Fünfzehntes Kapitel
Wir trafen direkt ins Ziel. Ich landete mitten auf dem einen Wachmann, während Soek den anderen umriss. Fluchend und schreiend endeten wir alle auf einem Haufen. Dann wurden beide Wachen still; der Aufprall auf dem harten Boden hatte sie bewusstlos geschlagen.
Abgekämpft und zerschlagen stemmte ich mich hoch und rannte hinter den nächstgelegenen Strauch. Die Gartensträucher, die eher nach ästhetischen als nach strategischen Gesichtspunkten angepflanzt waren, sahen zwar hübsch aus, aber sie boten so gut wie keine Deckung. Soek kauerte sich hinter mich. In seinem Gesicht spiegelte sich eine sonderbare Mischung aus Furcht und Begeisterung.
»Wir haben's geschafft! Ich kann nicht fassen, dass wir da rausgekommen sind.«
»Pst! Wir haben das Gildegelände noch nicht verlassen.« Bisher waren keine weiteren Wachleute aufgetaucht, aber bei meinem Glück würden sie uns schnappen, ehe wir das Gelände verlassen hatten. »Hier entlang, und bleib unten.«
»Da sind sie! Hinter dem Hibiskus!«, schrie ein Mann vom Dach herunter, als wir den Hofgarten umrundeten.
Meine Muskeln protestierten, aber ich trieb sie weiter an, rannte auf das offene Tor und die Sicherheit in der Menschenmenge dahinter zu. Dieses eine Mal waren die Heiligen auf meiner Seite, und der sonst stets präsente Soldat auf der Brücke war fort, zweifellos von seinem Posten abberufen, um bei der Suche zu helfen. Wir rannten zur Straße, so schnell die Füße uns tragen wollten. Soek tauchte gerade noch vor einem Hafenarbeiter zur Seite, während ich beinahe mit zwei Mädchen zusammengestoßen wäre, die einen Korb mit Früchten trugen.
»Pass doch auf!«
Ich sah mich über die Schulter um. Die Wachen hatten innegehalten, als sie die Straße erreicht hatten, und drehten die Köpfe hin und her. Wir rannten weiter, schlängelten uns zwischen Flüchtlingen, Soldaten und Bauern hindurch, bis ich keine stampfenden Stiefel und keine klirrenden Schwerter mehr hinter mir hören konnte. Eine Frau trat aus einem Geschäft, und ich zerrte Soek hinein, ehe die Tür ins Schloss fallen konnte. Drinnen schlüpften wir hinter ein Gestell voller Kästen mit Marmor-Einlegearbeiten. Der Inhaber musterte finsteren Blickes unsere zerfetzten und blutigen Uniformen und legte die Stirn in Falten.
»Wir haben da ein kleines Problem«, sagte ich.
»Und kein Geld, um was zu kaufen, schätze ich. Macht, dass ihr Land gewinnt!«
Zorn brodelte in mir hoch wie in einem überkochenden Kochtopf. Ich griff in meine Tasche und zog ein paar Münzen hervor. »Ich habe Geld«, sagte ich und schwenkte die Oppa vor seinem Gesicht. »Und ich werde es woanders ausgeben, weil du so ungehobelt bist.«
»Mach das, 'Veg!«
Ich stürmte nach draußen und widerstand dem Bedürfnis, die Tür zuzuknallen. Laute Geräusche erweckten nur Aufmerksamkeit, und einen Baseeri-Händler zu erschrecken war es nicht wert, ein Risiko einzugehen.
Soek kicherte und fuhr sich mit den Fingern durch die wirren Locken. »Ich muss dran denken, dass ich mich bei dir besser nie unbeliebt mache.«
»Ich bin gar nicht so schlimm«, murmelte ich und fühlte, wie die Hitze in meine Wangen stieg.
»Schlimm? Du bist fantastisch. Du hast mir heute das Leben gerettet.« Er lächelte mir zu, und ich spürte, dass ich schon wieder errötete.
»Wir müssen von der Straße verschwinden, bis die Wachen wieder zurück ins Gildenhaus gegangen sind.«
Wir versteckten uns, so gut wir konnten, in der Menge, bis ich ein Gebüsch entdeckt hatte, das groß genug war, dass wir beide uns darin verkriechen konnten. Noch konnte niemand den Soldaten Anweisung erteilt haben, Ausschau nach uns zu halten, aber wer wusste schon, wie schnell sich das ändern würde ?
»Meinst du, deine Schwester hat es geschafft?«, flüsterte Soek. Nun, da die Aufregung nachließ, sah er so müde aus, wie ich mich fühlte.
»Ich hoffe es.« Wenn wir es mit der halben Gilde im Nacken geschafft hatten, musste Tali es auch geschafft haben. Aber in diesem Fall müsste eigentlich die halbe Gilde auf der Suche nach ihr sein.
