Dreizehntes Kapitel
Ich durfte jetzt nicht versagen. Tali war noch nicht in Sicherheit. Danello und die Zwillinge lagen immer noch im Sterben. Und so viele Heiler litten Höllenqualen.
»Herr«, sagte Tali mit mehr Respekt in der Stimme, als ich es je von ihr erlebt hatte, »mit Eurer Erlaubnis würde ich gern in den Behandlungstrakt zurückkehren. Meine Visite beginnt bald.«
Lanelle sah aus, als würde sie jeden Moment aus der Haut fahren, schwieg aber. So wie ich; nicht das kleinste Wimmern eines Abschieds kam über meine Lippen. Wenn die Konfrontation mit dem Erhabenen Tali endlich dazu brachte, die Flucht zu ergreifen, dann war ich bereit, die Ratte den ganzen Tag lang anzustarren.
Er sah Tali an und nickte. »Melde dich bei dem Ältesten Tyleen.«
»Ja, Herr.«
»Du, geh mit ihr«, fügte er hinzu.
»Herr?« Kione hörte sich so schockiert an, wie ich mich fühlte. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass er mit im Raum war. Vielleicht hatte er Lanelle davon abgehalten, mehr Wachen herbeizurufen.
»Ich möchte nicht, dass heute irgendjemand allein herumläuft. Sorgt dafür, dass jeder eine Eskorte bekommt.«
»Ja, Herr.«
Mein Hirn fühlte sich so schlammig an wie Sumpfwasser.
Ich atmete einmal tief ein, ließ einen Teil des Schmerzes wegsickern. Kione war nun mit Tali gegangen, und sie war auf dem Weg nach draußen. Würde er sie gehen lassen? Fraglich, da das bedeutete, dass er sich dem Erhabenen widersetzen müsste, aber vielleicht würde er auch jetzt »nichts tun«, während sie sich im Zuge der Visite davonschlich. Vielleicht...
Ich erschrak. Der Erhabene studierte mich, starrte mich aus himmelblauen Augen an, als wüsste er, welche Gedanken mir durch den Kopf stolperten. Er war jünger, als ich angenommen hatte, kaum vierzig. Er machte sich nicht die Mühe, einen Heilerzopf zu flechten, sondern trug das schwarze Haar glatt und kurz geschnitten. Ich wandte die Augen ab, versuchte, meinem unsteten Blick den Anschein eines Deliriums zu verleihen.
»Hat sie irgendwelche von den Symptomen gezeigt?«, fragte der Erhabene mit ruhiger Stimme. Lanelle hatte ebenfalls Symptome erwähnt. Suchten sie etwas?
»Nein, Herr. Nur die drei, von denen ich dem Ältesten Vinnot gestern berichtet habe. Aber ich kann kaum noch in die Nähe des Kovek-Mädchens gehen. Es tut schon aus mindestens drei Fuß Entfernung weh. Ich musste ihre Pritsche von denen der anderen abrücken.«
Trotz der Qualen spitzte ich die Ohren. Es tat weh, aus drei Fuß Entfernung ?
Der Erhabene nickte, und sein forschender Blick ruhte immer noch auf mir. »Ich schicke jemanden her, um sie fortzubringen. Zu eurer Sicherheit.« Die letzten Worte sprach er aus, als wären sie ihm gerade noch rechtzeitig in den Sinn gekommen.
»Bin ich hier in Gefahr, Herr?«, fragte Lanelle.
»Nein. Pass nur weiter gut auf, wie der Älteste Vinnot es dir aufgetragen hat. Ich lasse eine unserer Wachen hier vor der Tür. Wenn dir irgendetwas Verdächtiges auffällt, dann gibst du ihr sofort Bescheid.«
»Ja, Herr.«
Ich ließ meinen Blick zu dem Erhabenen zurückschweifen, und es fiel mir schwer, ihn anschließend wieder abzuwenden. Aus meinem Blickwinkel sah er groß aus, hatte aber keine breiten Schultern. Vermutlich hatte er nicht im Krieg gekämpft und nur die geheilt, die gekämpft hatten. Auf Seiten des Herzogs selbstverständlich.
