Zwanzigstes Kapitel

Hatte mein Zorn das Pynvium vergiftet?

»Was hast du getan?«, flüsterte Tali und umklammerte meinen Arm.

»Nichts. Ich habe genau das Gleiche getan wie vorher.«

»Aber es ist weg, Nya.«

Nicht ganz, aber der Sand würde uns nicht helfen. Nichts konnte uns jetzt noch helfen.

Furchtsames Geplapper breitete sich in rasantem Tempo unter den halb geheilten Lehrlingen aus. »Weg?«

»Es gibt kein Pynvium mehr?«

»Nicht schon wieder!«

Dann folgten leise Schluchzer. Ich hätte mich am liebsten auf dem Boden zusammengerollt und mit ihnen geweint.

»So etwas habe ich noch nie vorher erlebt«, sagte Tali.

»Ich weiß nicht, was passiert ist.« Ich konnte es nicht zerstört haben. So unfair konnten die Heiligen einfach nicht sein. Wem nutzte ein schleusendes Monster, das die einzige Sache vernichtete, die denen helfen konnte, die es verletzt hatte?

Ich winkte Aylin zu. »Bring mir den Rest. Vielleicht habe ich zu viel auf einmal zu tun versucht.«

Sie sammelte die Klumpen vom Boden auf und reichte sie mir. Ich nahm sie und warf einen davon an die Tür. Er entlud sich, wie wir es gewohnt waren. Eines der Lehrmädchen klatschte sogar, aber die anderen brachten es schnell zum Schweigen.

»Seht ihr? Es hat funktioniert! Ich weiß nicht, was vorher passiert ist.«

Ich warf einen zweiten Klumpen. Er entlud sich und zerfiel zu Sand. Keuchen und Stöhnen überall im Raum.

»Ich ... es ...« Ich starrte mit offenem Mund die Tür an. Das Pynvium war weg, aber die weißen Flecken zogen sich nun einen Fuß hoch quer über die Mitte des Türblatts.

Ich warf den Rest, einen Klumpen nach dem anderen. Bis auf zwei zerfielen alle.

»Vielleicht kann Pynvium nur eine bestimmte Menge Schmerz aufnehmen«, sagte Danello. »Genau wie Menschen.«

Bumm!

Wir alle schrien auf, als die Tür in den Raum platzte wie eine Seifenblase. Exakt in dem von den Flecken überzogenen Bereich. O ihr Heiligen! Schmerzentladungen verletzten Menschen; verletzten sie auch Dinge?

»Sie brechen durch«, sagte Danello und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Pritschen. »Wir brauchen Waffen. Kione, hilf uns!«

Ich rannte los, um mehr Pritschen zu holen, zerrte sie herüber, um unsere Barrikade zu verstärken. Ich musste die Wachen fernhalten. Ich musste Tali und die Lehrlinge beschützen. Bitte, lasst mich nicht all diesen Leute umsonst wehgetan haben!

Aylin stürzte zu den Schränken und fing an, nach etwas zu suchen, was sich als Waffe verwenden ließ, warf Lumpen und Laken über ihre Schulter, während sie die Fächer durchwühlte. Die Lehrlinge öffneten Schubladen an der rückwärtigen Wand.

Bumm!

Wachen rüttelten an der geborstenen Tür, und eine schmale Schwertklinge bohrte sich zu uns herein, gefolgt von einem Arm, der durch die Tür kroch und herumtastete, als suche er nach einem Riegel. Danello schlug mit der Faust auf die Hand, und sie zuckte zurück.

Überall im Raum erklang ein furchtsames Wimmern. Die geheilten Lehrlinge wichen zurück und kauerten sich zusammen. Ich hatte so sehr versucht, sie zu retten, aber ich hatte alles nur schlimmer gemacht. Der Erhabene würde uns alle umbringen. In seinen Augen waren wir nichts. Nichts als Pynvium.

