Sechzehntes Kapitel
Nya!«
»Hier drüben!« Ich wedelte mit den Armen, konnte aber nicht erkennen, woher die Stimme gekommen war, die nach mir gerufen hatte, oder wessen Stimme es war. Der Mob schob mich immer weiter voran, stieß mich hin und her, während die Leute sich gegenseitig anrempelten.
Es war wie bei den ersten Hungerunruhen nach Kriegsende, als uns im Zuge der Belagerung nur das an Vorräten geblieben war, was wir auf der Hauptinsel gelagert hatten. Als der Herzog die Herrschaft über unsere Bauerninseln und die Moorhöfe übernommen hatte und uns eingekesselt hatte, damit wir uns untereinander um das Essen streiten sollten, statt weiter gegen ihn zu kämpfen. In der Anfangszeit der Besatzung, als er uns knapp gehalten und uns um Nahrung von unseren eigenen Ländereien hatte betteln lassen, war es zu weiteren Aufständen gekommen.
Erinnerungen blitzten in meinem Kopf auf, als anonyme Füße mir auf die Zehen trampelten und gegen meine Schienbeine traten. Dutzende von Leuten waren bei jedem dieser Aufstände totgetrampelt worden, und damals waren die Aufständischen verzweifelt und vom Hunger geschwächt gewesen. Dieser Mob war wütend. Und er war stark.
Danellos Kopf tauchte rechts von mir in der Menge auf.
»Danello!«
Er sah mich, und unsere Blicke trafen sich. Er rief etwas, das ich nicht hören konnte, und kämpfte darum, an den Männern vorbeizukommen, die versuchten, die Plattform niederzureißen. Wieder wogte die Meute voran, und ich stolperte noch weiter von ihm weg. Danello verschwand wieder in der Menge. Für einen wahnsinnigen Augenblick war mir, als würde ich ihn nie wiedersehen, aber er musste immer noch irgendwo hinter mir im Gedränge sein.
Ein Mann stürzte gegen mich, und sein Ellbogen bohrte sich in meinen Bauch. Ich keuchte, krümmte mich zusammen, schnappte nach Luft. Eine andere Person stieß von hinten mit mir zusammen, und ich stolperte zur Seite. Ich prallte von der Menge ab, ruderte mit den Armen, versuchte, irgendetwas zu greifen, um einen Sturz zu vermeiden. Bilder von zertrampelten Leichen blitzten hinter meinen Augen auf. Ich fiel auf ein Knie, und Schmerz raste durch mein Bein. Mein zweiter Fuß fand keinen Halt mehr. Ich stürzte.
Eine Hand schoss zwischen breiten Rücken hervor und packte meinen Arm. »Hab dich!«
»Aylin!« Ich schluchzte, als Aylin mich wieder auf die Beine zerrte. Jemand stolperte über mich, und ich stürzte erneut, aber dieses Mal fing sie meinen Sturz ab und hielt mich aufrecht.
»Ich bin so froh, dich zu sehen«, schrie ich, während ich gegen die Menschenmenge kämpfte.
»Ich auch. Ich dachte schon, wir hätten dich verloren. Halt dich fest und komm mit.«
Sie hielt meine Hand mit festem Griff und drängte sich gegen den wogenden Mob, krümmte sich, duckte sich, nutzte ihre tänzerische Grazie, um hindurchzukommen. Eine Hand streckte sie vor sich, schob hier eine Schulter und da einen Ellbogen zur Seite und dirigierte die Massen um uns herum. Wenn einer nicht reagierte, fand sie eine empfindliche Stelle, um ihn zu zwicken.
Ich wollte den Kopf über die Massen recken, um nach Tali Ausschau zu halten, aber ich fürchtete zu sehr, ich könnte das Band zerreißen, das Aylin irgendwie zwischen uns gespannt hatte.
»Hab sie«, sagte Aylin und zerrte mich voran, drängte mich gegen den äußeren Zaun des Gildegeländes. Danello, Tali und Soek standen dicht an den Zaun gedrängt, durch einen dicken Pfeiler und das Tor vor der Menge geschützt.
