Einundzwanzigstes Kapitel
Alle hasteten herbei und schnappten sich eine Pritsche, zerrten sie fort von der Tür wie Bergarbeiter, die in einer Pynviummine in der Falle saßen und sich nach einem Schachteinbruch selbst ausgraben mussten. Holz krachte geräuschvoll zu Boden, fiel klappernd auf einen immer größer werdenden Haufen an einem Ort, wo einmal mit Schmerz vollgepumpte Lehrlinge gewimmert hatten. Danello fand ein Schwert, das direkt vor der Tür lag, gerade außerhalb der Reichweite einer fahlen, reglosen Hand. Das Schwert war nicht so schmal wie sein Rapier, aber er sah aus, als wüsste er es zu gebrauchen.
Ich wandte den Blick von der Hand ab und sah mich nach Tali um. »Du gehst mit Danello voran«, sagte ich. »Zeig ihm den Weg nach draußen. Ich komme nach.«
Sie nickte. »Aber bleib nicht zu weit zurück.«
Die Lehrlinge verließen hinter ihnen den Raum. Ein paar bückten sich, um eines der heruntergefallenen Schwerter an sich zu nehmen, die im Gang vor dem Turmzimmer auf dem Boden lagen. Ich umrundete den Wachmann, in den ich den Schmerz geschiftet hatte. Einige der anderen stöhnten und zuckten, aber er rührte sich nicht. Ein Teil von mir wollte nachsehen, ob er noch lebte, aber ich fürchtete mich zu sehr vor der Antwort.
Auf dem Korridor war noch ein Dutzend weiterer Wachleute, also hatte der Erhabene offenbar den größten Teil der Wachen innerhalb des Gebäudes auf die Suche nach uns geschickt. Auch diese Männer wollte ich nicht ansehen, aber ich musste wissen, ob der Älteste Vinnot unter den Bewusstlosen und den ...
Nein, das wollte ich nicht einmal denken. Sie waren alle nur bewusstlos. Vinnot fand ich stöhnend am oberen Ende der Treppe. Ich lächelte. Sollte er doch das in seinem Notizbuch vermerken! Ich widerstand dem Wunsch, ihm im Vorbeigehen einen Tritt zu verpassen, wandte mich von ihm ab und ging die Treppe hinunter.
Ich folgte den Lehrlingen, die, angeführt von Danello und Tali, durch die Gänge eilten. Unterwegs überprüfte ich jede Abzweigung, jeden Raum, an dem wir vorüberkamen. Nirgendwo waren Wachleute, aber lange konnte es so nicht bleiben.
Als wir im ersten Stock anlangten, ging ein nervöses Flüstern durch die Reihen.
»Wachen!«
»Was sollen wir tun?«
»Pst, sie werden dich hören.«
»Halt«, rief einer der Wachmänner, doch über die Lehrlingsschar hinweg konnte ich weder ihn sehen noch erkennen, wie viele andere bei ihm waren. »Was habt ihr hier zu suchen?«
»Wir gehen«, sagte Danello. Ich konnte mir den gefährlichen Zug um sein Kinn lebhaft vorstellen, vorgereckt wie vermutlich auch sein Schwert.
»Wer seid ihr?« Eine andere Stimme, jünger als die des ersten Wachmanns.
»Wir sind die toten Lehrlinge«, sagte Tali. »Nur dass wir nicht tot sind. Und jetzt gehen wir.«
Keine Antwort. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, war aber nicht groß genug, über die Köpfe hinwegzublicken.
»Ihr könnt keine Lehrlinge sein...« Stockend griffen andere Stimmen seine Worte auf. Mehr als zwei Wachen, so viel stand fest. Ich sah mich im Kreuzungsbereich der Korridore nach etwas um, das mir zu einem besseren Überblick verhelfen konnte und fand ...
»Lanelle«, keuchte ich. Als sie um die Ecke bog, stand sie mir plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
Mit geweiteten Augen wich Lanelle vor mir zurück, aber sie humpelte nicht. Also war sie geheilt worden!
»Mestov, ich bin's, Dima«, rief ein Lehrlingsmädchen, an eine der Wachen gewandt. »Bitte, ihr müsst uns gehen lassen.«
»Dima ? O ihr Heiligen, man hat uns gesagt, ihr wärt tot!«
Nun überschlugen sich die Wachen vor lauten Fragen, schrien wild durcheinander. Offensichtlich hatten sie keine Ahnung, was weiter oben vor sich gegangen war.
