Achtzehntes Kapitel

Sich mit der Menge treiben zu lassen war erheblich einfacher, als gegen sie anzukämpfen, und so schafften wir es mit wesentlich weniger Aufwand zum Gildenhaus zurück. Die meisten Leute drängelten sich auf dem vorderen Hof vor dem Haupttor, womit der Seitenweig zu den hinteren Gärten frei war. Wir kauerten uns hinter die allzu vertrauten Hibiskusbüsche in der Nähe des seitlichen Tors, das selten von jemand anderem als den Lehrlingen und Mitarbeitern der Gilde benutzt wurde. Wenn das so weiterging, konnte ich mir bald eine Pritsche in diesem Gebüsch aufstellen und hier einziehen. Wachen patrouillierten durch die Außenhöfe und standen vor allen Toren, während die Soldaten des Generalgouverneurs die wütende Meute auf dem Gildeplatz herumschubsten. Mehr als nur ein paar konterten in gleicher Manier.

»Also, wie kommen wir da rein?«, flüsterte Danello an meinem Ohr.

Eine Gänsehaut überzog meine Arme. »So unauffällig wie möglich.«

»Gibt es so was wie eine Hintertür?«, fragte Aylin und deutete mit dem Kopf über die Schulter.

»Mehrere, aber bisher haben alle öffentlichen Zugänge so ausgesehen, als würden sie gut bewacht. Kione, denkst du, du kannst uns an denen vorbeibringen? Haben irgendwelche Freunde von dir Dienst ?«

»Ich kenne ein paar Leute, die immer am Südtor arbeiten.«

Das Tor in Richtung der hinteren Docks am Hauptkanal. Dort war nicht damit zu rechnen, dass eine Menschenmenge versuchte, sich hineinzudrängen, es sei denn, sie wären mit Gondeln gekommen. »Gut, dann tun wir so, als wären wir Lehrlinge, und Kione und Danello können vorgeben, sie würden uns zu unserem Schutz begleiten. Sie können sagen, wir wären wegen Heilbehandlungen unterwegs gewesen oder so was. Wir gehen rein und schleichen uns in den Spitzturm.«

»Aber wir tragen keine Uniformen«, wandte Tali ein. Die waren, als wir sie zuletzt getragen hatten, zu zerfetzt und schmutzig gewesen, um für uns noch von irgendeinen Nutzen zu sein.

»Kione schon. Vielleicht verschafft uns das genug Glaubwürdigkeit. Und wir haben immer noch unsere Zöpfe.«

Ihre zweifelnde Miene verriet, dass sie daran nicht richtig glaubte, aber wir hatten auch keine große Wahl. Wenn sie nicht darauf reinfielen, dann war's das wohl. Ein Kampf würde nicht nur weitere Wachleute herbeilocken, sondern auch die Soldaten des Generalgouverneurs.

Wir krochen durch die Gärten zur Südseite. Zwei Wachen standen neben dem Tor, die mir beide fremd waren. Aber ich erkannte den Mann, der neben ihnen stand. Jeatar! Was hatte er hier zu suchen? Er sprach mit den Wachen, gestikulierte, schien Befehle zu erteilen, deren Zweck ich mir inzwischen vorstellen konnte. Passt auf, beobachtet die Umgebung, lasst niemanden durch.

Kiones farbenfrohe Flüche waren exakt das, was meine trockene Kehle nicht hergeben wollte. »Das sind nicht meine Freunde«, flüsterte er.

Meine auch nicht, obwohl ich mir in Jeatars Fall nicht absolut sicher war.

»Sollen wir angreifen?« Danello rückte näher. Ich legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn zurückzuhalten.

»Ich will ihnen nicht wehtun«, sagte Tali. »Der Kleinere erzählt mir jedes Mal einen Witz, wenn ich ihn sehe.«

Aylin winkte mir zu. »Nya, wie wär's, wenn wir es auf dem gleichen Weg versuchen, wie ihr rausgekommen seid?«

Wir alle blickten nach oben.

»Übers Dach?«

Kione schüttelte den Kopf. »Du bist genauso verrückt wie sie.«

»Was hast du denn?« Tali lächelte ihn tatsächlich an. »Ist Lanelle das nicht wert?«

Ich hätte sie umarmen können.

»Doch«, grummelte er.