Tali zog mich an sich und nahm mich fest in die Arme. Ihr Gesicht war dreckverschmiert.
Aylin drängte sich nahe genug an uns, um die Menge zu übertönen. »Mein Zimmer ist von hier aus am nächsten. Denkt ihr, wir schaffen es bis dahin?«
Wir alle nickten. Aylin schnappte sich Danellos Hand und schlängelte sich zurück in die Menge, die um den Pfeiler herumströmte. Danello nahm meine Hand, ich Talis, und sie ergriff die von Soek. Wir ballten uns zusammen wie eine Art Schlachtformation. Wir kämpften, um einen Weg durch die Menge zu finden, aber die Leute strömten immer noch auf uns zu, versuchten, zur Gilde zu gelangen. Danello bekam einen Ellbogen ins Auge, und jemand rempelte Aylin so heftig an, dass sie gegen ihn prallte und beide beinahe zu Boden gegangen wären.
Dort, wo der Eingang zum Gildegelände einen Engpass bildete, war das Gedränge noch schlimmer. Mehr und mehr Leute drängten herbei, und niemand war bereit, zur Seite zu treten, um fünf Leute passieren zu lassen. Die meisten brüllten etwas darüber, dass der Herzog uns unsere Heiler raube, uns belüge, wie er es immer getan hatte.
»Macht euch bereit durchzustoßen. Mit aller Kraft«, rief Aylin uns zu, kurz bevor ein gellender Schrei die Luft zerriss. Erschrocken hielten die Menschen inne, Köpfe drehten sich. Aylin schrie noch einmal und riss uns mit sich, jagte mitten hinein in eine kleine Lücke, die sich in der nunmehr erstarrten Menge aufgetan hatte.
Rannte wirklich jeder in Geveg zur Gilde, um herumzubrüllen und zu kämpfen? Was hofften sie nur damit zu erreichen? Zorn würde die Heiler nicht zurückbringen. Zorn würde lediglich den Herzog auf den Plan rufen.
»Ich kann nicht glauben, dass sie tot sind.« Tali war die Erste, die die Worte flüsterte, aber wir alle dachten das Gleiche.
Soek nickte bedächtig. »Wir sind gerade noch rechtzeitig rausgekommen.«
Waren wir das? Sie hatten über die Krankheit gelogen, was, wenn sie auch jetzt logen? Nicht alle Lehrlinge waren dem Tode nahe gewesen. Lanelle gewiss nicht, wenn sie auch möglicherweise nicht zu den kranken Heilerinnen gerechnet wurde.
»Was, wenn sie sie umgebracht haben?«, fragte ich, wenngleich ich es nicht glauben wollte.
Aylin schlang die Arme um den Oberkörper, rieb sich nervös die Oberarme. »Ich glaube, imstande dazu wären sie, aber der Aufwand ...« Sie schüttelte den Kopf. »Wäre es nicht viel einfacher für sie, mehr Pynvium zu beschaffen, statt so viele Leute umzubringen? Wo wollen sie überhaupt die ganzen Leichen unterbringen?«
Soek nickte. »Sie hat recht, es hätte mehr als eine Stunde gedauert, um das alles zu schaffen. So viel Zeit hatten sie nicht.«
Danello stupste mich an und zeigte auf die Straße, vorbei an der wachsenden Menschenmenge. »Die Soldaten rücken an.«
Die Soldaten des Generalgouverneurs bahnten sich ihren Weg durch die Masse, und ihre blauen Uniformen wirkten schmuck und strahlend an einem Tag, der das alles nicht war. Wie viele von ihnen erinnerten sich an die Aufstände während des zweiten Jahres der Besatzung, als wir versucht hatten, zu rebellieren, versucht hatten, unsere Unabhängigkeit zurückzugewinnen, trotz der Soldaten, die unsere Straßen beherrschten? Die Zeit, als wir versucht hatten, den Generalgouverneur umzubringen.