»Bleib weg von mir!«, sagte Lanelle derweil, nicht laut genug, die Wachen zu übertönen, aber laut genug, um Kiones Aufmerksamkeit zu erregen. Er drehte sich um.
»Du lebst!«, keuchte er und sah nicht minder geschockt aus als ich.
Lanelle machte kehrt und rannte den Gang hinunter, geradeweg in Richtung...
Bei allen Heiligen! Dieser Gang führte in den Flügel, in dem der Erhabene residierte. Vermutlich war sie auf dem Weg zu einem Ältesten, um ihren Posten zu retten und uns noch einmal zu verraten.
Ich raste hinter ihr her. Kione rief ihren Namen und folgte uns. Seine Stiefel prallten lauter auf den Boden als meine Sandalen. Lanelle bog vor uns um eine Ecke.
»Lanelle!«, schrie er so heiser, dass es beinahe einem Flüstern glich. »Wo willst du hin? Wir müssen hier raus.«
Er begriff immer noch nicht, was sie getan haben musste. Ich stellte mir vor, wie sie auf ihrer Pritsche lag und der Erhabene sich über sie beugte und Antworten verlangte. Ich bezweifelte, dass sie auch nur einen Moment gezögert hatte, ihm alles zu erzählen. O ihr Heiligen, ich wette, sie hatte ihm sogar von sich aus Informationen über Tali und mich angeboten, um sich eine Heilbehandlung zu erkaufen.
»Warum bleibt sie nicht stehen?«, fragte Kione.
Ich lief weiter, vorbei an den Fenstern, die zur Stadt hinausführten. Über dem Marktplatz stand eine Rauchsäule. Ich konnte keine blauen Uniformen in der Menge dort unten ausmachen, aber ich ging davon aus, dass sich Gildegrün und Baseeriblau ihren Weg durch die Menge säbelten, wie sie es auch bei jedem anderen Aufruhr getan hatten.
Kione zog an mir vorbei, und ich folgte ihm und Lanelle in einen rechteckigen Raum. Hier war es beinahe so still wie in einem Tempel. Auf dem Boden lagen dicke grüne Teppiche, und in der gegenüber liegenden Wand führte eine Doppeltür zu einem weiteren Raum. Eingerahmt von Statuen standen gepolsterte Bänke zu beiden Seiten der Tür. Kione hatte den Raum halb durchquert, aber Lanelle näherte sich bereits der Tür auf der anderen Seite.
Meine Schritte stockten. Ich kannte diesen Saal, auch wenn Jahre vergangen waren, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Wir befanden uns vor dem Amtszimmer des Erhabenen.
Plötzlich tauchte aus einer Nische ein Wachmann auf und packte Lanelle. Sie schrie auf und versuchte, sich loszureißen.
»Lass sie los!«, brüllte Kione und stürzte sich auf den Wachmann. Ehe er ihn erreicht hatte, tauchte ein anderer Wachmann auf und stieß ihn zu Boden.
»Lass sie los! Ich arbeite auch hier«, sagte Kione und versuchte erfolglos, sich zu befreien.
»Nicht in diesem Flügel!«
Ich machte kehrt, um Fersengeld zu geben, ehe die Wachen auf mich aufmerksam werden konnten, als mich eine Wand aus Grün rammte. Vielleicht war es auch umgekehrt. Jedenfalls stürzte ich rücklings zu Boden und landete auf meinem Hinterteil.
»Eine Menge los«, bemerkte der Wachmann, der drohend direkt über mir aufragte.
»Das gibt sich wieder«, sagte ein anderer. »Wart's ab.«
Der Wachmann zerrte mich mit einer Leichtigkeit auf die Füße, als hätte er nur ein schlafendes Huhn aufgesammelt. Ich trat ihm gegen das Schienbein und geriet vor Schmerz ins Stolpern.
»Au!«, schrie ich auf. Meine Zehen brannten vor Schmerz.
Er lachte.
Mit Tränen in den Augen hob ich den Fuß und rieb mir die geprellten Zehen. Erst jetzt erkannte ich die silbernen Beinschienen an seinen Unterschenkeln. Den Schmerz geprellter Zehen auf ihn zu übertragen, würde ihn vermutlich kaum kümmern und gewiss nicht reichen, ihn lange genug abzulenken, dass ich die Flucht ergreifen konnte.
