Vierzehntes Kapitel
Was machen wir jetzt?«, flüsterte Soek.
Stiefeltritte hallten von den marmormen Wänden wider, wurden lauter, als die Wachen näher kamen. Ich hob den Beutel mit dem Pynvium hoch und musterte die Fenster. Draußen auf dem Sims kehrten mir Statuen der Heiligen den Rücken zu, als missbilligten sie, was ich getan hatte. Das Pynvium konnte mir immer noch helfen. Auch wenn es sich nicht entladen sollte, war es schwer genug, um ein Fenster einzuschlagen und mir den Weg auf den Sims und hinunter auf das Dach freizumachen, und - halt mal, war das ein Riegel?
»Da rüber.« Ich schoss zu dem Fenster und entriegelte es. Es schwang widerstandslos nach außen.
Das Trampeln wurde lauter, donnerte über die letzten paar Stufen zu diesem Teil des Turms. Jede Sekunde mussten die ersten Wachen um die Ecke kommen und uns entdecken. Tali würde mir nie verzeihen, sollte ich hier mein Leben lassen.
Ich kletterte zum Fenster hinaus und auf den Sims, der die Kuppel umgab. Soek folgte mir und drückte das Fenster zu. Wind peitschte meine Wangen, brannte in meinen Augen und fegte mir die perlengeschmückten Zöpfe ins Gesicht
Nicht fallen und um der Liebe der Heiligen Saea willen, sieh nicht runter.
Ich drückte mich mit dem Rücken an das Glas und bewegte mich Zentimeter um Zentimeter voran, bis ich die Statue der Heiligen Saea erreicht hatte, die mit ausgestreckten Händen voller Vogelkot auf Geveg hinabblickte. Ich kauerte mich unter ihre Röcke, so voller Angst, dass ich kaum zu atmen wagte. Soek, furchtbar blass, klemmte sich neben mich. Immer wieder musterte er das abschüssige Dach und den Boden, der so weit unter uns lag.
Schatten tanzten über das Dach, folgten den Lichtstrahlen der Vormittagssonne, die hinter uns am Himmel stand. Hell, dunkel, hell, dunkel, immer abwechselnd, wie die Pfeiler, die mich vor den Männern verbargen, welche nun in den Raum eindrangen. Noch mehr Schatten beteiligten sich an dem Tanz, als die Wachen sich aus hellen in dunkle Bereiche bewegten.
Gedämpft drangen ihre ärgerlichen Stimmen durch das Glas, aber kein Fenster wurde geöffnet. Ich lächelte, stellte mir vor, wie sie dastanden, sich an den Köpfen kratzten und sich fragten, wo wir geblieben waren. Über eine andere Treppe nach unten entwischt? Aber wie? Umgekehrt sein können sie nicht. Vielleicht haben sie sich in Luft aufgelöst.
Ein Knarren zu meiner Linken verwandelte mein Grinsen in eine Grimasse. War das das Fenster? Noch mehr Schatten tanzten auf den Dachschindeln wie Hände, die nach mir greifen wollten. Dann verschwanden sie, und das Fenster fiel krachend zu.
Ich atmete auf.
Bis rechts von mir ein weiteres Fenster knarrte.
»Da sind sie!«
Ein Wachmann beugte sich heraus, doch sein Blick wanderte nervös zwischen dem Sims unter dem Fenster und mir hin und her. Schätze, er mochte Höhen genauso wenig wie Soek.
»Pack sie dir!«, ertönte es von drinnen. Soek ergriff meinen Arm. Ich tätschelte besänftigend seine Finger, wenn ich auch bezweifelte, dass ich ihn auf diese Weise wirklich beruhigen konnte.
»Ich klettere da nicht raus.«
»Geh! Das ist ein Befehl.«
Der Wachmann schnaubte verächtlich. »Ich wurde angeheuert, um Türen zu bewachen, nicht um über Dächer zu laufen.«
Ich grinste. Leistung hatte eben ihren Preis, und Arbeit wurde heutzutage nicht gerade gut bezahlt.