»Das wird übel«, sagte Aylin. An ihrem Gesichtsausdruck war abzulesen, dass sie sich ebenso wie ich an diese Aufstände erinnerte. Und an die Schiffe voller neuer Soldaten, die der Herzog geschickt hatte, um sie niederzuschlagen. »Wir gehen besser zu mir.«
»Ja, machen wir, dass wir wegkommen.«
Ich klammerte mich fest an Talis Hand, als wir weiterhasteten, und fragte mich, wie lange es dauern würde, bis der Herzog wieder Soldaten schicken würde, um uns zu unterwerfen. Und ob einer von uns überleben würde.
Aylin gab mir ihr letztes Kleid, und ich ging zum Waschraum und entledigte mich der schmutzigen und zerrissenen Uniform. Als ich zurückkam, saßen Danello und Soek rechts und links neben der Tür und Tali am Fenster. Zu fünft hatten wir hier drin kaum genug Platz, uns zu rühren.
»Wie sieht es draußen aus?«, fragte ich Tali. Sie sah vom Fenster aus zu, wie Aylin unsere Schnittwunden und Kratzer mit einer süß riechenden Salbe behandelte. Aylin wirkte dabei in Anbetracht der vielen Heiler im Raum etwas verlegen, aber das schien niemanden zu kümmern.
Tali drehte sich um und schaute zum Fenster hinaus. »Der Rauch in der Umgebung der Gilde wird dichter. Ich glaube, auf einem der Marktplätze brennt es. Draußen rennen Leute und Soldaten vorbei, aber niemand bleibt stehen.« Sie strich sich eine feuchte Locke aus dem Gesicht. »Ich schätze, hier gibt es nichts, was sich zu plündern lohnt.«
»Das wird sich ändern«, murmelte Soek.
»Kannst du meine Nachbarschaft erkennen?«, fragte Danello, der neben mir auf dem Boden saß. »Ist dort auch Rauch zu sehen?«
Tali lehnte sich einige Sekunden lang weit hinaus, ehe sie den Kopf wieder einzog. »Nein, ich glaube nicht. Es sieht aus, als würde es bisher nur in den Baseeri-Vierteln brennen. Und auf dem Gelände der Gilde.«
»Ich bin sicher, deinen Geschwistern geht es gut«, sagte ich zu Danello und legte ihm die Hand auf die Schulter. Jovan war ein kluger Junge, er würde schon dafür sorgen, dass alle in sicherer Deckung blieben, bis ihr Vater nach Hause käme.
Er nickte geistesabwesend, sah aber immer noch besorgt aus. Was ich ihm nicht zum Vorwurf machen konnte. Wäre Tali nicht bei mir, dann wäre ich da draußen, um sie zu suchen. Danello hingegen war klug genug, sein Leben nicht einfach so aufs Spiel zu setzen. Er war älter und erinnerte sich vermutlich noch deutlicher als ich an die Aufstände. Die Soldaten hatten nicht nur die getötet, die Ärger gemacht hatten.
»Es geht wieder los, nicht wahr?«, wisperte Aylin.
»Nein, dieses Mal ist es anders«, widersprach ich.
»Nur politisch betrachtet. Wir sind wieder auf den Barrikaden, und ihr wisst, wie so etwas immer endet. Erst die Aufstände, dann die öffentlichen Anklagen gegen den Herzog. Die Leute geben ihm schon jetzt die Schuld, und bald werden sie sich gegen den Generalgouverneur wenden. Die ganzen Soldaten sind noch in Verlatta. Wie lange wird es dauern, bis der Herzog einige hierher schickt ?«
»Vielleicht kann der Generalgouverneur die Leute beruhigen.« Doch noch während ich die Worte aussprach, begann ich daran zu zweifeln. Soldaten machten alles immer nur schlimmer. Blaue Uniformen hatten in Geveg schon zu viel Hass entfacht.