»Herr?«, rief eine junge Stimme von der Tür. »Ältester Mancov fragt nach Euch. Er sagt, Sersin sei wieder wach.«
Seine Augen leuchteten auf, und er wandte sich ab, ehe die Panik meine Reglosigkeit durchbrechen konnte. Die Vierlitzerin. Sie würde mich beschreiben, aber sie würde zugleich Tali beschreiben.
Tali brauchte mehr Zeit, um von hier zu verschwinden. Ich atmete tief ein und ...
»Aaaayyyiii!« Schreien tat weh, aber ich brüllte, so laut meine Lunge mich ließ. Schlug mit allen vieren um mich, knirschte mit den Zähnen im Kampf gegen den Schmerz, den mir mein vorgetäuschter Anfall eintrug. Ich heulte, sabberte, warf mich hin und her.
»Sie hat schon wieder einen Anfall!«, rief Lanelle und raste herbei.
Der Erhabene ging in die Knie und packte meine Arme, drückte mich nieder auf die Pritsche und jagte überall, wo er mich berührte, neue Schmerzen in meinen Leib. Nur eine kurze Drehung, und ich könnte ihn packen. Könnte ihn um sich schlagend zu Boden schicken.
»Hat irgendjemand von den anderen einen Anfall erlitten?« Eine neue Stimme, älter und eher neugierig als besorgt.
»Nein, Ältester Vinnot«, sagte Lanelle.
Mindestens vier Leute standen jetzt im Raum, vielleicht mehr, und die meisten von ihnen würden mich aufspießen, sollte ich ihrem kostbaren Erhabenen etwas antun. Trotzdem packte ich nun seinen Arm, um Tali noch ein paar Sekunden mehr Zeit zum Verschwinden zu verschaffen. Danello brauchte sie, und ich brauchte beide, und zwar lebendig und in Sicherheit. Ich stellte mir vor, wie ich meinen Schmerz in den Erhabenen drückte, die einzige Person, die es mehr verdient hatte als alle anderen, sogar mehr als der Herzog. Zumindest war der Herzog bei seinen Mordabsichten uns gegenüber ehrlich gewesen. Ich hielt mich an dem Bild fest, während ich meine protestierend kreischenden Muskeln zwang, sich zu regen.
Ein Schatten regte sich am Rand meines Blickfelds, über der Schulter des Erhabenen. Dann eine tiefe Stimme, vielleicht die von Vinnot.
»Es könnte ein Problem mit den Muskeln ...«
»Nicht jetzt«, blaffte ihn der Erhabene an.
Ich bemühte mich, mich zu konzentrieren, aber Schmerz und Verzweiflung lähmten mich noch immer. Ich ließ meine Tränen mit den Tropfen kalten Schweißes rinnen. Mein Körper fühlte sich an, als hätte ich mich stundenlang gekrümmt und gewunden, aber es waren nur Minuten vergangen - wenn nicht Sekunden. Reichte das, um Tali aus dem Gebäude zu bringen?«
»Wenn die Anfälle anhalten, bindet sie ans Bett«, sagte der Erhabene.
»Ja, Herr.«
Er erhob sich und ließ mich im Nebel meiner Qualen zurück. Tiefe Stimmen unterhielten sich leise, zu leise, als dass ich sie hätte verstehen können. Dann fiel krachend die Tür ins Schloss.
Bitte, Heilige Saea, lass Tali entkommen, ehe ihnen klar wird, dass sie hier gelegen hat.
Schwarze und rote Strudel schlossen sich um mich herum. Der Gedanke, mich der Bewusstlosigkeit hinzugeben, war verlockend, aber schon kamen leise Schritte näher und hielten mich noch etwas länger wach.
Lanelle ging neben mir in die Knie, so nahe, ich hätte ihr Gesicht anfassen können, aber ich hatte nicht mehr genug Kraft.
»Wer bist du?«
Ich keuchte, unfähig, etwas zu sagen, selbst wenn ich gewollt hätte.