Wenigstens hatten sie auch Lanelle gefangen.
Lanelle schlug mit der flachen Hand nach dem Wachmann, der sie am Arm festhielt, ohne die geringste Wirkung zu erzielen. »Ich muss mit dem Erhabenen sprechen«, sagte sie.
Ein Flügel der Doppeltür wurde geöffnet, und ein Mann in einem Berg von Seide trat heraus. Alle Kraft wich aus meinen Knien, und nur der feste Griff des Wachmanns an meinem Arm hielt mich noch auf den Beinen.
»Was ist das hier für ein Lärm?«, fragte Zertanik mit ärgerlicher Miene. Die einem Lächeln wich, als er aufblickte und mich entdeckte. »Ah, Merlaina, wie schön, dich wiederzusehen.«
»Herr, Herr!« Lanelle wedelte aufgeregt mit der Hand, um Zertanik auf sich aufmerksam zu machen. »Das ist das Mädchen, von dem ich dem Ältesten Vinnot erzählt habe. Sag den Wachen, sie sollen mich loslassen.«
Kione hörte auf zu zappeln. »Lanelle, was tust du?«
»Ich habe die Lehrlinge auf dem Hauptflur gesehen. Sie fliehen!«
Eine gedämpfte Stimme erscholl aus dem Inneren des Raums.
»Was war das?«, fragte Zertanik und kehrte in das Amtszimmer zurück. Einen Moment später kam er zurück und winkte den Wachen zu. »Bringt die Mädchen rein«, sagte er und trat zur Seite.
»Was ist mit ihm?«, fragte der Mann, der Kione festhielt. Derweil starrte Kione Lanelle unentwegt mit gequälter Miene an.
»Erst mal in die Arrestzelle.« Zertanik grinste. »Er könnte später noch nützlich für uns sein.«
»Was ist hier los?«, fragte ich, wohl wissend, wie dumm sich das anhören musste.
»Deine Hartnäckigkeit ist wahrlich bewundernswert, meine Liebe. Bitte, komm herein.«
Sie zerrten erst Lanelle und dann mich hinein. Ich konnte den Blick nicht von Zertanik abwenden.
»Das ist die Schifterin?«, fragte der Erhabene. Ein Krokodil musste man nur einmal sprechen hören, um sich für alle Zeiten an seine Stimme zu erinnern.
Ich drehte mich nach der Stimme um und blinzelte in dem hellen Licht, das durch die großen Fenster hereindrang. Alles glitzerte, als wäre es mit Juwelensplittern überzogen - Möbel, Gemälde, der Kleinkram auf den Tischen - sogar die Vorhänge funkelten. Der Erhabene hatte das Innere des Raums um einen Haufen Kunst bereichert, doch nichts passte zusammen, so als hätte er ein Museum ausgeraubt.
»Ja«, sagte Lanelle. »Und noch viel mehr, glaube ich.«
Der Erhabene starrte mich an. »Du bist das Mädchen aus dem Turmzimmer. Das mit den Anfällen. Du siehst inzwischen viel besser aus als bei unserer letzten Begegnung.«
»Ich erhole mich schnell.«
»Das habe ich schon gehört.« Er winkte Lanelle mit der Hand zu. Auf Drängen des Wachmanns setzte sie sich auf einen dick gepolsterten Sessel in der Nähe einer mit grünem Gewebe drapierten Bank. »Sie hat Vinnot ein paar interessante Dinge erzählt.«
»Verräterin«, platzte ich heraus, unfähig, mich zurückzuhalten. Sie musterte mich finster und verschränkte die Arme vor der Brust.
Zertanik lachte. »Sagte ich nicht, dass sie Schneid hat? Nun gut, Merlaina, meine Liebe, bitte setz dich. Wir haben Geschäftliches zu besprechen.« Er selbst nahm auf einem breiten Sofa Platz und deutete mit einer Hand auf einen mit Schnitzereien verzierten Stuhl mit grünen Troddeln, worauf der Wachmann mich auf die Sitzfläche drückte. Wenige Sekunden später öffnete und schloss sich die Tür, und ich blieb mit den drei Personen zurück, mit denen ich am wenigsten allein sein wollte.
