. Ich habe bald Mittagspause.«
»Sei vorsichtig.«
»Keine Sorge.« Sie umarmte mich, und ich roch einen Hauch von Jasmin. »Du bist diejenige, die vorsichtig sein muss. Wer auch immer dieser Mann ist, der dich verfolgt, er führt nichts Gutes im Schilde. Also lass dich nicht erwischen.«
»Aber ich muss mit ihm reden.«
»Nicht allein. Warte, bis ich zurück bin, dann suchen wir ihn zusammen.« Sie ergriff mein Gesicht mit beiden Händen. Ich spürte sie an meinen Wangen zittern. »Versprich es mir, Nya. Versprich mir, dass du vorsichtig bist.«
Ich nickte.
»Warte in dem Tempel am Leuchtturmweg auf mich. Dort dürftest du sicher sein.«
Daran zweifelte ich, aber es gäbe mir noch etwas Zeit unter freiem Himmel, die ich dazu nutzen konnte, nach dem Seidenmann Ausschau zu halten.
Unterwegs erhaschte ich ein Aufblitzen von Grün und Gelb, aber bis ich mich umgedreht hatte, um genauer hinzusehen, war es verschwunden. Ich ging langsamer, bemühte mich, das perfekte Opfer abzugeben. Doch niemand stürzte sich zwischen Aylins Tanzplatz und dem Tempel auf mich. Ich sah mich noch einmal nach Gelb-Grün um und schlüpfte dann hinein.
Nichts.
Meine Schritte hallten in der mit Marmor ausgelegten Halle wider, ein Geräusch, das mich nötigte, auf Zehenspitzen weiterzuschleichen. Die niedrige Decke hing drohend über mir und erinnerte mich daran, den Sieben Schwestern den gebührenden Respekt zu erweisen. Die Erbauer hatten gewusst, was sie taten, denn bis zu der Stelle, an der die Halle dem Kuppelsaal in der Mitte des Tempels wich, hätte ich nicht einmal dann mehr als ein Flüstern von mir geben mögen, hätte der Raum in Flammen gestanden.
Ich schritt über das geometrische Blumenmuster, das die Mitte des Raums zierte - sechs sich überlappende Kreise, überlagert von einem siebten im Zentrum. Die glasierten Fliesen funkelten sogar noch in dem trüben Licht, das durch die Bogenfenster hereindrang. Geschwungene Holzbänke führten strahlenförmig aus der Mitte heraus nach außen, jeweils zwei Reihen vor jeder der sieben Wandnischen, in denen Statuen der Sieben Schwestern standen, die den Betrachter mit leeren Augen anblickten.
Zur Linken kreuzte die Heilige Moed ihre beiden Schwerter über dem Kopf, obwohl sie nichts getan hatte, um Geveg gegen den Herzog zu verteidigen, als wir sie gebraucht hatten. Neben ihr lag eine Hand der Heiligen Vergeef in einem Korb voller Birnen, während die andere ausgestreckt war, als wolle sie eine Gabe überreichen. Ein grausames Bild, wenn so viele hungrig blieben. Die Heilige Erlice trug die blasierte Miene eines Wesens, das niemals log, nicht einmal, wenn es dazu gedient hätte, dass jemand sich besser fühlt.
Auf der rechten Seite sah es nicht viel besser aus. Die Heilige Vertroue rammte ihren Stab in den Marmorblock zu ihren Füßen, hielt ihn mit beiden Händen fest, um jedem die Stirn zu bieten, der versuchte, sie zu passieren. So viel zu ihrer Tapferkeit. Viele hatten sie passiert, und sie hatte nicht einmal ihren Stab von dem Stein gehoben, um sie aufzuhalten. Die Heilige Gedu lehnte geduldig in ihrer Nische, offenkundig nicht in Eile, irgendjemanden vor irgendetwas zu bewahren. Die Heilige Malwe lächelte bescheiden, die Lider halb geschlossen, die Augen niedergeschlagen, als brächte es sie in Verlegenheit, wenn Leute zu ihren Füßen kauerten, um sie anzubeten.
In der Mitte der sechs stand die Heilige Saea, die Hände geöffnet, als wolle sie Abbitte leisten. Die Mutter der Barmherzigkeit; die Großmama von »Tut mir leid, dass es so kommen musste«; die Heilige, welche die Menschen glauben ließ, dass es das nächste Mal ganz bestimmt anders kommen würde.