»Was machst du hier?« Sie sah sich nervös im Zimmer um und fummelte an der einzelnen goldenen Litze an ihrer Schulter herum. »Ich weiß nicht, warum du und Tali die Plätze getauscht habt, und es ist mir auch egal, solange ihr mich da raushaltet. Aber wenn du meine Position in der Gilde in Gefahr bringst, werde ich dem Erhabenen alles erzählen. Ich brauche diese Arbeit, wie mies sie auch sein mag.«
»Nicht. Bitte.« Selbst Flüstern tat weh, aber wenn ich sie dazu bringen konnte weiterzureden, wenn ich sie an meinem Lager festhalten konnte, vielleicht fände ich dann irgendwann genug Kraft, um alles auf ihr abzuladen. Oder sie vielleicht um Hilfe zu bitten. Nein, sie würde mir niemals helfen, nicht, wenn sie imstande war, die leidenden Lehrlinge einfach zu ignorieren.
»Seid ihr Diebe? Woher hast du all das Pynvium?«
»Händler.«
Sie wischte sich die Oberlippe ab, und ich konnte sie beinahe die Oppa zählen sehen. »Wie viel ist da drin.«
»Benutzt. Für Tali.«
Sie wippte auf den Fersen zurück und sah ehrlich verzweifelt aus. Gab es in ihrem Leben auch jemanden, der es brauchte? »Es war dumm, sie heilen zu wollen. Du kannst den Schmerzstrom nicht aufhalten, wenn er so stark ist. Was denkst du, wie die alle hierhergekommen sind?«
»Krankheit«, sagte ich, obwohl ich bezweifelte, dass mein Sarkasmus noch spürbar war.
Sie verzog das Gesicht. »Du weißt, dass das nicht wahr ist.«
»Ja.«
»Warum hast du das dann getan?«
»Meine Schwester.«
Ein Gefühl flackerte in ihren Zügen auf, verschwand aber wieder, ehe ich herausfinden konnte, welcher Art es war. Mitgefühl konnte es nicht sein, nicht nach allem, was sie getan hatte. »Noch dümmer. Du weißt, dass man sie wieder heranziehen wird, sobald das nächste Mal ein Aristokrat geheilt werden muss.«
Ich versuchte erneut, meinen Schmerz zu sammeln, aber er floss nur langsam zusammen. Wurde mein Blut schon dicker?
Lanelle seufzte und drehte einen Pynviumbrocken zwischen ihren Handflächen. »Vielleicht schafft sie es, hier rauszukommen. Am Anfang, als die ersten Gerüchte aufgekommen sind, sind ein paar weggelaufen, aber die Männer des Erhabenen haben sie wieder eingefangen. Und er hat ein Exempel an ihnen statuiert.« Sie schauerte, und ihre Hände spannten sich um das Pynvium. »Danach hatte niemand mehr ein Interesse daran, es auch nur zu versuchen. Wenn wir getan haben, was der Erhabene sagte ...«
Ich gab mir Mühe, mir nicht auszumalen, was der Erhabene mit denen angestellt hatte, die versucht hatten zu fliehen, doch in meinem Geist erwachten ständig Bilder aus Kriegstagen. Geveger, an Pfähle gefesselt, die Rücken blutig von Peitschenhieben. Körbe mit abgetrennten Händen. Leichen, auf Scheiterhaufen aufgeschichtet wie Müll. Dinge, von denen ich glaubte, ich hätte sie schon vor Jahren begraben, hätte sie hinter mir gelassen, als die Alpträume endlich aufgehört hatten.
»Vielleicht bist du die Nächste.«
»Nein. Der Erhabene braucht mich. Ich helfe ihm.« Ihre Stimme versagte ihr den Dienst.
»Nicht mehr viele da.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn vor. »Was weißt du schon? Du gehörst nicht einmal zur Gilde, oder?«
»Nein.«
»Dann halt die Klappe. Ich habe es hier gut. Der Älteste Vinnot sagt, ich könnte es weit bringen, aber wenn sie herausfinden, dass du mich reingelegt hast, dann ist alles umsonst. Dann werden sie mit mir machen, was sie mit...« Furchtsamen Blickes starrte sie ins Nichts, die Kiefer fest zusammengepresst.