»Gut, neuer Plan«, sagte ich. »Wir gehen um die Gartenmauer herum und rauf aufs Dach. Mit etwas Glück sind dort keine Wachen.« Und mit etwas Glück würde Jeatar uns nicht sehen.

»Und wenn doch welche da sind?«

Hatten Mama und Papa auch solche Angst empfunden, als sie das erste Mal den Soldaten des Herzogs gegenübergestanden hatten? »Dann schalten wir sie aus. Leise.«

Wir ließen den Schutz der Hecke hinter uns und schlichen an der von Ranken bewachsenen Wand entlang, hielten uns, wann immer wir konnten, hinter Bäumen und Sträuchern. Zum ersten Mal war ich dankbar dafür, dass die Gilde so hohe Honorare für Heilbehandlungen erhob; anderenfalls hätten sie nie genug Geld gehabt, es für diese vielen Gärten zu vergeuden.

In dem Bereich, in dem Soek und ich die Wachen angegriffen hatten, war niemand zu sehen, aber mindestens eine Patrouille umkreiste regelmäßig das Gelände. Vermutlich mehr, nun, da es zu einem Aufstand gekommen war und der Mob vor der Tür stand.

»Danello zuerst«, sagte ich. Kione trat vor und verschränkte die Hände. Danello trat in seine Hände, und Kione beförderte ihn hinauf zum Dach. Dort hing er ein paar Sekunden mit herabbaumelnden Beinen, ehe er sich über die Dachkante hinaufgezogen hatte. Einen Herzschlag später tauchte sein Kopf wieder auf, und er streckte die Hand aus.

»Jetzt Tali.«

Danello zog sie mit Leichtigkeit herauf. Dann zog er Aylin über die Kante. Kione winkte mir zu hinaufzuklettern.

»Ich gehe als Letzter«, sagte er und sah sich in beide Richtungen nach Patrouillen um. Aber vielleicht wollte er auch nur nachsehen, ob er freie Bahn hatte, um davonzulaufen, wenn ich ihm erst den Rücken zugekehrt hatte. Trotz seines Wunsches, Lanelle zu retten, war ich nicht überzeugt, dass er bereit war, irgendetwas für sie zu riskieren.

Er schob mich hinauf, und ich ergriff Danellos Hand mit meinen beiden Händen. Mein Knie verfing sich in meinem Rock, und ich baumelte herab wie Knoblauch am Fenster. Danello ächzte vor Anstrengung, ließ aber nicht los. Kione half von unten nach, und Danello zog mich über die Dachkante.

Ich grinste. »Schritt eins erl...«

»Pst!« Er legte mir eine Hand über den Mund und drückte mich flach auf das Dach. »Patrouille.«

»Kione«, murmelte ich unter seiner Hand.

»Hat sich versteckt.«

Stimmen tönten von unten herauf. »... etwas gehört. Wie ein Kratzen.«

»Der Wind ist heute ziemlich böig. Waren bestimmt nur Zweige.«

»Hat sich nicht nach Zweigen angehört.«

Schritte. Ich wagte nicht zu atmen. Danello offenbar auch nicht, denn ich konnte keinen warmen Lufthauch an meinem Nacken spüren. Es hörte sich an, als wären die Wachen direkt unter uns, und - o ihr Heiligen! Ein Zipfel meines Rocks hing über die Dachkante herab, der geradezu schrie: »Hier sind wir.«

Ich deutete mit dem Kopf in die Richtung. Danello starrte mich an, blickte dann in die richtige Richtung, und seine Augen weiteten sich.

»Ich glaube, es war hier drüben.« Die Stimme klang jetzt leiser, als ertöne sie weiter vom Gebäude entfernt. Hatten sie Kione entdeckt?

Danello streckte eine Hand nach meinem Rock aus und zog ihn Zoll für Zoll mit den Fingern auf das Dach.

»Das Gras ist niedergetrampelt, und schau - abgebrochene Zweige.«

»Sollen wir den Hauptmann informieren?«

Der Saum meines Rocks flog über die Dachkante und außer Sichtweite.

»Ja, wir - hast du das gesehen?«

Danello ergriff mein Bein, unten, nahe dem Knie. Beide waren nur wenige Zoll von der Dachkante entfernt.