Ich schluckte. Meine Kehle trocknete aus. Nie war ein Kübel Wasser in Sicht, wenn man ihn brauchte. Nicht, dass man uns irgendwo etwas serviert hätte. Der ungehobelte Ladenbesitzer hatte durchaus einen Grund für seinen finsteren Blick gehabt - keinen guten Grund, aber einen verständlichen. Meine geborgte Lehrlingsuniform war überzogen mit Schmutz, Ruß, Blut und Vogelkot. Wie bei der Gilde insgesamt: Die ganzen hässlichen Details fielen einem erst auf, wenn man ihr zu nahe kam ...
»Was sollen wir ...«
»Warte!«, brachte ich ihn zum Schweigen, als für einen Moment ein vertrautes Gesicht in der Menge auftauchte. Danello? Er sah aus wie Danello, aber er trug einen langen Fischermantel. Sogar zugeknöpft, trotz der Hitze. Ich glitt aus dem Gebüsch heraus, um genauer hinzusehen, als Aylin und Tali in mein Blickfeld gerieten.
»Tali!« Ich ging auf sie zu. Sie schreckte auf, rannte dann zu mir und überfiel mich mit einer gewaltigen Umarmung.
»Du lebst!«, stellte ich in dem Moment fest, in dem sie rief: »Du bist entkommen!«
»Ich hab mir solche Sorgen gemacht«, sprudelte es aus mir heraus. »Ich habe nicht geglaubt, dass du es überhaupt irgendwann schaffen würdest, und dann ist der Erhabene gekommen - und, bei allen Heiligen, Tali, tu mir so etwas nie wieder an!«
»Ganz bestimmt nicht, versprochen.«
Aylin schlang die Arme um uns beide. »Du auch nicht, Nya. Ich wäre beinahe gestorben, als Tali mir erzählt hat, was du getan hast.«
Wir lagen uns in den Armen und hüpften umher wie Verrückte, während die Passanten um uns herum uns anstarrten wie, na ja, Verrückte.
»Wir sollten besser von der Straße verschwinden«, sagte Danello. Der Mann in dem albernen Mantel war tatsächlich er. Er sah sich nach den Soldaten um und überprüfte die Verschlüsse des Mantels, ehe er uns sacht in eine mit Gerümpel vollgestellte Seitengasse drängte.
»Du lebst auch!« Ich umarmte ihn und schob ihn dabei versehentlich gegen einen Kistenstapel. »Geht es den Zwillingen gut?«
»Bestens. Tali hat uns alle geheilt.« Wir standen beisammen, sagten nichts mehr, doch dann löste sich auch diese Umarmung auf, und er trat zurück, beide Wangen so rot wie Beerensaft. »Nya, wir verdanken dir unser ...« Er legte die Stirn in Falten und musterte etwas hinter uns. »Jemand beobachtet uns.«
Ich drehte mich um, und Soek trat auf uns zu.
»Hi«, sagte er.
»Wer bist du?«, fragte Danello und öffnete seinen Mantel. Seine Hand schoss zu einem Rapier an seinem Gürtel.
Ich riss die Augen auf. »Was hast du mit dem Ding vor?« Es sah nach einer guten Handwerksarbeit aus, tödlicher Stahl, vermutlich ein Erbstück.
Danello antwortete nicht, starrte nur Soek mit einem gefährlichen Funkeln in seinem Blick an.
»Das ist Soek«, erklärte ich. »Einer der Gildenlehrlinge. Wir haben uns gegenseitig bei der Flucht geholfen.«
Soek schüttelte kichernd den Kopf. »Ich habe nicht viel getan. Nya ist hier die Heldin. Ich schulde ihr mein Leben.«
Ich errötete erneut, und das Funkeln in Danellos Augen verwandelte sich in einen Ausdruck der Sorge. Ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Es ist schon in Ordnung, Danello.«
Er ließ zu, dass ich seine Hand wegzog, und der Mantel schloss sich wieder über dem Rapier. Beides zu tragen war ein großes Risiko. Die Leute in der Stadt trugen normalerweise keine derartigen Mäntel, folglich konnte das Kleidungsstück allein schon genauso viel Aufmerksamkeit erregen wie das Rapier.
»Was machst du hier mit dieser Waffe ?«
»Wir waren auf dem Weg, um dich zu retten.«
»Danello hat alles geplant«, sagte Tali. »Wir wollten wieder ins Gildenhaus rein und dieses Mal dich retten.«
»Ach ja?« Ich wusste nicht, ob ich gerührt oder sauer sein sollte. Nach allem, was ich getan hatte, um sie rauszuholen, wollte sie wieder rein und das Risiko eingehen, erneut geschnappt zu werden?