Meine Finger krochen auf ihren Arm zu, nur Zentimeter vom Rand der Pritsche entfernt. Haut berührte Haut. Meine ganze Hand prickelte, und ein Gefühl der Schuld kitzelte mein Inneres. Wenn ich das tat, war ich dann noch besser als der Erhabene ?
»Leute verlassen sich auf mich«, flüsterte sie. »Und ich kann nichts anderes.«
Die Tür flog auf, und Lanelle zuckte zurück. Binnen Sekunden hatte sich der Erhabene auf sie gestürzt. Er packte ihre Arme und schüttelte sie wie ein Kind, das mit einer Stoffpuppe schimpfte.
»Das Mädchen, das vorhin hier war. Wie heißt es?«
»Ta... Tali, Herr.«
»Was hat sie hier gemacht?«
Lanelle sah sich nach mir um, dann senkte sie den Blick in Richtung des Beutels, den sie unter der Pritsche versteckt hatte. »Ich weiß nicht. Sie hat gesagt, sie wäre hier, um mich abzulösen.«
»Hast du das beim Ältesten Mancov nachgeprüft?«
Sie schüttelte den Kopf, sah mich wieder an. »Nein, Herr, ich ...«
»Dummes Gör.« Der Erhabene versetzte ihr einen Stoß, dass sie zu Boden fiel. Schmerz und Schrecken bemächtigten sich gleichermaßen ihrer Züge.
»Es ist nicht meine Schuld. Ich habe nicht damit gerechnet, dass irgendjemand ohne Erlaubnis hier heraufkommen könnte. Und es war ein Wachmann vor der Tür. An Kione ist sie auch vorbeigekommen.«
Der Erhabene zögerte, überlegte vermutlich, wie dumm er gewesen war, Kione und Tali gemeinsam wegzuschicken. Sollte Kione vor der Frage gestanden haben, ob er Tali helfen oder sie verraten soll, so war er hoffentlich stark geblieben und hatte die richtige Entscheidung getroffen. »Hast du die beiden vorher schon einmal zusammen gesehen?«
»Nein, Herr.«
»Hast du sie je mit irgendjemandem reden sehen, der nicht der Gilde angehört?«
»Nein, Herr.«
Erleichterung glättete seine Stirn, doch dann legte sie sich erneut in Falten, als hätte sie ihn nicht im Mindesten besänftigt. Er schnaubte verächtlich. »Du bist seit Tagen hier, was kannst du schon wissen«, murmelte er und wandte sich ab. »Nutzlose 'Veg.«
Lanelle warf mir einen Blick voller Panik zu und hastete hinter ihm her.
»Herr, ich glaube, sie hat mit diesem Mädchen dort den Platz getauscht!«, platzte sie heraus. »Ich wollte es gerade melden. Ich, äh, ich ... wollte mich erst vergewissern, ehe ich Euch belästige. Ich weiß ja, wie viel Ihr zu tun habt.«
Er wandte sich schneller um, als ein Krokodil ein Huhn verschlingt. »Mit welchem Mädchen?«
Sie zeigte mit zitterndem Finger auf mich.
Der Erhabene schoss an meine Pritsche und schüttelte mich. Ich schrie, aber er hörte nicht auf. »Wer bist du? Was tust du hier?«
»Sie hat gesagt, sie wäre Talis Schwester«, berichtete Lanelle weiter und hörte sich genauso verzweifelt an wie der Erhabene. »Sie sehen sich furchtbar ähnlich. Nur deshalb konnten sie mich am Anfang täuschen, aber ich habe es trotzdem schnell herausgefunden. Ich glaube, sie hat Tali geheilt, damit sie fli... das Gildenhaus verlassen kann. Bestimmt könnt ihr sie am Tor noch erwischen!«
Seine blauen Augen wurden vor Angst glasig. »Ein Lehrling ist geflohen?« Er starrte Lanelle an.