Bei allen Heiligen - dies war bei weitem der unheimlichste Ort in ganz Geveg. All diese leeren Augen, die dich beobachteten und über dich urteilten, obwohl sie selbst nichts getan hatten, als die Leute Hilfe gebraucht hatten. Ich konnte mich der Frage nicht entziehen, was sie wohl in mir sehen mochten.
Vor der Heiligen Saea suchte ich mir einen Platz zwischen einem alten Mann mit zu vielen Haaren in den Ohren und einer Kiste durchnässter Gebetsbücher. Schade, ein Gebet hätte ich jetzt brauchen können.
Also dachte ich mir eines aus.
Bitte, lass es Tali gut gehen. Bitte, mach, dass sie zu einer Heilbehandlung gegangen ist und im Schlafzimmer eines adligen Baseeris steht, der meint, er sei zu gut, zur Gilde zu gehen. Bitte, mach, dass ich wegen des Seidenmanns irre.
Hinter mir erklangen ungleichmäßige Schritte, und ich sah mich über die Schulter um. Keine Männer in Grün und Gelb, nur eine gebückte, verkrümmte alte Frau, die sich offenbar ebenfalls einbildete, die Heiligen würden sich für sie interessieren. Nicht dass ich es ihr missgönnte. Wenn sie sich überhaupt an ihre Fragen erinnern konnte, dann konnte sie genauso gut auch Antworten finden. Ich schloss die Augen, und die gemurmelten Worte anderer Menschen schwebten vorüber wie sanfte Erinnerungen daran, was ich gesagt hatte, als ich klein und Tali noch kleiner gewesen war.
Heilige Saea, Schwester des Mitgefühls, höre mein Gebet.
Aber mehr kam nicht. Ich seufzte und sprach mein Gebet aus meinem Herzen.
Segne mich mit der Weisheit, die ich brauche, um Tali zu finden. Führe mich zu diesem Seidenmann und gib, dass er ... dass er weiß, was ich wissen muss. Gib mir die Kraft, es aus ihm herauszupressen, sollte es nötig sein.
Ich verzog das Gesicht. Diese letzte Bitte hätte ich vielleicht besser an die Heilige Moed gerichtet.
Das marmorne Antlitz der Heiligen Saea starrte nur weiter über meinen Kopf hinweg und sorgte dafür, dass niemand den Raum zu geräuschvoll betrat. Schritte klangen auf und verklangen wieder.
Und sie starrte immer noch.
»Du hörst nie zu«, murmelte ich und trat vor, um die Statue dort zu treten, wo ihr Schienbein sein müsste. Der Tritt hinterließ einen grün-grauen Schlammfleck auf ihrer Marmorrobe.
Der haarige alte Mann räusperte sich abfällig und rutschte hastig auf der Bank weiter weg.
Ich ließ den Kopf hängen und vergrub die Hände in meinem zerzausten Haar. Warum hatte ich Aylin nur zur Gilde gehen lassen? Sie würde bestimmt nicht mehr herausfinden als Enzie, aber womöglich brachte sie sich zudem noch in Schwierigkeiten. Wenn schon die verschwundenen Lehrlinge niemanden kümmerten, dann würde auch gewiss niemandem eine verschwundene Tänzerin auffallen.
Mein Bauch sagte mir, dass es nur eine Person gab, die mir sagen konnte, wo Tali war, und wenn ich diesen gelb-grünen Schleicher nicht finden konnte, dann würde ich eben dafür sorgen, dass er mich fand. Er hatte mich bei Danellos Haus gesehen, an Aylins Ecke und vor meiner Mietswohnung. Ich würde einfach zwischen diesen drei Orten meine Kreise ziehen, bis er sein Gesicht zeigte.
Verlang, dass er verrät, wo Tali ist. Zwing ihn, dich zu ihr zu bringen.
Mehr Schritte, trippel-trappel. Und trappel ... und trappel ... als würden plötzlich alle den Saal verlassen.
Ich hob den Kopf und maß die Heilige Saea finsteren Blickes, da sie so eine saumäßig schlechte Arbeit leistete, wenn es darum ging, für Ruhe im Heiligtum zu sorgen.
Jemand setzte sich neben mir auf die Bank. Gelb und Grün flackerte in meinem Augenwinkel auf.
O ihr Heiligen! Anscheinend hört ihr ja doch zu ...
Es war der zweite Seidenmann, der von letzter Nacht. Aus der Nähe sah er sogar noch schmucker aus. Sein schwarzes Haar bildete einen auffallenden Kontrast zu der farbenfrohen Gewandung. Geplättete Seide noch dazu und makellos trotz des Regens und all der schlammigen Pfützen.