Ein anderer Wachmann steckte den Kopf aus dem Fenster, aber auch der sah aus, als fürchte er die Höhe. Ich griff in meinen Beutel und zog einen Pynviumklumpen hervor. Ob er Schmerz enthielt, konnte ich nicht sagen. Ich holte zum Wurf aus, sammelte all meinen Zorn und versuchte nachzuempfinden, was ich gefühlt und was ich getan hatte, als ich den Wachmann beworfen hatte.
Ich warf.
Kein Blitz, keine Entladung.
Aber der Klumpen traf ihn mitten an der Stirn. Er schrie auf und zog den Kopf wieder ein.
Einigermaßen wirkungsvoll, aber selbst gutes Zielen und ein Sack voller Steine würden uns hier nicht rausbringen. Die Gilde hatte mehr Geld als Geveg Bettler, und irgendjemand würde zweifellos bald mit einer echten Pynviumwaffe auftauchen, einer, die stark genug war, uns geradewegs vom Dach zu blitzen.
Noch ein Knarren, und das Fenster wurde wieder geöffnet. Derselbe Wachmann musterte mich finster. Eine rote Beule zierte seine Stirn. Mich von ihm schnappen zu lassen war bestimmt keine gute Idee. Ich beugte mich etwas vor und blickte über den Rand. Das Dach fiel bis zu den nächsten Kuppeln um etwa vierzig Fuß ab.
»Komm mit«, flüsterte ich. Ich schob mich vor und hielt meinen Rock mit festem Griff unter den Knien. Ich musste das absolut richtig einfädeln, anderenfalls würde ich vorbeischießen und das bisschen Hirn, das ich hatte, kreuz und quer auf dem Hof verteilen.
»Da runter?«
»Komm.« Mein Hintern glitt vom Sims, und die Schwerkraft tat den Rest.
»Sie haut ab!«
Ich gewann an Geschwindigkeit. Ich glitt über die Schindeln, die Knie angezogen, während meine Füße mit einem ausdauernden Zischen über den Schiefer scharrten. Der niedrigere Turm und all seine Fenster rasten direkt auf mich zu, dann nicht mehr ganz so direkt.
Ich kam vom Kurs ab.
Ich griff mit einer Hand nach den Schindeln. Meine Richtung änderte sich nicht. Ich neigte mich zur Seite, und ein paar Pynviumstücke kullerten aus dem Sack und klapperten das Dach schneller hinunter, als ich rutschen konnte.
Nein! Ohne diese Klumpen würde ich nie herausfinden, wie ich sie zum Blitzen bringen konnte. Ich stürzte mich auf den Sack, riss mir die Knöchel auf, als ich ihn packte, und schnürte ihn zu. Die herausgefallenen Stücke rollten immer schneller über das Dach. Sie passierten die Kuppel und fielen über den Rand.
Und das würde ich auch tun, wenn ich meine Rutschpartie nicht aufhielt.
Hinter mir hörte ich Soek fluchen. Ich rutschte seitlings weiter, wobei meine Schulter und Hüfte schmerzhaft über die Schindeln rumpelten. Ich schrie auf, als ich auf eine Delle im Dach traf, aber sie verlagerte meinen Kurs nach links, zurück zu den hohen Fenstern der Kuppel. Soek schrie eine Sekunde später auf, und wir beide wurden schneller.
Blöder Plan. Ein verdammt blöder Plan. Großmama hatte recht. Narren handeln erst und denken dann.
Peng!
Ich prallte gegen das Kuppelfenster. Die unter meinen Armen eingeklemmten Pynviumklumpen bohrten sich wie Schlangenbisse in meine Haut. Meine wunden Muskeln brannten wie Feuer. Soek krachte von hinten in mich hinein, und das Glas knirschte. Ich atmete hörbar ein, aber das Fenster hielt.
»Du bist so verrückt wie zehn nackte Hühner«, zischte Soek an meinem Ohr.
Die Wachen über uns brüllten etwas, aber der Wind riss die Worte mit sich fort, ehe ich sie verstehen konnte. Ich kämpfte mich auf die Knie. Ein kräftiger Tritt würde reichen, um das Fenster zu zertrümmern.