»Wartet...« Ich stürzte mich auf ihn, griff nach seinem Arm. Wachen oder nicht, ich musste ihm einen Anlass geben, andere Probleme wichtiger zu nehmen als Tali. Der Herzog und seine herzlosen Männer würden nicht auch noch den letzten Rest meiner Familie umbringen, nicht, wenn ich es verhindern konnte.
Der Erhabene versetzte mir mit dem Handrücken einen heftigen Schlag ins Gesicht, ehe ich ihn berühren konnte. Schmerz flammte in meinem Kopf auf, und ich fiel von Abscheu erfüllt zurück. Abscheu vor den Schmerzen, vor meinem Versagen, vor der Furcht - ich konnte es nicht mehr unterscheiden.
Er stampfte davon, aber sein Argwohn war unverkennbar. Das war mehr als nur die Sorge wegen der Panik, die ausbrechen würde, sollte in Geveg bekannt werden, dass es kein Pynvium mehr gab. Ich hätte den Lohn des nächsten Jahres darauf verwettet, dass außerhalb der Gilde niemand wusste, was der Erhabene hier tat. Ich hätte noch mehr darauf verwettet, dass nicht einmal der Generalgouverneur informiert war.
Er hielt an der Tür inne, aber »Findet dieses Lehrlingsmädchen sofort, bevor sie ...« war alles, was ich noch zu hören bekam, ehe die Tür krachend ins Schloss fiel.
Nein! Bilder von Tali, wie sie zum Heilen gezwungen wurde, überschwemmten meinen Geist. Ich musste hier raus. Ich musste Tali finden und sie warnen.
Lanelle trat näher, die Hände zu Fäusten geballt. Sie sah so verschreckt aus wie ein gefangener Vogel. »Wenn ich deswegen für eine vorrangige Heilung ausgewählt werde, dann werde ich ...«
Meine Finger schossen zu ihrem Arm, und ich drückte jeden Schmerz, jeden Stich, jede Pein, die Tali hatte erdulden müssen, in sie hinein. Schuld flackerte an den Rändern des Schmerzes, doch ich verdrängte das Gefühl. Ich würde mich nicht schuldig fühlen, weil ich einer Verräterin wehtat.
»Aahhhh!« Schmerz verzerrte Lanelles Züge, und sie brach zusammen. Ich umklammerte ihren Arm noch fester, drückte noch heftiger.
Und dann strömte der Schmerz langsamer, als versuchte sie, ihn aufzuhalten und zurückzuleiten.
Sie riss den Arm weg und zerrte mich von der Pritsche. Keuchend landeten wir beide auf dem Boden.
Sie leistete Widerstand? Wie? Konnten Löser Schmerz verweigern, oder war Lanelle anders, so wie ich? Anders. Ein Frösteln kühlte meine brennenden Muskeln. Welche Symptome standen auf Lanelles Liste. Symptome derer, die anders waren?
»Was hast du mit mir gemacht?« Blass und mit tränenden Augen rutschte sie auf dem Hintern davon. »Bleib mir vom Leib!«
Sie hatte die Hälfte des Schmerzes aufgenommen, und schon jetzt kehrte meine Kraft zurück. Andererseits ihre auch. Heiler kannten Schmerz, und der Schock würde ihr die Orientierung nicht lange rauben können. Sie griff nach dem Rand der Pritsche, neben der sie niedergesunken war, und mühte sich auf die Beine, keuchend, immer noch unfähig, mehr als ein heiseres Krächzen hervorzubringen, aber das würde nicht lange vorhalten.
»Hil...« Lanelles Schrei brach ab, als ein rothaariger Junge von der nächsten Pritsche rollte und sich auf sie stürzte. Breitbeinig hockte er über ihr und hielt sie am Boden fest, eine Hand auf ihren Mund gepresst.
»Schnell, bring es zu Ende«, schrie er mich an, während ich ihn mit offen stehendem Mund anstierte. »Los!«
»Was zu Ende bringen?«
»Was du gerade mit ihr gemacht hast. Das ist unsere einzige Chance, hier rauszukommen.«
Lanelle strampelte unter ihm, wimmerte und brüllte in seine Hand. Ob der Wachmann vor der Tür sie hören konnte ?