»Was gesehen?«

»Da ist etwas auf dem Dach herumgeflattert. Hilf mir mal.«

Knarrendes Holz, dann ein Ächzen. Trugen die etwa eine Bank hierher? Danello rollte sich langsam von mir weg, weiter das Dach hinauf. Tali wich zurück. Eine Schindel klapperte. Kleine Steinchen lösten sich unter ihrem Fuß. Ich streckte den Arm aus und hielt sie auf, ehe sie zu weit rollen konnten.

Was nur eine Bank sein konnte, knallte unten zu Boden. Dann wieder Knarren. Mein Blick flog an der Dachkante entlang und traf plötzlich auf fremde Augen, keinen Fuß weit von meinem Gesicht entfernt.

»He ...«

Danello beugte sich über mich und zog dem Wachmann das Heft seines Rapiers über den Schädel. Aufstöhnend zuckte er zurück und fiel, dem überraschten Aufschrei nach zu urteilen, direkt auf seinen Kameraden.

»Rauf! Rauf!« Ich stemmte mich gegen Danellos Brustkorb, als er sich gerade von mir herunterrollte. Er ergriff meine Hand und zerrte mich neben sich auf die Beine.

Der Ausruf einer unbekannten Stimme, und Kiones Kopf tauchte an der Dachkante auf.

»Hilf ihm!«

»Nicht jetzt. Ich muss erst diese Burschen verstecken, ehe jemand sie findet.« Er sprang wieder hinunter. Nach ein paar quälend langen Minuten tauchte er wieder auf.

»Ich habe sie gefesselt und unter einem Gebüsch auf der anderen Seite abgelegt. Lasst mich noch die Bank wegbringen. Dann könnt ihr mir raufhelfen.«

Ich nickte. Mein Herz raste. Eine bewusstlose und gefesselte Vierlitzerin zu verstecken hatte mir nicht viel geholfen, aber vielleicht war Kione besser als ich. Immerhin musste er als Wachmann ein wenig über derartige Dinge gelernt haben.

Kione sprang, und Danello und ich packten je eine seiner Hände und zogen ihn hoch.

Aylin stemmte sich auf die Beine. »Wohin?«, fragte sie und tat einen vorsichtigen Schritt auf der Dachfläche.

»Da rüber.« Ich ergriff Talis Hand und hastete über die Schindeln hinauf, so schnell es mir nur möglich war, ohne auszurutschen. Die Dachschräge wurde flacher, und wir erreichten eine eingesunkene Ecke zwischen einer Wand auf einer Seite und einem Fenster auf der anderen. Der Raum hinter dem Fenster sah aus wie ein Studierzimmer, vermutlich ein Teil eines der weiter oben gelegenen Schulungstrakte.

»Denkst du, du könntest mit dem Rapier ...«

Danello schlug mit dem Heft an die Scheibe. Glas brach, und die Splitter klimperten auf den Schindeln wie winzige Glöckchen.

Er grinste verlegen. »Eigentlich wollte ich nicht so viel Lärm machen.«

»Bereitet euch darauf vor, dass noch mehr Wachen auftauchen.« Ich schob die Hand durch die scharfkantige Öffnung im Glas und entriegelte das Fenster. Knarrend öffnete es sich, und der Rahmen schrammte über die Scherben.

Danello hielt mich an der Schulter fest, als ich hineinklettern wollte. »Ich zuerst.« Er sprang hinein, das Rapier kampfbereit in der Hand. Kione folgte ihm mit düsterer Miene. Einige angespannte Herzschläge später lehnte er sich zu uns heraus und sagte: »Alles ruhig.«

Ich nahm seine ausgestreckte Hand und schlüpfte hinein. »Tali, wo sind wir?«

»Im oberen Lehrtrakt in der Nähe des Hauptkrankensaals.«

»Können wir den Spitzturm von hier aus erreichen?«

»Am Ende des Flurs müsste es eine Treppe geben.«

Danello übernahm die Führung. »Bleibt hinter mir.«

Ich folgte ihm den Gang hinunter. Kione bildete den Abschluss.

Alle Türen auf diesem Flur standen offen, und die leeren Räume und unbenutzten Betten machten mich schaudern. Dort sollten Leute liegen, und Heiler und Lehrlinge sollten eilfertig ihre Visite machen.