»Aylin«, rief Danello an der Tür. »Hast du irgendwelche Waffen gefunden?«

»Nein!«

»Aber ich«, flüsterte ich und drehte mich um. Vielleicht war ich keine Heilerin, vielleicht würde ich nie eine sein, aber im Augenblick brauchten wir keine Heilerin, wir brauchten Waffen - und das konnte ich sein. Ich hatte einen ganzen Krankensaal voller Schmerzen zu schleusen. »Ich brauche einen Lehrling!«

Kione keuchte entsetzt auf. »Willst du die etwa an der Barrikade einsetzen?«

»Nein, du Hühnerkopf, ich werde sie heilen und gleichzeitig die Wachen fernhalten.« Kione stand nur da, aber Danello raste zur nächsten Pritsche und hob eine Einlitzerin heraus, die gerade ein paar Jahre älter war als ich. Schmerzgepeinigt, aber bei Bewusstsein, biss sie die Zähne zusammen und streckte mir ihre Hand entgegen.

Als ein weiterer Arm durch die Tür hereinkam, ergriff ich die Hand der Einlitzerin. Zwischen Handschuh und Ärmel des Mannes war ein dünner Streifen Haut zu sehen. Aylin ergriff die Hand und hielt sie für mich fest. Ich umfasste die freie Stelle und drückte.

Der Mann schrie auf, und die Neigung des Arms veränderte sich, als wäre er zusammengebrochen.

»Bring mir mehr«, zischte ich, während die Nadelstiche an meinem Bein verebbten. Gebrochene Knochen, kein Zweifel.

In Danellos Armen liegend bot mir ein anderer Lehrling seine zitternde Hand dar, und ich ergriff sie und transferierte ihren Schmerz, ehe die Wachleute den nächsten Mann fortzerren konnten.

BUMM!

Das Loch wurde größer. Mehrere Pritschenrahmen lösten sich und fielen zu Boden. Holz glitt kreischend über Stein, und die Barrikade kam einen Fuß näher. Ein Wachmann schlängelte sich durch das kantige Loch, drängte mit den Füßen nach Halt suchend voran. Andere waren direkt hinter ihm und schoben ihn weiter.

Ich drehte mich um. »Ich brauche mehr ...« Mir fehlten die Worte. Hinter mir hatten die Lehrlinge eine Kette gebildet, fassten sich von Pritsche zu Pritsche an den Händen, Halbgeheilte schlossen die Reihen und füllten die Lücken zwischen denen aus, die zu schwach waren, sich aufzusetzen.

Tali ergriff die letzte Hand und streckte mir die Finger entgegen, das Kinn vorgereckt, einen harten Zug um die Augen. »Wie bei den Zwillingen, Nya. Gemeinsam sind wir stärker. Wir ziehen, du presst.«

Einfach würde das nicht werden. Jeder Heiler konnte den, der vor ihm in der Kette war, heilen, aber je länger die Kette war, desto schlimmer würde es zum Ende werden. Bis die Schmerzen bei Tali waren, wäre sie nicht mehr in der Lage, sie aufzuhalten - und ich auch nicht. Ich würde den gesammelten Schmerz von ihnen allen, jedem Einzelnen von ihnen, in mich aufnehmen müssen. Aber anders als sie konnte ich ihn auch ohne Pynvium wieder loswerden.

Ich umfasste Talis Hand, und Mamas Gesicht erschien vor meinem geistigen Auge. Plötzlich wusste ich, wie sie sich an diesem letzten Tag gefühlt hatte, als sie den Baseeri-Soldaten gegenübergestanden hatte. Sie war gestorben, um uns zu schützen. Nun würde ich sie - oder Geveg - nicht enttäuschen.

»Danello, pack ihn, und schieb seinen Ärmel hoch«, sagte ich. Ich hatte Pymvium entladen, also konnte ich vielleicht auch eine Person entladen, den Schmerz durch ihn in den Rest des Raumes blitzen. Haut berührte Haut, und meine Hand erwärmte sich um Talis Finger. Es prickelte, es kribbelte, es stach, als wäre sie mir schon vor Wochen eingeschlafen.