»Schnell, ich kann sie nicht mehr lange halten.« Schweißperlen zeichneten sich auf seiner Stirn ab, und seine braunen Augen glänzten vor Schmerz.
Ich konnte jetzt nicht aufhören, oder Tali hatte nicht die kleinste Chance. Lanelle würde dem Erhabenen erzählen, dass ich Schmerz geschiftet hatte. Noch vor Sonnenuntergang wäre ich gefesselt und geknebelt auf dem Weg nach Baseer. Der Herzog war immer noch auf der Suche nach anormalen Lösern, und vielleicht hatte er gerade eine neue Möglichkeit entdeckt, sie zu finden.
Ich kroch zu Lanelle und dem Jungen.
Plötzlich wurde die Tür geöffnet, und ein Wachmann kam herein. Ärger spiegelte sich auf seinem desinteressierten Gesicht. »Was ist hier los ?«
Ich keuchte auf und zuckte zurück, als Lanelle mit neuer Kraft um sich trat und brüllte. Mein Knie traf auf etwas Hartes, Unebenmäßiges.
»Runter von ihr! Was tust du da?« Der Wachmann rannte auf Lanelle zu. Er hatte schwarzes, glänzendes Haar, so dunkel wie seine Baseeriseele.
Er riss den Jungen von Lanelle und stieß ihn zur Seite. Ich schnappte mir das Pynvium und wünschte, ich könnte meine Enttäuschung in ihm verstauen wie Tali ihren Schmerz.
»Lass ihn in Ruhe!« Als wäre ich ein kleines Kind, warf ich mit einer Hand voll Pynviumklumpen nach dem Wachmann. Warf mit all meinem Zorn und dem Hass auf das, was der Erhabene und der Herzog meiner Familie angetan hatten, meinem Zuhause, meinem Leben.
Wumm! Ein tieftönendes Geräusch, mehr fühl- als hörbar. Schmerz blitzte auf, schlug sich wie Hitzeflimmern in der Luft nieder, als das Pynvium den Brustkorb des Wachmanns traf.
Wumm! Noch ein Treffer, dieses Mal an der Hüfte.
Der Klumpen flammte auf, wie die Perlen an Aylins Armreif es getan hatten, als Sersin mein Handgelenk umklammert hatte. Wie die Pynviumgegenstände in den Regalen der Schmerzhändler. Schmerz sprenkelte mich wie verwehter Sand, während der Wachmann schreiend zu Boden ging. Lanelle hatte sich wimmernd zu einem kleinen Ball zusammengerollt und die Arme schützend über den Kopf gelegt.
Ich gaffte den stöhnenden Wachmann an. Wie hatte ich Pynvium zur Entladung bringen können? Nur Techniker konnten das Metall dazu bringen, so wie Papa es während des Krieges getan hatte. Ich hatte seine Augen geerbt - hatte ich noch mehr von ihm?
Was genau war ich?
Der Wachmann kauerte inzwischen auf den Knien, krabbelte davon, während ich ihn nur anstarrte, immer noch schockiert wie ein Fisch an der Angel.
»Wie hast du das gemacht?«, keuchte er und griff nach seinem Rapier.
Ich durfte nicht zulassen, dass er den Erhabenen informierte, während ich hilflos war. Ich sammelte zusammen, was mir an Schmerz geblieben war, und krauchte hinter ihm her, zwang meine Beine, mich voranzuschieben, und ignorierte die zerreißenden Schmerzen, die durch sie hindurchjagten.
Der rothaarige Lehrling war auf den Beinen und stolperte auf Lanelle und den Wachmann zu. »Halte sie auf!«
Ich packte das Schienbein des Wachmanns. Er trat nach mir, legte aber nicht viel Kraft in seinen Tritt. Ich dagegen drückte alles in ihn hinein. Sogar die Schuldgefühle, die daraus entstanden. Er schrie.