»Das glaube ich nicht«, sagte Tali und winkte uns ans Fenster. Wir drängten uns um sie herum und starrten hinaus.
Sechs Soldaten trieben Leute die Straße entlang, schubsten sie, schrien sie an. Mehrere bluteten am Kopf. Die Leute auf der Straße schrien ebenfalls, schnappten sich Steine oder was auch immer sie finden konnten, und wedelten drohend mit ihnen herum. Ein Mann sprang vor und warf einen halb kaputten Stuhl nach den Soldaten. Er traf einen an Kopf und Schultern, woraufhin sich zwei andere auf den Mann stürzten, der den Stuhl geworfen hatte, und ihn niederknüppelten. Er fiel zu Boden. Sie ließen ihn einfach liegen, und sein Blut bildete langsam eine Pfütze unter seinem Kopf.
»So hat es in Verlatta auch angefangen«, sagte Soek und zog sich vom Fenster zurück. Er setzte sich in Aylins Nähe auf den Boden. »Wir hatten sogar einen Vertrag mit dem Herzog. Hat nichts geholfen.«
»Vielleicht gewinnen wir dieses Mal«, meinte Tali. Sie begriff es nicht. Sie war zu jung, sich zu erinnern.
Ich schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Wir können nicht gewinnen, solange wir keine eigenen Soldaten haben. Und einen Haufen Heiler und Pynvium. Wie sollen wir ohne das alles überhaupt kämpfen?«
Es klopfte an der Tür, und wir alle zuckten zusammen. Aylin machte Anstalten aufzustehen, aber Danello winkte ihr zu, sie solle unten bleiben, und ging selbst zur Tür. Soek stellte sich ihm gegenüber außer Sichtweite auf und hielt einen Hocker in der Hand, bereit zuzuschlagen, sollte jemand Ärger machen wollen. Danello sah ihn an und nickte, als wollte er seine Zustimmung ausdrücken.
»Wer ist da?«, rief Danello durch die geschlossene Tür. Dann streckte er die Hand aus und nahm sein Rapier von Aylins Tisch, obwohl er nicht viel Platz hatte, es einzusetzen, sollte er es brauchen.
»Ich suche Aylin.« Die Stimme klang vertraut.
»Mach auf«, sagte Aylin und kletterte über das Bett.
Danello öffnete die Tür einen Spalt weit und lugte hinaus. »Name?«
»Wo ist Aylin?«
»Kione?«, fragte Aylin, schob Danello zur Seite und öffnete die Tür ein Stück weiter. Soek wich zurück, ehe sie ihm das Türblatt auf die Nase schlagen konnte.
Kione tat einen Schritt herein, aber für mehr war kein Platz, solange Danello und Aylin dort standen, und Danello ließ ihn keinen weiteren Schritt tun. »Ich suche deine Freundin, die Verrückte, die sich ins Gildenhaus geschlichen hat.«
»Warum?« Danello trat näher an ihn heran, als wollte er Tali und mich verstecken. »Aylin, wer ist dieser Kerl?«
Kione trat ebenfalls einen Schritt näher, und Danello hob sein Rapier. Ich konnte nicht viel sehen, aber ich hatte das Gefühl, dass die Spitze des Rapiers direkt auf Kiones Kehle zeigte.
»Nicht!« Ich sprang auf und zerrte an Danellos Arm, bis er die Waffe sinken ließ. Mich zu verteidigen war lieb gemeint, aber Kione mochte wissen, was tatsächlich in der Gilde vorging. »Er hat mir geholfen, Tali rauszuholen. Gewissermaßen.«
»Kione, was ist passiert?«, fragte Aylin.
»Sie lügen.«
»Das wissen wir. Es gibt keine Krankheit. Der Schmerz hat sie umgebracht.«
»Nein, dass sie tot sind, ist eine Lüge.« Kione drängte sich weiter in den Raum, bis er direkt vor mir stand. »Nya, die Lehrlinge sind am Leben.«