Zweiundzwanzigstes Kapitel

Ich umklammerte die Armlehnen meines Sessels. Sie konnten nicht beweisen, dass ich es getan hatte. Lanelle war nicht glaubwürdig; ich konnte einfach behaupten, sie hätte gelogen. Besser noch, ich musste überhaupt nicht antworten. »Ihr wisst, dass die Lehrlinge geflohen sind. Jeder in Geveg weiß jetzt, dass Ihr die Leute belogen habt.«

»Nein, das weiß niemand«, sagte Zertanik, erhob sich und schenkte sich etwas aus einer blauen Kristallkaraffe ein. »Kaum hatten die Wachen euch auf dem Dach entdeckt, habe ich Jeatar beauftragt, die Ausgänge zu überwachen. Zweifellos hat er die eigensinnigen Lehrlinge längst wieder eingefangen.«

Dieser Unhold. Dieser Lügner. Jeatar hatte einen wirklich netten Eindruck gemacht, und nun hatte er Tali und die anderen in seiner Gewalt. Mein glühender Zorn wurde eisig.

»Ihr könnt nicht einfach alle Lehrlinge in einen Turm stecken und dort verrecken lassen und glauben, niemand würde etwas merken.«

»Aber niemand hat es gemerkt, meine Liebe, und es wird auch niemand merken.« Zertanik hob die Flasche und fragte den Erhabenen: »Etwas zu trinken?«

Der Erhabene schüttelte den Kopf.

Mir wurde nichts angeboten, nicht einmal eine lahme Ausrede. »Die Leute werden es erfahren. Hast du gedacht, ich wäre dumm genug hierherzukommen, ohne jemandem davon zu erzählen?« Ich ballte die Fäuste, wünschte, ich wäre nicht dumm genug gewesen, exakt das zu tun.

Er kicherte. »Dumm, nein. Kurzsichtig, ja. Ja, in der Tat.«

Es war alles umsonst. Ich hatte so schreckliche Dinge getan, und nichts hatte irgendetwas bewirkt. Mir kamen die Tränen, und sosehr ich es wollte, ich konnte sie nicht zurückhalten.

»Sei nicht so streng zu dir, meine Liebe.« Zertanik stand auf und begutachtete einen Teller mit Früchten und Gebäck, tat, als wäre dies sein Amtszimmer. Glaubte er, ihm gehöre alles und er könne alles kaufen, so wie er mich gekauft hatte? Den Erhabenen schien es nicht einmal zu interessieren, dass er sich hier so in den Vordergrund spielte ... Ich schniefte leise. Was ging hier eigentlich vor? Heiler taten sich niemals mit Schmerzhändlern zusammen. Für Heiler waren Schmerzhändler unter ihrer Würde, und nach allem, was ich wusste, hatten sie vollkommen recht.

Also warum ließ sich dieser Erhabene von einem Schmerzhändler herumkommandieren?

Der Erhabene saß nur schweigend da und beobachtete mich. Eine Hand tippte unentwegt auf die Armlehne, aber die andere hielt sie fest umklammert. Er war eindeutig nervös, und ich hätte gewettet, dass es dabei um mehr ging als nur darum, dass Vinnot ihm nicht gesagt hatte, was Lanelle erzählt hatte.

»Warum bin ich hier?«, fragte ich. Und was in Saeas Namen ging hier vor?

Offensichtlich unzufrieden mit der Auswahl der Speisen kehrte Zertanik mit seinem Getränk zu seinem Sofa zurück. Er war nicht im Mindesten nervös. »Wir haben einen geschäftlichen Vorschlag für dich.«

Mein Mund wurde trocken, und die Schreie des Fischers hallten in meinem Gedächtnis wider. Ich hatte genug von seinen geschäftlichen Vorschlägen. »Vergiss es.«

»Wir haben noch nichts entschieden«, geiferte der Erhabene. Für einen Moment entgleiste seine mühsam aufrechterhaltene Ruhe. Wovor hatte er Angst? Gewiss nicht vor mir. Vor Zertanik? Hatte der Erhabene auch einen Handel mit ihm geschlossen, den er jetzt bereute? »Das ändert nichts an unserem Plan, Zertanik.«