Mein Schmerz ließ nach. Ich schnappte gierig nach Luft und versuchte, mich zu konzentrieren. Der Wachmann war bewusstlos. Lanelle würde nirgends mehr hingehen. Sie hatte die Hälfte meines Schmerzes und vermutlich auch noch einen Teil dessen, was in dem Pynvium gesteckt hatte.
Erbarmen, ihr Heiligen, was hatte ich getan?
»Hast du gerade Pynvium entladen?«, fragte der Lehrling und sackte neben mir zu Boden. Dem Aussehen nach war er etwa achtzehn und hatte eine von winzigen Sommersprossen übersäte kurze Nase.
»Ich weiß es nicht.« Ich hatte noch nie gehört, dass irgendjemand Schmerz auf diese Art entladen konnte, ohne dass ein magischer Auslöser vorhanden war, mit dem der Schmerz freigesetzt und die Richtung, die er nahm, bestimmt werden konnte.
»Ich heiße Soek«, sagte er. Er sprach den Namen mit dem melodischen Akzent Verlattas aus.
»Nya.«
»Du bist die Schifterin, von der alle reden, nicht wahr?«
»Äh ...«
»Komm schon, wir müssen hier raus.«
»Ich weiß.« In meinem Kopf wirbelten immer noch viel zu viele Fragen umher. »Hast du dich auch hier hereingeschlichen, um jemanden zu retten?«
»Nein, ich bin Lehrling.«
Mein Mund blieb eine schockierte Sekunde lang offen stehen. »Warum liegst du dann nicht krank auf einer dieser Pritschen.«
»Ich erhole mich schnell.«
»Du erholst dich von dem Schmerz anderer Leute?«
»Schätze schon.« Er lächelte, aber ich sah die Furcht in seinen Zügen. Und ich hätte mich an seiner Stelle auch gefürchtet. Er war besser als Pynvium auf Beinen. Er war erneuerbares Pynvium auf Beinen.
»Du bist auch anders«, sagte ich.
»Ja, aber unser Anderssein ist vor allem im Kampf hilfreich.«
Von dem wir noch mehr erleben würden, wenn wir nicht von hier verschwanden. »Gehen wir.«
Ich schnappte mir die Klumpen, mit denen ich geworfen hatte, und legte sie zurück in meinen Beutel. Wer wusste schon, wie viele Wachleute zwischen uns und der Freiheit standen? Eine einzelne Entladung würde reichen, um sie abzulenken, vielleicht sogar mehr als nur das, wenn der Schmerz nur stark genug war.
Falls ich das noch einmal zustande brachte.
Ich hielt an der Tür inne, obwohl auf dem Korridor niemand sein dürfte, anderenfalls hätte längst ein anderer Wachmann sein Rapier auf meine Kehle gerichtet. Soek humpelte hinter mir her, ohne ein Wort über seine Schmerzen zu verlieren.
»Wie viel trägst du?«, fragte ich sanft.
Er grinste. »Solange wir nicht rennen müssen, komme ich klar.«
»Ich fürchte, ums Rennen kommen wir keinesfalls herum.«
»Denkst du, du könntest...« Er deutete mit einem Nicken auf den bewusstlosen Wachmann.
Eine Eiseskälte überzog meine Haut. »Nein!«
»Aber du hast ihm deinen Schmerz gegeben, warum nicht auch meinen?«
Weil es falsch war, auch wenn das der einzige Weg nach draußen sein sollte. Aber wie konnte ich ihm das sagen, solange er humpelte und es mir gut ging? Ich sah mich zu Lanelle und dem Wachmann um. Verdient hatten es beide, aber ihnen jetzt wehzutun, ohne dass wir dazu gezwungen waren, fühlte sich noch schlimmer an. So, als würde ich ihnen ein Messer in den Rücken rammen.
»Gib mir deine Hand.« Ich ergriff sie und tastete mich in ihn hinein. Er trug Schmerz, aber er war matt. Ich hatte noch nie zuvor halb verheilten Schmerz gesehen. Ich zog, nahm die Hälfte von ihm fort. Schmerzen sickerten in meinen Körper und fühlten sich ganz ähnlich an wie die Muskelschmerzen, mit denen ich bei Danello erwacht war.