Der Erhabene wandte sich Lanelle zu, woraufhin sie sich in ihrem Sessel aufrichtete. »Sie kann mehr als nur transferieren, sagst du?«, fragte er. Ich musterte ihn. Etwas in seinem Ton klang sonderbar, als wäre er nervös. »Vinnot hat davon nichts erwähnt.«
»Äh, na ja«, stammelte sie und warf mir einen verstohlenen Blick zu, als zögere sie, sich wirklich als die Ratte zu erweisen, die sie, wie ich längst wusste, in der Tat war. »Vielleicht...«
»Was hast du ihm erzählt?«, bellte der Erhabene.
Lanelle erschrak und klammerte sich an den Armlehnen des Sessels fest. »Sie hat Pynviumstücke nach uns geworfen, und sie haben Schmerz geblitzt.«
»Einundzwanzig Stücke, wenn ich mich recht erinnere«, sagte Zertanik. Er schien sich wirklich zu amüsieren.
Lanelle starrte ihn für einen Moment verwirrt an, ehe sie den Blick wieder auf den Erhabenen richtete. »Schon möglich. Ich glaube, dabei hat sie sie geleert.«
»Geleert?« Dieses Mal richtete der Erhabene sich auf seinem Stuhl auf. Ich hingegen wünschte, ich könnte in dem meinen versinken und einfach verschwinden. »Was genau hat sie getan. Lass kein Detail aus.«
Lanelle griff in ihre Tasche und zog einen allzu vertrauten Pynviumklumpen hervor. »Sie hat den an mir entladen, und danach ist sie mit diesem Jungen weggelaufen, den ich gleich neben mir gespürt habe. Ich konnte wieder genug Schmerz in den Brocken ableiten, um Hilfe zu rufen. Ich weiß, dass er voll war, bevor sie das getan hat.«
Zertanik lachte und applaudierte mir. »Du bist eine wahre Freude, meine Liebe. Ich hatte keine Ahnung, dass du über solche Gaben verfügst. Welch ein Glück! Sie könnte enorm wertvoll für uns sein«, fügte er an den Erhabenen gewandt hinzu.
Der schien da nicht so sicher zu sein, wirkte aber noch aufgeregter. »Falls sie das wirklich kann.«
»Sie hat es getan! Ich habe es gesehen«, beharrte Lanelle.
Der Erhabene schnaubte verächtlich, und Lanelle klappte den Mund zu. Offensichtlich wollte sie etwas sagen, fürchtete sich aber zu sehr.
Genau wie ich.
»Die verworrenen Erinnerungen Eurer Wachen bestätigen ihre Worte«, sagte Zertanik. »Denkt nur, was das bedeutet. Dieses Talent ist einzigartig.«
Der Erhabene schürzte die Lippen und starrte mich an, tippte mit einem langen Finger gemächlich auf die Armlehne seines Stuhls. Endlich wandte er sich an Lanelle.
»Danke, das ist alles«, sagte er.
»Herr?« Sie regte sich nicht. »Was ist mit meiner Beförderung?«
»Sprich mit Vinnot«, gab er höhnisch zurück. Ich hatte das Gefühl, Vinnot würde nicht mit ihnen davonsegeln, wenn der Erhabene und Zertanik die Flucht ergriffen. »Was weiß ich, was er dir versprochen hat.«
Lanelle sprang auf und lief rot an. »Aber ich habe tagelang in diesem schrecklichen Raum gearbeitet. Sie hätte mich beinahe umgebracht! Vinnot hat mir gesagt, wenn ich Informationen über sie liefere, bekomme ich meine vierte Litze!«
Ich schäumte, konnte aber nichts anderes tun, als sie böse anzustarren. Wie konnte sie nur? Jedes bisschen Schuld, das ich empfunden hatte, weil ich sie verletzt hatte, löste sich in nichts auf. Diese Verräterin.
»Das ist eine Angelegenheit zwischen dir und Vinnot.« Er deutete auf die Tür. »Nun geh. Oder muss ich erst die Wachen rufen und dich entfernen lassen?«
Nicht einmal Lanelle konnte diese Drohung entgehen. Sie warf mir noch einen letzten, hasserfüllten Blick zu und stürmte zur Tür hinaus.
»Nun gut, Merlaina«, sagte der Erhabene und richtete seine stechenden blauen Augen auf mich. »Reden wir über das Leeren von Pynvium.«