Zertanik wischte seinen Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Es ändert alles. Merlaina, meine Liebe, eigentlich ist die Sache ganz einfach. Wenn du mir beweist, dass du das wirklich kannst, dann würde ich dich gern anheuern, um Pynvium zu leeren. Ich werde dich gut dafür bezahlen.«

Das war alles ? Sie wollten nicht, dass ich das Pynvium über einem anrückenden Heer entleerte oder so was in der Art? Da musste doch noch mehr dahinterstecken. Niemand bezahlte zehn Oppa für eine einzige Henne. »Warum?«

»Damit ich es verkaufen kann.«

»Damit wir es verkaufen können«, grollte der Erhabene.

»Ihr seid also wieder auf meiner Seite, ja?« Zertanik lachte, dann bedachte er mich mit einem Lächeln. »Stell dir vor, was Verlatta gerade jetzt für Pynvium bezahlen würde.«

Alles, was sie hatten. Genau wie wir es getan hätten, als der Herzog uns belagert hatte und wir keinen Nachschub hatten heranschaffen können.

»Du würdest ihnen helfen, meine Liebe. Du würdest ihnen ein verzweifelt benötigtes Gut in einer Zeit beschaffen, in der sie besonders darauf angewiesen sind.«

Handel mit Elend, mit Schmerz. So, als würde man einem reichen Paar mit einem sterbenden Kind einen armen Fischer anbieten.

»Was wird aus den Lehrlingen?«, fragte ich. Tali und die anderen erwähnte ich nicht, nur für den Fall, dass er nicht wusste, wie viele der meinigen er hatte.

»Ein einfacher Austausch. Deine Dienste für das Leben der Lehrlinge. Aller Lehrlinge, nicht nur derer, die du herauszuschmuggeln versucht hast, als niemand hingesehen hat.«

Was er sagte, konnte nicht wahr sein. Fingen die Lehrlinge erst an zu reden, würde das Volk von Geveg das Gildenhaus in Trümmer legen, um den Erhabenen in die Finger zu bekommen. Er konnte es sich nicht leisten, sie gehen zu lassen.

»Ich glaube dir nicht«, sagte ich. »Der Erhabene hat die Lehrlinge nicht ohne Grund leiden lassen. Nach all der Mühe wird er nicht einfach ohne sie gehen.«

Der Erhabene sprang auf und ging zu der blauen Kristallkaraffe. »Du närrische, engstirnige 'Veg«, murmelte er. Dann atmete er tief durch, drehte sich um und sah mir direkt in die Augen. »Die Lehrlinge waren Vinnots Projekt, nicht meines. Wenn du wissen willst, warum der Herzog so ein großes Interesse daran hat, Löser mit Schmerz vollzustopfen, dann frag ihn. Mir ist das völlig gleichgültig.«

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«

»Offensichtlich.« Er wandte sich an Zertanik. »Das hat alles keinen Sinn, und wir vergeuden Zeit. Wir haben genug, also lass uns jetzt verschwinden.«

»Nicht so hastig.«

»Wir brauchen sie nicht.«

»Aber ich will sie.«

Der Erhabene knallte sein Glas auf den Tisch und ging zur Tür. Er öffnete sie und redete mit den Wachen, aber ich konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde. Ich konnte aber die wütenden Blicke sehen, die er in meine Richtung warf. Bereitete er sich nur darauf vor zu verschwinden, oder plante er seinen nächsten Zug für den Fall, dass ich nein sagte ?

Zertanik räusperte sich. »Meine Liebe, wir haben kein Interesse an den Lehrlingen. Nur an dir.«

Ich schauderte. Das hatte ich schon einmal gehört, aber aus Zertaniks Mund klang es noch viel unheimlicher als aus dem von Jeatar.