Wir alle hatten aus Verzweiflung schreckliche Dinge getan. Dinge, an die wir nicht einmal gedacht hatten, ehe der Herzog in unsere Stadt eingefallen war und unseren Versuch zu rebellieren umso grausamer niedergeschlagen hatte. Danello hätte mich nie gebeten, innerhalb seiner Familie zu transferieren. Lanelle hätte keinen Freunden wehtun müssen, um ihren Job zu behalten. Ich hätte keinen Fremden wehtun müssen, um meine Freunde zu schützen. Nichts von alldem war richtig, aber flickt man nur genug Übel zusammen, wird daraus eine Decke, die beinahe imstande ist, die Kälte fernzuhalten.

Ich war es leid, unter der Decke des Herzogs zu bibbern.

Ich zog, als Tali zog, als alle zogen, ineinandergriffen, jeder den Nächstschwächeren heilte und den Schmerz weiterschleppte wie eine Menschenkette einen Kübel Seewasser von einem der Kanäle, wenn irgendwo ein Feuer brannte. Aber es war kein Wasser, es war flüssiges Feuer, und es rauschte in mich hinein, brodelnd und heiß. Ich öffnete eine Schleuse, wie ich es mit dem Fischer gemacht hatte, mit den Schwestern, den Eltern und Familien all derer, die auf der Suche nach Hilfe zu Zertanik gekommen waren.

Greller Schmerz erglühte zwischen uns. Zwei Dutzend Stimmen vereinten sich zu einem einzigen Schrei, der mir noch in den Ohren hallte, lange nachdem der Schmerz mich verlassen hatte, und erst, als Danello mich hielt und mir das verschwitzte Haar aus dem Gesicht strich, erkannte ich, dass das Echo, das ich hörte, das Stöhnen der Wachen vor der Tür war.

»Nya?«, sagte er mit besorgter Stimme. »Kannst du mich hören?«

»Danello?« Meine Zunge fühlte sich schwer und geschwollen an. Meine Arme fühlten sich noch schwerer an, und ich war nicht sicher, wo meine Beine waren. »Was ist ... Wachen ?«

»Bewusstlos, vielleicht schlimmer. Es sieht so aus, als wäre der Schmerz geradewegs durch alle hindurchgefahren. Als hätte er sich, ich weiß nicht, wie, von dem Mann aus, den du festgehalten hast, auf die anderen übertragen.«

Ich setzte mich auf und versuchte, meine Beine zu bewegen. Das schmerzhafte Prickeln verriet mir, dass sie noch da waren, obwohl ich im Moment nicht sicher war, ob ich sie überhaupt haben wollte. »Die anderen?«

»Denen geht es gut. Etwa so wie dir, zumindest denen am Ende der Kette. Die auf der anderen Seite haben es besser getroffen. Sie mussten nicht so viel heilen wie die auf deiner Seite.«

Irgendwie gelang es mir, mich umzudrehen. Tali war blass und verschwitzt, aber sie saß aufrecht und mit einem matten Lächeln im Gesicht da. »Geschafft«, murmelte sie. Die anderen lächelten mir zu, lächelten einander zu. Sie alle lebten und regten sich.

»Wir müssen hier raus«. Ich mühte mich auf die Beine. Danello half mir auf, während Aylin Tali stützte. »Es werden mehr Wachen kommen.«

Überall im Raum erhoben sich die Lehrlinge, und die, die weiter hinten waren, halfen jenen in der Nähe der Tür. Aufgeregtes Flüstern und hoffnungsfrohe Mienen pflanzten sich ebenso von einem zum anderen fort, wie es zuvor der Schmerz getan hatte.

»Was haben wir getan?«

»Hat Meisterheiler Ginkev uns je erzählt, dass wir uns so miteinander verbinden können?«

»Was wir wohl noch alles können?« Dann allmählich verstummte das Flüstern, und die Augen richteten sich auf mich. Meine Haut kribbelte, als würden winzige Spinnen über meinen Körper laufen.

Ich schüttelte die Arme. Der letzte Rest des Schmerzes versiegte, und ich fühlte mich wieder wie an dem Morgen nach dem Fährenunglück, aber diese Muskelschmerzen würden von allein wieder nachlassen.

Ich wandte mich den Lehrlingen zu, dem lebenden Beweis dafür, dass der Erhabene gelogen hatte, den einzigen Menschen, die den Aufstand beenden und Geveg retten konnten.

»Kommt. Es ist Zeit zu gehen.«