»Wir konnten dich doch nicht einfach dort lassen«, sagte sie.
»Wir hatten alle solche Angst um dich«, sagte Aylin. »Tali hat uns erzählt, dass du ihren Schmerz und ihren Platz übernommen hast. Ich kann gar nicht glauben, dass du so ...«
»... dumm sein konntest«, beendete Danello den Satz an ihrer Stelle.
»Danello!«, keuchte Aylin.
Mit einem raschen Blick auf Soek ergriff Danello meine Hand. Seine Kiefermuskulatur war angespannt, seine Augen voller Sorge. »Du hättest nicht allein gehen dürfen, Nya. Du hattest das Pynvium, du hättest einen anderen Heiler zu uns bringen können.«
»Zurückzugehen war die einzige Möglichkeit, Tali rauszuholen.«
»Nein, war es nicht. Es war nur die einzige Möglichkeit, an die du gedacht hast.« Er strich sich mit der Hand über die Lippen und sah aus, als wisse er nicht, ob er mich ohrfeigen oder umarmen sollte. »Du hast uns geholfen«, sagte er. »Was bringt dich auf den Gedanken, wir würden dir nicht helfen?«
Mein Mund klappte auf, hatte aber keine Antworten mehr zu bieten. Warum hatte ich nicht daran gedacht, dass er mir helfen würde ? Rechnete ich nicht mehr damit, dass Leute einander auch dann halfen, wenn sie nicht zur Familie gehörten?
Seit langer Zeit hatte sich niemand um mich gesorgt außer Tali und Aylin, niemals im Leben ein Junge. »Warum hättest du das tun sollen? Du hast eine eigene Familie, für die du sorgen musst.«
»Man sorgt erst für die Familie, dann für die Freunde und dann für die Nachbarn, wenn man dazu imstande ist.« Er lächelte verlegen und rieb mit dem Daumen über meine Fingerknöchel. Mir fiel auf, wie zerkratzt und schmutzig sie waren, aber ich zog die Hand nicht weg. »Das ist etwas, was mein Paps immer sagt.«
Aylin nickte. »Meine Mutter hat das auch gesagt. Geveger halten zusammen. Diese gierigen Baseeris würden uns die Kleider vom Leib stehlen, wenn wir keine Freunde hätten, die auf sie aufpassen.«
»Äh, he, Nya«, sagte Soek und zupfte an meinem Ärmel. »Ich unterbreche euch nur ungern, aber da vorn ist irgendwas los.«
Ich blickte auf. Auf der Straße herrschte dichtes Gedränge, aber das war heutzutage nicht ungewöhnlich. »Ich sehe nichts.«
»Dann sperr die Ohren auf.« Er trat zum Ende der Gasse und legte den Kopf schief. Eine Sekunde später folgte Aylin seinem Beispiel.
»Nya, er hat recht«, rief Aylin und winkte uns heran. »Alle reden über die Gilde.«
Wir ließen die Sicherheit der beengten Gasse hinter uns und traten ein paar Schritte weit auf die Straße.
»... irgendeine Ankündigung ...«
»... wegen des Fährenunglücks ?«
»... was sollen wir ohne ...«
Furcht breitete sich in meinem Inneren aus. Die Leute rannten mit besorgten Mienen in Richtung Gilde. Über die ängstlichen Stimmen hinweg erklang das Läuten der Versammlungsglocke.
»Wir müssen herausfinden, was los ist«, sagte ich.
»Ich würde lieber nicht dahin zurückgehen«, sagte Soek nervös.
»Hast du Familie hier?«, fragte ich ihn. »Freunde?«
»Niemanden. Ich war ganz allein in Verlatta, aber ich bin schon vor Beginn der Belagerung dort rausgekommen. Ich wusste, das würde schlimm werden. Ich bin gegangen, hierhergekommen und habe mich der Gilde angeschlossen. Danach ging's bergab.«
»Uns wird nichts passieren, wenn wir zusammenbleiben. Danello hat sein Rapier. Und unter all diesen vielen Leuten wird uns niemand erkennen. Wir gehen einfach rüber, hören uns an, was sie zu sagen haben, und verschwinden wieder.«
Soek sah immer noch recht unsicher aus, nickte aber. »Also gut. Ich vertraue dir.«
Ich vertraute ihm auch, wenn ich auch nicht sagen konnte, warum. Vielleicht, weil wir beide anders waren und weil wir beide viel riskierten, wenn wir uns in die Nähe der Gilde wagten.