»Idealerweise wirst du gemeinsam mit uns abreisen«, fuhr Zertanik fort. »Und wenn wir alle weit weg und in Sicherheit sind und du getan hast, um was wir dich gebeten haben, werden die Lehrlinge freigelassen. Wir brauchen nur eine kleine Rückversicherung.«

»Eine Rückversicherung für was?«

»Dafür, dass du den Bedingungen nicht erst zustimmst, um anschließend dein Wort zu brechen.« Sein Lächeln wurde eisig. »So wie bei unserem letzten Geschäft.«

Ich legte die Stirn in Falten. »Es fällt mir schwer, meine Weigerung, Schmerz in einen gefesselten und geknebelten Mann zu transferieren, als Wortbruch einzustufen.«

Er zuckte mit den Schultern und nippte an seinem Getränk. »Wir brauchen dich nur ein paar Monate lang, danach steht es dir frei zu gehen. Du wirst gut bezahlt. Ich weiß wirklich nicht, warum du dieses Angebot ablehnen solltest. Bis zum Winter bist du zurück und hast Geld genug, dir eine Villa auf der Aristokrateninsel zu kaufen. Du wirst dir nie wieder Sorgen um dein Essen machen müssen. Du und deine Schwester werdet euch nie wieder über irgendetwas Sorgen machen müssen.«

Bei allen Heiligen, es war verlockend. Auch wenn er ein opportunistischer Schleimscheißer war, Zertanik hatte sein Versprechen hinsichtlich der Pynviumklumpen gehalten. Ich bezweifelte, dass ich für ihn Pynvium zum Wohle irgendeines anderen Menschen außer ihm selbst leeren sollte, aber im Augenblick war ein Mehr an Pynvium zweifellos eine gute Sache, und wenn er es denen geben konnte, die es brauchten ...

»Was müsste ich leeren?«

Zertanik sprang strahlend von seinem Sessel auf. Er ging zu der mit einem grünen Tuch bedeckten Bank und riss den Stoff beiseite wie ein Höker auf dem Jahrmarkt. »Wir schmelzen das ein, formen es zu kleineren, transportablen Ziegeln und verkaufen es in der ganzen Gegend.«

Mir stockte der Atem. Der Block. Größer, als die Gerüchte besagten, und von einem so satten Blau, er sah aus wie ein riesiger Saphir. Meine Augen weiteten sich spürbar, als mir die wahre Bedeutung bewusst wurde. Sie entführten keine Löser, sie stahlen einfach den Block. Der Herzog rechnete darauf, dass aus dem schmerzgefüllten Pynvium Waffen geschmiedet wurden. Er hätte ihnen nie gestattet, ein solches Objekt an sich zu bringen.

Mein Magen verkrampfte sich, und ich sah mich erneut in dem Raum um, beäugte all die nicht zusammenpassenden Möbelstücke, die Gemälde, die Kristallgegenstände und das Gold. Die Art von Dingen, die gestohlen wurden, wenn einem Menschen das Heim genommen, seine Familie ermordet wurde. Sie waren beide nur Plünderer und Diebe. Ich musterte den Erhabenen. Wir haben genug... Ich hätte gewettet, dass Geveg nur deshalb kein Pynvium mehr hatte, weil Zertanik und der Erhabene sich alles verfügbare unter den Nagel gerissen hatten.

Zertanik warf das Tuch über einen Stuhl und lächelte mich an. »Das wäre der erste, aber wir können von Stadt zu Stadt reisen und unsere Dienste gegen einen ... nun gut, nicht allzu niedrigen Preis feilbieten, den die Leute zu bezahlen bereit wären. Und das würde sie immer noch weniger kosten als neues Pynvium.«

»Ich verstehe.« Sie waren verrückt. Na ja, vielleicht nicht, aber sie hatten keine Ahnung, wie das Entladen funktionierte. O ihr Heiligen, selbst ich war nicht sicher, wie das genau funktionierte, aber so etwas Großes zu entladen würde mich vermutlich umbringen. Selbst wenn ich eine Möglichkeit fände, den Block zu blitzen und das zu überleben, war es unmöglich, den Herzog zu berauben und sich einfach aus dem Staub zu machen. Man zettelte nicht einfach, nur um die eigenen Spuren zu verwischen, einen Aufstand an, der den Herzog zwingen würde, Truppen von der Kriegsfront abzuziehen. Wussten diese beiden Männer denn nicht, wie dumm dieser Plan war?