Wachleute rannten jenseits des Fensters in den Kuppelsaal. Sie rissen die Münder auf, als wunderten sie sich, uns hier zu sehen. Ich hatte meinerseits nicht damit gerechnet, dass sie uns so schnell finden würden.
Wir brauchten einen neuen Plan. Einen richtigen Plan diesmal, nicht einfach den erstbesten, der mir gerade in den Sinn kam. Das Fenster würde sie nicht drinnen festhalten, und das Dach war gefährlich. Sie würden nicht herauskommen wollen. Also mussten wir auf dem Dach bleiben.
Etwa acht Fuß unter dem Kuppelsaal war ein ungefähr zwei Fuß breiter, halbkreisförmiger Sims mit Säulen an beiden Enden. Unter ihm verlief das Dach weniger abschüssig, aber von dem Sims bis zu der tiefergelegenen Dachfläche war es ein weiter Weg, gute fünfzehn Fuß mindestens. Zwei sehr riskante Abschnitte und ein schlimmer Sturz, sollten wir den Sims verfehlen.
Soek folgte meinem Blick. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Vielleicht war das Ganze hier keine so gute Idee.«
Kleine Kieselsteine flogen an mir vorbei, und ich riss den Kopf herum. Ich konnte nicht über die Dachwölbung hinwegsehen, aber die Wachen von oben mussten näherkommen.
Ich schob mich näher heran. »Nicht nach unten sehen!«
»Wie soll ich dann den Sims treffen?«
»Schön, dann guck eben nicht ganz runter.«
Ich krabbelte zu einer Stelle, an der ich mich gut festhalten konnte, verknotete den Sack und warf ihn hinunter. Glas splitterte zu meiner Linken. Ich ließ mich flach auf den Bauch fallen und schwang meine Füße seitwärts herum, bis sie über den Rand hingen. Schob sie weiter, bis ich nur noch mit den Händen Halt hatte. Soeks Augen waren weit aufgerissen. Seine Hände öffneten und schlossen sich zu Fäusten. Trotz meiner Warnung starrte er immer wieder in die Tiefe.
»Komm, Soek.«
»Keine Bewegung!«, brüllte ein Wachmann. Ein weiterer hechtete vor, als wolle er Soek greifen.
Mit einem knappen Gebet und der Bitte um einen geraden Weg nach unten ließ ich los. Meine Sandalen trafen auf dem Fenstersims auf, und ich wippte rücklings über den Rand hinaus.
Ich warf mich mit meinem ganzen Gewicht nach vorn und zwang mich, mich flach an das Glas zu pressen. Meine Finger hakten sich im Fensterrahmen fest.
»Aaaah!« Soek landete neben mir und klammerte sich am Fenster fest. Seine Augen waren so groß wie Monde. Diesmal sah er nicht nach unten.
»Schnell, her mit dem Seil!«, klang es von oben.
Seil! Also, das war ein guter Plan. Ein paar Flügel hätten mir im Moment auch gereicht. Ich klammerte mich an das schmierige Glas und versuchte, zu Atem zu kommen. Der Wind drohte uns zusammen mit dem übrigen Laub vom Dach zu fegen.
Erinnerungen an Tali und mich in dem Baum vor unserem Haus überkamen mich. Sie auf dem Dach, lachend, während ich immer weiter hinaufkletterte. Von der Spitze des Baumes aus hatte man einen tollen Ausblick auf das ganzen Flussdelta und die Fährschiffe. Auf die Fischer in ihren Booten, die auf dem See ihre Netze einbrachten. Ich wusste, Tali würde jubeln, wenn ich es bis oben schaffte. So viel Mut hätte ich nie, würde sie sagen.
Aber rauf war immer leichter als runter. Ich schluckte. Wir konnten es schaffen. Fünfzehn Fuß waren nicht so viel.
Ich atmete ein letztes Mal tief durch ... Moment, nicht mein letztes Mal, denk nur das nicht...
Ein Seil fiel herab und prallte neben mir auf das Glas.