Die Anspannung in seinen Augen löste sich. »Danke«, sagte er. »Aber es wäre besser für uns gewesen, hätten wir ihn den beiden gegeben.«
»Einfacher vielleicht, aber nicht besser. Komm jetzt.«
Wir schlüpften zur Tür hinaus und liefen die Treppe hinunter. Mein Herz schlug so schnell, wie meine Füße rannten. Schon nach wenigen Stufen erstarrte ich mitten in der Bewegung. Wir würden es nicht die Treppe hinunter schaffen, ganz zu schweigen davon, die Halle zu durchqueren. Mindestens ein Ältester, der mich erkennen würde, arbeitete im Behandlungstrakt. Wenn wir es mit Saeas Segen bis zum großen Vorraum schafften, würden Dutzende von Gildewachen und Ältesten und wer weiß wem noch nur darauf warten, uns wie Hühner zu pflücken.
Es musste einen anderen Weg nach draußen geben.
»Welches ist der schnellste Weg nach unten, der nicht durch die Hauptkorridore führt?«, fragte ich Soek im Flüsterton.
»Ich weiß es nicht. Ich habe erst ein paar Tage hier gearbeitet, als sie mich ... dorthin gebracht haben.«
Ich wühlte in meinen Erinnerungen aus der Zeit, als Tali und ich noch Mama hinterhergelaufen waren. Was war mit den Räumen weiter oben? Führte nicht einer der Korridore zu einer anderen Treppe. Stimmen drangen von unten zu uns herauf.
»... sie zur weiteren Befragung zum Erhabenen.«
»Ja, Herr.«
Dann Schritte, viele Schritte, die von den Marmorstufen widerhallten und auf uns zukamen. Wir hasteten zurück nach oben. Meine Sandalen machten glücklicherweise weniger Geräusche als die Stiefel der Wachleute, aber mein Herzschlag war vermutlich lauter als beide zusammen. Soeks nackte Füße machten keinen Laut. Wir liefen an der offenen Tür zum Lehrlingskrankensaal vorbei, und ich wagte einen Blick hinein. Der Wachmann lag immer noch zusammengekrümmt am Boden, aber Lanelle regte sich; schwerfällig und benommen. Sie hob den Kopf, und unsere Blicke trafen sich.
Nicht gut.
»Weiter.« Direkt gefolgt von Soek, rannte ich die Stufen hinauf, als Lanelle zu brüllen anfing. Heiser, aber die Wachen würden sie bald genug hören. Treppen, es musste irgendwo da oben noch weitere Treppen geben. Ich war fast sicher, dass es im Erdgeschoss noch eine zweite Treppe am anderen Ende des Hauptkorridors gab. Sie musste hierherauf führen. Oh, bitte, lass sie hierherauf führen.
Rufe wurden hinter uns laut, als wir einen Treppenabsatz erreichten. Wie viele Wachen waren hinter uns her? Vielleicht hatten sie sogar Soldaten von außerhalb hinzugezogen. Ich rannte den nächsten Gang hinunter, und der schwere Sack klimperte in meinen Armen. Der Korridor hatte eine leichte Steigung, doch die reichte schon, dass meine Oberschenkel schmerzten und ich langsamer wurde. Soek erging es nicht viel besser. Hohe Fenster säumten die Außenwand, und Geveg breitete sich vor meinen Augen aus, eine kleine Insel in einem großen See. Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass ich beides in diesem Moment möglicherweise zum letzten Mal zu sehen bekam.
Noch eine Biegung. Mehr Fenster, dann ...
Nein!
Meine Füße, mein Herz, mein Atem, alles stockte auf einmal. Der Gang endete in einem kreisrunden Raum mit Fenstern in allen Richtungen. Wie befanden uns in einem der hohen Spitztürme. Schlitternd kam ich in der Mitte des Raumes zum Stehen.
Eine Sackgasse. Wir waren am Ende.