»Bist du Merlaina?«, fragte er.
Für einen Moment konnte ich nur verwirrt blinzeln. Oh! Merlaina, das war der Name, den ich gestern Morgen dem Ältesten genannt hatte. Also wussten sie, obwohl sie mich gefunden hatten, nicht, wer ich wirklich war. Meine Muskeln protestierten heftig, als ich mich auf ihn stürzte und eine Hand voll perfekter Seide umklammerte.
Ich schubste ihn, sodass sein Oberkörper auf die Bank kippte. »Wo ist meine Schwester?«
»Was? Ich weiß es nicht - runter von mir.«
Schockiertes Keuchen und sorgenvolle Rufe erstickten die hallenden Schritte, als die wenigen verbliebenen Leute vor unserem Handgemenge flohen. Ich musste mich mit meiner Drohung beeilen. Irgendjemand würde bald wieder ausreichend zu Verstand kommen, um eine Patrouille zu suchen.
»Sag mir, wo sie ist!«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Nun schubste er mich, hob mich im nächsten Moment wie einen Sack Kaffeebohnen von der Bank hoch. Gleich darauf umfasste er meine Arme mit festem Griff, und mir traten die Tränen in die Augen. »Ruhig, Mädchen.«
Er lockerte seinen Griff. Ich wand mich und packte sein nun doch in Unordnung geratenes Seidenhemd. Dieses Mal ergriff er meine Handgelenke, aber ich konnte zwei Finger unter seinen Ärmel schieben, und ich fühlte Haut. »Sag mir, wo sie ist, oder ...«
Einen Herzschlag lang hielt er inne, doch dann richtete er die Augen gen Himmel und seufzte. »Hör auf, Ärger zu machen, und komm – aarrhhcck!«, schrie er und brach zusammen, als ich auch noch den letzten Rest meines Schmerzes in ihn drückte. Er ließ mich los, hielt sich die Hüfte, hielt sich die Rippen, rieb sich den Kopf.
»Wo ist sie?«
Ich hörte ein leises Lachen aus dem Eingangsbereich. Ruckartig riss ich den Kopf herum, als auch schon Seidenmann Nummer eins hereinschlenderte. Heute trug er Rot. Kein Wunder, dass ich ihn nicht hatte finden können. »Immer mit der Ruhe, Merlaina«, sagte er und hielt eine Bankreihe Abstand.
Ich wich zurück und prallte gegen die Heilige Saea. Ihre ausgestreckte Hand passte wunderbar auf meine Schulter.
»Du bist in Sicherheit. Du brauchst nicht wegzulaufen.«
Als könnte ich irgendwohin, wenn mich doch eine Heilige festhielt. »Wo ist meine Schwester?«
»Ich weiß es nicht.«
»Lügner!«
Seidenmann zwei richtete sich stöhnend auf. Sein Gesicht war vor Schmerz ganz bleich und schweißnass. »Hast du gesehen, was diese 'Veg mit mir gemacht hat?«
»Schweig, Morell. Ich habe dir gesagt, dass sie gefährlich sein könnte.« Seidenmann eins lächelte, aber ich konnte nicht erkennen, ob das ein Zeichen des Humors oder der Geringschätzung war.
»Du bist ein Esel, Jeatar.«
Seidenmann eins lachte, aber zumindest wusste ich nun, dass jeder der beiden einen Namen hatte. In den Gutenachtgeschichten, die Mama uns immer vorgelesen hatte, verliehen Namen Macht über Dinge. Davon konnte ich ganz sicher ein bisschen brauchen.
»Wir haben kein Interesse an deiner Schwester«, sagte Jeatar. »Nur an dir.«
Mein hitziger Zorn kühlte sich ab. Wenn sie Tali nicht hatten, wer dann?
»Jetzt sei ruhig und komm mit uns, ehe die Patrouille eintrifft und die Soldaten herausfinden, wozu du fähig bist. Ich bin überzeugt, der Generalgouverneur und die Gilde wären überaus interessiert.«
Das mochte eine leere Drohung gewesen sein, aber Morell sah aus, als wäre er begierig, es mir heimzuzahlen. War bestimmt keine gute Idee, ihn auf die Probe zu stellen, auch wenn er es gerade ziemlich schwer hatte, wieder auf die Beine zu kommen.
Trotz meines Zitterns versetzte ich der Heiligen Saea mit dem Ellbogen einen Stoß in ihren kalten Marmorbauch. Das war dumm, aber irgendwie schien es mir, als wäre alles ihre Schuld.