Vielleicht besser nicht langsam. Schnell war auch gut.
»Nya, warte!«, rief Soek, streckte die Hand aus und griff nach dem Seil. Dann riss er heftig daran, woraufhin über uns ein erschrockener Aufschrei erklang. Das andere Ende des Seils sauste herab, und Soek fing es auf.
»Du bist ein Genie«, sagte ich.
Er grinste und knotete das Seil um eine der Säulen, ehe er sich über den Rand schob. Die Füße gegen die Wand gestemmt, seilte er sich Hand um Hand nach unten ab. Es sah ganz einfach aus.
»Du bist dran«, rief er, als er die tiefer gelegene Dachfläche erreicht hatte.
Ich schluckte, ergriff aber das Seil und wickelte es mir um den Arm, so wie er es getan hatte. Ich kroch über die Seite und stemmte meine Füße vor. Meine rechte Sandale rutschte ab, und ich kippte zur Seite. Der andere Fuß verlor den Halt, worauf meine Knie schmerzlich über die Steine schrappten. Ich klammerte mich an das Seil und versuchte mit den Fußsohlen festen Kontakt an der Wand zu finden. Meine Hände brannten, als das Seil durch sie hindurchglitt. Mühsam stemmte ich mich mit den Füßen rücklings die Mauer hinab. Jeder Schritt ließ mir die Knie zittern.
Auf halbem Wege nach unten gaben meine Arme nach, und ich fiel. Meine Füße trafen zuerst auf dem Dach auf, und der Aufprall erschütterte meine Knochen bis hinauf zum Hals. Funkelnde Sterne sausten vor lauter Schmerz um mich herum. Über mir seilten sich die Wachen ab wie Pynviumspürer, die an den Klippen nach neuen Adern suchten.
Soek war binnen einen Herzschlags bei mir. »Alles in Ordnung?«
»Ja, mir geht es gut.«
Soek half mir auf. Meine wunden Knie brannten, wo ich mir die Haut aufgeschürft hatte. Talis Unterkleid hing in Fetzen Wenn ich es lebend von diesem ekelhaften Dach herunterschaffte, würde ich einen ganzen Oppa für neue Kleider für uns beide ausgeben. Bei den Heiligen, das würde ich tun.
Keine Zeit für lange Überlegungen. Die ausgedehnte Dachfläche unter uns musste zum Behandlungstrakt gehören. Das Dach war schräg, aber die Neigung war nicht so schlimm, und die Ränder sahen aus, als wären sie gut geeignet, um uns für unseren letzten Sprung, den wir bis zum Boden noch vor uns hatten, an sie zu hängen. Danach blieb nur noch ein langer Lauf zu Tali und Danello.
»Da sind sie!«
Noch mehr Wachleute tauchten auf. Sie warfen eine Strickleiter aus dem Fenster der Kuppel über uns. War denn die ganze Gilde hinter uns her?
Ich schnappte mir den Pynviumsack und glitt hinab zur Dachkante. Die Gärten waren auf dieser Seite der Gilde. In weichem Gras aufzukommen hörte sich erheblich besser an, als auf dem Pflaster zu landen. Stimmen klangen von unten zu uns herauf, und ich erstarrte, streckte eine Hand aus, um Soek aufzuhalten.
Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber das hörte sich nicht nach schlichtem Geplauder an. Ich kauerte mich flach auf das Dach und lugte über den Rand. Zwei Wachleute standen unter uns. Jung, etwa in meinem Alter, mit dunklem Haar.
Ich drehte mich zu Soek um, deutete auf die Wachen unter uns und machte eine Geste mit der Handkante in die offene Hand. Eine Sekunde lang starrte er mich nur an. Dann nickte er.
Es ging nicht weit hinunter, vielleicht sieben oder acht Fuß. Ich mochte nicht viel wiegen, aber Dinge, die von oben kamen, konnten einem schon einen ziemlich kräftigen Schlag versetzen. Soek baute sich neben mir auf, direkt über dem größeren Wachmann.
Ich umfasste den Pynviumsack mit festem Griff und sprang.