»Der Herzog wird wissen, dass ihr den Block gestohlen habt. Er wird euch verfolgen.«

»Oh nein, das wird er nicht«, sagte Zertanik. »Schau, es wird ein furchtbares Unglück geschehen, und wir beide werden in dem Aufstand getötet werden. Einfach tragisch. Die Plünderer werden die Wachen überwältigen und in das Gebäude eindringen. Leichen, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Man wird nur noch ein paar auffällige Schmuckstücke und Gilde-Rangabzeichen finden, anhand derer man uns identifizieren kann.«

Der Herzog würde Geveg für ihren Tod verantwortlich machen. Er würde seine Soldaten entsenden. Er würde die Stadt abriegeln, die Bürger einkerkern, jeden verhören, der vielleicht etwas über das verschwundene Pynvium und die Toten wissen mochte. Und wenn niemand redete, würde er zornig werden und seinen Zorn an uns auslassen.

Ich erhob mich und ging langsam zu dem Block. Zertanik lächelte immer noch, und der Erhabene beobachtete mich, als traue er mir so wenig wie ich ihm. Ich streckte die Hände aus und legte beide Handflächen flach auf das kühle Metall. Und das war alles, was ich fühlte. Kein Ruf, kein Sog, kein besonderes Prickeln. Nichts, was ein echter Heiler fühlen würde, wenn er reines Pynvium berührte.

Ein harter, kalter Kloß lag in meinem Magen. Ich war nicht minder eine Waffe, wie es dieser Block sein würde. Aber ich hatte immer noch eine Wahl, zu was ich geformt werden sollte.

Ich blickte auf. Von einem Bild an der Wand schauten mich vertraute braune Augen an. Großmama. Gevegs letzte eigene Erhabene, die uns genommen worden war, als die Soldaten des Herzogs die Stadt gestürmt hatten. Auch jetzt noch konnte ich ihre Worte hören.

Es ist besser, die Zügel zu nehmen, als das Pferd zu schlagen.

Ich kicherte mit Tränen in den Augen. Großmama hatte immer recht gehabt, hatte immer gekämpft. Selbst an diesem letzten Tag, an dem wir uns ergeben hatten und die Männer des Herzogs sie aus dem Gildenhaus weggezerrt und mitgeschleppt hatten. Ihre Leiche hatten sie nie zurückgebracht. Nicht einmal in einer schmucklosen Kiste wie die von Mama. O ihr Heiligen, ich vermisste sie beide.

»Ihr lasst die Lehrlinge gehen, wenn ich es tue?«, fragte ich. Meine Stimme zitterte, meine Hände nicht.

»Gewiss, gewiss.« Zertanik war wieder auf den Beinen, tanzte beinahe und wartete auf meine Antwort. Der Erhabene rührte sich nicht.

Die Stimme des Fischers hallte in meinen Kopf wider... . ein ganzes Jahr, um wieder auf die Beine zu kommen. Diese Zeit könnten wir jetzt wirklich brauchen. Wie lange hielt so ein Block Pynvium vor? Für Tausende von Heilbehandlungen? Dieser hier war voll, aber konnte ich Geveg ein Jahr verschaffen, wenn ich sie leerte ? Konnte ich den Gevegern die Zeit verschaffen, einen Erhabenen zu fordern, wie Großmama es gewesen war, einen, der sie beschützte, statt sie auszubeuten?

Vielleicht, aber die Vielleichts hatte ich satt.

Ich war keine Heilerin, aber ich konnte mein Leben gegen das ihre eintauschen, ohne jemandem wehzutun, der es nicht verdient hatte. Erneut betrachtete ich das Bild. Ich wusste, was Großmama tun würde. Was Mama und Papa getan hatten. Ich musste diejenigen schützen, die ich liebte.

Es tut mir leid, Tali. Ich wollte sie nicht allein lassen, aber wenn diese Leute mich hatten, hatten sie keinen Grund, ihr wehzutun. Und wenn sie erst fort waren, gäbe es auch niemanden mehr hier, der den anderen wehtun konnte. Es tat mir nur leid, dass Vinnot nicht hier war.

»Ich nehme dein Angebot an«, sagte ich und schenkte Zertanik ein Lächeln. »Und als Erstes werde ich das hier für dich leeren.«

Er strahlte und rieb sich doch tatsächlich die Hände.

Ich schloss die Augen, presste die Handflächen gegen den Block und stellte mir drei Pusteblumen im Wind vor.