Tali zeigte voraus. »Dort entlang.«

Der Flur endete an einem innen gelegenen Atrium über dem Haupteingang. An der Außenwand führte über dem Hauptvorraum ein Galeriegang entlang, an dessen Ende auf der gegenüber liegenden Seite eine Treppe zu erkennen war. Zwischen uns und dem unter uns gelegenen Innenhof war nur ein zierliches Geländer. Als wir jünger gewesen waren, hatten Tali und ich, wenn wir auf Großmama gewartet hatten, gern hier gesessen, die Beine baumeln lassen, die Gesichter an das Geländer gedrückt und zugesehen, wie die Leute das Gebäude betraten oder verließen.

So dicht wie nur möglich an die Wand gedrängt, folgten wir Tali. Sie umrundete den Raum und hielt auf die Treppe auf der anderen Seite zu. Ich war ziemlich sicher, dass die privaten Behandlungszimmer, in denen ich die Vierlitzerin zurückgelassen hatte, jenseits der Treppe lagen, also musste sie zum Turm hinaufführen. Wir waren beinahe dort.

Wir schlichen die Stufen hinauf, huschten um die Mauerecke herum und schlichen auf Zehenspitzen um die letzten paar Ecken zu dem Turmzimmer. Ich lugte um einen dicken Pfeiler herum, der sich aus der Mauer hervorwölbte. Zwei Wachen flankierten die Tür. Eine mehr als üblich, aber nicht so viele, wie ich befürchtet hatte.

»Denkt ihr, drinnen sind noch mehr?«, flüsterte Danello.

»Jemand muss da drin sein.« Ich versuchte, nicht an Vinnot zu denken, aber vermutlich war er da und überprüfte die Symptome, als würde er einen Einkaufszettel schreiben.

Kione rückte näher heran. »Sollen wir sie hierher locken?«

Ich legte den Kopf schief und lauschte auf Wachen. Abgesehen von dem Gebrüll außerhalb des Gebäudes war alles still.

»Wir stürzen uns auf sie«, schlug Danello vor, »schalten sie aus, zerren sie hierher und fangen an zu schreien. Falls da drin noch andere sind, könnten wir sie so dazu bringen, rauszukommen, damit wir uns hier mit ihnen befassen können.«

Kione nickte. »Ich nehme den Linken.«

»Gut.«

Ich wollte gerade sagen, ich werde sie einfach vollblitzen, aber Danello stürmte los wie ein wütendes Krokodil. Kione rannte hinter ihm her, pumpte seine Arme auf und nahm die Schultern herab. Einen gesegneten Augenblick lang standen die Wachen wie erstarrt da, ehe sie zu ihren Schwertern griffen. Danello prallte geradewegs gegen den Rechten. Kione traf den Linken. Knochen krachten, Köpfe knallten zusammen, und beide Wachmänner donnerten gegen die Wand. Schwerter flogen durch die Luft und landeten auf dem Boden, klirrten dabei laut genug, dass sich das Geräusch durch den Korridor fortpflanzte.

Die Tür des Turmzimmers öffnete sich, und zwei Männer flitzten heraus. Den vielen Schlingen auf ihrer Schulter nach zu urteilen von hohem Rang. Sie hielten inne, um sich ein Bild von dem Kampfgeschehen zu machen, und rannten dann auf uns zu, die Hände vorgereckt, als wollten sie uns ergreifen. Aylin tat einen Schritt nach vorn und versetzte einem von ihnen einen Tritt in die Genitalien. Er klappte keuchend zusammen und krümmte sich am Boden, beide Hände schützend zwischen den Beinen. Damit blieb für uns nur noch der andere Mann.

»Auf ihn!«, rief ich Tali zu und stürmte vor. Sie hielt mit, und wir rammten ihn zu zweit auf Brusthöhe. Er keuchte, stolperte, fiel auf die Knie und packte meinen Arm, als auch wir stürzten, woraufhin ich unter ihm landete. Ich zappelte und trat um mich, und wieder verfingen sich meine Beine in dem blöden Rock.

»Hilfe!«

Tali prügelte mit den Fäusten auf seinen Rücken ein, aber er schien es gar nicht zu merken. Plötzlich war Danello da, packte die Schulter des Litzenträgers und schleuderte ihn an die Wand, doch schon kam ein dritter Wachmann aus dem Turmzimmer gelaufen.

»Hinter dir!«, schrie ich.

Danello drehte sich um und keuchte auf. Er stolperte, hielt sich die Körpermitte, und rote Flecken breiteten sich hinter seinen Fingern aus. Der dritte Wachmann kam näher. In der Hand hielt er sein Schwert, das mit Blut verschmiert war.

Danellos Blut.