Danello nahm meine Hand. »Bleib dicht bei mir, falls es Ärger gibt.«
Wir verschmolzen mit der Menge und ließen uns zum Gildeplatz treiben. Die Versammlungsglocke klang hier lauter, hörte aber nach einer Minute auf zu läuten, und das letzte scharfe Ringen verhallte in der späten Morgenbrise. Eine kleine Plattform war aufgestellt worden, und die Menge verstummte, als Meisterheiler Ginkev sie betrat.
Ich schluckte und kämpfte gegen das Verlangen an, mich ganz klein zu machen, obwohl er mich in der Menge unmöglich ausmachen konnte. Dennoch drängte ich mich näher an Danello heran und suchte hinter seinen breiten Schultern Schutz.
»Guten Morgen«, fing Ginkev an, und seine Stimme klang gleichzeitig traurig und unsicher. »Ich habe schlechte Nachrichten zu verkünden und bitte euch alle, Ruhe zu bewahren.«
Ein nervöses Murmeln brandete in der Menge auf.
»Vor fünf Tagen wurden mehrere Heiler von einem unbekannten Leiden befallen. Sie wurden sofort unter Quarantäne gestellt, aber inzwischen steht fest, dass auch der Rest der Lehrlinge und Jungheiler dieser Krankheit ausgesetzt war. Da viele der jüngst Erkrankten bei dem tragischen Fährenunglück vor zwei Tagen gearbeitet haben, vermuten wir, dass sie in ihrem geschwächten Zustand anfälliger waren und deshalb der Krankheit keinen Widerstand leisten konnten.«
Mehr nervöses Gemurmel. Die Leute um uns herum sahen verängstigt aus. Auch während des Krieges hatte es Krankheiten gegeben, vor allem gegen Ende, als nicht mehr genug Leute da gewesen waren, um die Leichen aus den Straßen fortzuschaffen.
»Trotz all unserer Bemühungen konnten wir die Natur dieser Krankheit bislang nicht feststellen und sind daher nicht in der Lage, sie zu heilen.«
Langsam breitete sich erste Panik in der Menge aus. Ginkev reckte die Hände hoch.
»Das ist kein Grund zur Furcht. Die Krankheit befällt nur Schmerzlöser, und sie müssen dafür in direkten Kontakt zu den Befallenen kommen, die sie verbreiten. Die allgemeine Bevölkerung ist vor dieser Krankheit vollkommen sicher.« Er legte eine Pause ein. »Bedauerlicherweise sind innerhalb der letzten Stunde alle Betroffenen verstorben.«
Keuchen und schockierte Aufschreie rasten durch die Menge. Ich war wie betäubt, so sehr, dass ich gar nichts mehr fühlen konnte.
»Sind noch Heiler übrig?«
»Wer kümmert sich jetzt um unsere Verwundeten?«
»Werden neue Heiler herkommen?«
»Seid versichert, der Erhabene ist tief bekümmert über diesen schrecklichen Verlust und arbeitet bereits mit Herzog Verraad an einer Verbesserung unserer Lage. Um sicherzustellen, dass nicht noch mehr Heiler erkranken, hat der Erhabene die Gilde vollständig unter Quarantäne gestellt. Er bittet alle, die derzeit einer Heilung bedürfen, sich an die Schmerzhändler zu wenden. Die Gilde wird von nun an enger mit ihnen zusammenarbeiten, um die Versorgung der Bevölkerung von Geveg zu gewährleisten.«
Nein! Das konnte nicht wahr sein! Ich hatte die Lehrlinge doch gerade erst gesehen. Wir hatten doch keine Stunde für unsere Flucht gebraucht. Ganz sicher konnte ich in dem Punkt allerdings nicht sein. Es war alles so ein Durcheinander. Ich blickte zur Sonne, die direkt über uns stand. Hatte sie nicht vorher viel tiefer gestanden?
Geschrei brach aus, und die Menge drängte nach vorn. Danello rückte näher an mich heran und legte schützend einen Arm um meine Schulter, was das Gerempel irgendwie noch schlimmer machte. Morgen würden sogar meine blauen Flecken blaue Flecken haben. Ginkev versuchte sich über den Lärm hinweg Gehör zu verschaffen, um die Menge zu besänftigen, aber niemand hörte ihm mehr zu. Dafür wurde das zornige Murren lauter.
»Lügner!«
»Sie sind gar nicht tot! Der Herzog hat sie in seinen Krieg entführt, oder etwa nicht?«
Ein Stein flog durch die Luft und traf Ginkev an der Schläfe. Er schrie auf und stürzte von der Plattform herab. Leute stürmten voran, zwängten sich zwischen uns, drängten uns auseinander.
»Nya!«, rief Danello und griff nach mir.
Ich stürzte auf ihn zu, versuchte, seine Hand zu fassen, aber die Menge riss mich fort von ihm, schwemmte mich auf das Gebäude der Gilde zu.